
Germain Kröger (16) hat zum 1.8. seine Ausbildung zum Bäcker bei Kanne begonnen. © Kristina Gerstenmaier
„Lieber was Praktisches als Schule“: Lüner Auszubildende erzählen
Ausbildungsjahr 2022
Auch in Lünen sind noch viele Ausbildungsstellen offen. Der Trend des fehlenden Nachwuchses setzt sich weiter fort. Wir haben mit jungen Menschen gesprochen, die es trotzdem gewagt haben.
Morgens um kurz nach 9 Uhr ist Germain Kröger schon einige Stunden auf den Beinen. Seit 5 Uhr steht er bei Kanne in der Backstube. Heute ist er mit Brötchen beschäftigt. „Ich mag dieses frühe Aufstehen“, sagt er. „Ich mag es, so früh zu arbeiten und danach dann noch so viel vom Tag zu haben.“
Der 16-Jährige ist einer von zwei neuen Bäcker-Auszubildenden, die zum 1. August bei der Bäckerei Wilhelm Kanne aus Lünen angefangen haben. Zuvor hatte Germain eine Gesamtschule in Bergkamen besucht. Nach der neunten Klasse hatte er genug von Schule; sein Onkel, der selbst bei Kanne arbeitet, hat ihn auf die Möglichkeit der Ausbildung aufmerksam gemacht.
„Ich wollte gerne schon früh im Leben stehen und ein eigenes Einkommen haben“, erzählt der Auszubildende. „Und ich arbeite lieber mit den Händen, mache lieber etwas Praktisches, als Schule.“ Weil er noch bei seinen Eltern wohnt, reicht ihm auch das Geld reicht: 680 Euro brutto im ersten Lehrjahr, 755 Euro im zweiten, 885 Euro im dritten.
Großer Fachkräftemangel
Allein bei Kanne sind aktuell noch sechs Stellen für Auszubildende in der Backstube unbesetzt. Noch schlimmer ist es bei den Bäckereifachverkäufern. Hier konnten in diesem Jahr bis zum jetzigen Zeitpunkt ganze zehn Stellen nicht besetzt werden. Dabei ist doch gerade der Beruf des Bäckers „grundsätzlich ein wunderschöner Beruf“, schwärmt Wilhelm Kanne Junior.: .„Wir merken, dass die Jugendlichen immer orientierungsloser werden“, sagt er.
Dazu habe wahrscheinlich auch Corona beigetragen: Anderthalb Jahre zu Hause, wenig sozialer Austausch. „Wir möchten aber jedem eine Chance geben“, ergänzt Simone Quante, Assistentin der Geschäftsführung. „Auch jemand, der keine nennenswerten schulischen Erfolge aufweisen kann, ist vielleicht gut mit den Händen.“
Kaufleute, Kraftfahrer und Zahnmedizinische Fachangestellte gesucht
Mit Stand von Ende Juli gab es in der Geschäftsstelle der Arbeitsagentur in Lünen (hier werden Lünen und Selm zusammengefasst) noch 166 offene Ausbildungsstellen. „Dazu ist es jedoch wichtig zu sagen, dass der Einstieg in viele Ausbildungen erst am 1. September stattfindet und auch weit darüber hinaus (bis etwa Ende des Jahres) noch möglich ist“, sagt Arbeitsagentur-Sprecherin Cordula Cebulla. „Die genannte Zahl wird vermutlich bis Ende August schon deutlich reduziert sein.“
Besonders viele offene Stellen gebe es derzeit noch für Verkäufer, Kaufleute im Einzelhandel, Fachkräfte für Lagerlogistik, Handelsfachwirte, Zahnmedizinische Fachangestellte, Kaufleute für Büromanagement und Berufskraftfahrer.
Laut IHK-Ausbildungsberater Dirk Vohwinkel habe es noch nie so einen großen Markt für Bewerber gegeben, wie jetzt. In Lünen hat es was die Besetzung der Ausbildungsplätze betrifft eine leichte Erhöhung von einem Prozent gegeben. „Und wir gehen davon aus, dass das so fortschreitet“, sagt Vohwinkel.
Elf Prozent plus
Die Handwerkskammer berichtet von 81 offenen Stellen in Lünen, die auf die Handwerksberufe abfallen. Besonders gut nachgefragt seien Ausbildungen als Augenoptiker und Maler und Lackierer im Bereich Instandhaltung. „In Lünen verzeichnen wir gegenüber dem Vor-Corona-Jahreszeitpunkt (31.7.2019) ein Plus von elf Prozent“, berichtet Sonja Raasch, Sprecherin der Handwerkskammer Dortmund. „Zum jetzigen Zeitpunkt können wir allerdings zu den Neuabschlüssen keine Prognose abgeben, da wir uns momentan in der Hochphase, bezogen auf die Erfassung von Ausbildungsverträgen, befinden“, fügt sie hinzu.

Lena Wettemann ist Auszubildende im zweiten Lehrjahr. © q
Ein paar Meter neben Germain Krögers Arbeitsplatz in der Backstube sitzt Lena Wettemann im Büro. Auch sie ist Auszubildende und bereits im zweiten Lehrjahr. Nach ihrem Abitur 2019 hatte sie zunächst ein Studium angefangen, aber schnell gemerkt, dass das nicht für sie war. „Der geregelte Tagesablauf hat mir gefehlt und das war alles so schwammig“, erinnert sich die heute 21-Jährige.
2020 begann sie dann eine Ausbildung bei Kanne als Kauffrau für Büromanagement. „Ich bin zu 100 Prozent froh“, strahlt die Lünerin. „Ich mache das gern. Hier kann ich das Gelernte direkt in der Praxis anwenden. Und man verdient schon Geld.“
Großer Kraftfahrer-Mangel
Bei Remondis, Lünens größtem Unternehmen, ist es so, „dass die diversen Untergesellschaften hier am Standort zu etwa 95 Prozent ihre angebotenen Stellen besetzen konnten“, berichtet Unternehmenssprecher Michael Schneider. Dennoch sind es 22 Stellen, die bis heute noch unbesetzt sind, darunter Kaufleute und Berufskraftfahrer.

Norbert Rethmann, Ehrenaufsichtsratsvorsitzender der Rethmann-Unternehmensgruppe, zu der Remondis gehört, bei der offiziellen Begrüßung des neuen Ausbildungsjahrgangs 2022 im Lippewerk in Lünen. © Michael Schneider
Christopher Hill kommt mit seinem Berufswunsch einem der aktuellen größten Bedarfe nach: Er lässt sich im nun zweiten Lehrjahr bei Remondis zum Berufskraftfahrer ausbilden. Es ist seine zweite Ausbildung. Einige Zeit nach seinem Hauptschulabschluss absolvierte ließ er sich zur Fachkraft für Möbel-Küchen-Umzugsservice ausbilden. Nach zehn Jahren in dem Beruf beginnt er nun aber noch einmal etwas ganz Neues: „Ich war jeden Tag von 6 bis 21 Uhr unterwegs“, erzählt der 30-Jährige. „Als ich dann geheiratet und ein Kind bekommen habe, passte das einfach nicht mehr.“
„Das finde ich echt geilt“
Als Kind schon hatte er davon geträumt, die großen LKW zu fahren, als Erwachsener fuhr er immer gerne Auto und als Umzugs-Fachkraft zuletzt auch 3,5-Tonner. „Mit dem Berufskraftfahrer habe ich mir einen Traum erfüllt“, sagt Hill. „Und man tut etwas. Zum Beispiel fahre ich Müll zur Verwertungsanlage, damit neue Sachen daraus entstehen können. Das ist mein Beitrag und das finde ich echt geil.“
Und wenn man sich überlege, fügt er hinzu, dass so viele Fahrer gesucht werden, dann sei das auch ein wirklich krisensicherer, zukunftsorientierter Beruf. Dazu kommt, dass seine Arbeitszeiten absolut familien-kompatibel sind: Als regionaler Fahrer hat er Arbeitszeiten von 4 bis 13 Uhr.
In und um Stuttgart aufgewachsen, in Mittelhessen Studienjahre verbracht und schließlich im Ruhrgebiet gestrandet treibt Kristina Gerstenmaier vor allem eine ausgeprägte Neugier. Im Lokalen wird die am besten befriedigt, findet sie.
