
© Kristina Gerstenmaier
Ein ganz besonderes Weihnachten in Lünen: Leandro lebt
Frühchen
Ob Jaquelin Raffael und Tobias Lücker Weihnachten mit ihrem Sohn feiern werden, war lange nicht klar. Nur 50 Prozent Überlebenswahrscheinlichkeit wurden dem kleinen Leandro diagnostiziert.
Nächstes Jahr ticken die Uhren dann anders, hatten Jaquelin Raffael und ihr Verlobter Tobias Lücker vergangenes Jahr unter dem Weihnachtsbaum noch gewitzelt. Dann ist Leben in der Bude, hatten sie sich gefreut. Damals war Jaquelin Raffel in der 21. Woche schwanger. Als Geburtstermin war der 25. April 2021 errechnet worden. Wenige Tage zuvor war die gelernte Kauffrau noch bei einer Vorsorgeuntersuchung gewesen: Alles in bester Ordnung.
Frage nach dem Warum
Doch dann passierte etwas, das die Weihnachts-Träume des jungen Paars erst einmal für lange Zeit in weite Ferne rückte: In der Silvesternacht wurde der kleine Leandro in der 22. Schwangerschaftswoche, also viel zu früh, geboren.
„Wir saßen mit den Schwiegereltern gemütlich beim Raclette, als ich plötzlich Bauchschmerzen bekam“, erinnert sich die 27-Jährige. „Die fühlten sich so komisch an, dass wir mal lieber ins Krankenhaus fuhren.“ Dort war schnell klar: Das sind Wehen. Alle Bemühungen, das unfertige Baby im Mutterleib zu behalten, waren erfolglos - Leandro wurde per Notkaiserschnitt und unter Vollnarkose der Mutter auf die Welt geholt. „Und keiner wusste warum er ausziehen musste“, erzählt die Lünerin. Die Antwort darauf, auf das Warum, hat ihr bis heute keiner geben können. Das ist das, was sie am meisten quält. Mehr noch, als die Geburt nicht bewusst miterlebt zu haben, ihren Partner pandemiebedingt nicht an ihrer Seite haben zu können. Mehr noch als der Schock darüber, dass die Schwangerschaft nach der Hälfte der Zeit plötzlich zu Ende war. Und auch mehr, als die ersten Tage nach der Geburt alleine verbringen zu müssen, denn Besuch durfte sie nicht empfangen.
575 Gramm
Schlimm war jedoch auch die Ungewissheit, ob Leandro überhaupt überleben würde. 575 Gramm wogt er, 30 Zentimeter klein war er bei seiner Geburt. „Sie haben uns direkt gesagt, dass er nur eine Überlebenswahrscheinlichkeit von 50 Prozent haben wird“, erinnert sich Jaquelin Raffael. „In so einer Situation kommt man sich vor wie in einem Film, alles ist einfach unreal.“ „Ich habe mich heftig hilflos gefühlt“, ergänzt Tobias Lücker.

Viele Monate nach seiner Geburt verbrachte der kleine Leandro im Inkubator. © Repro: Gerstenmaier
„Ihn nicht auf den Arm nehmen und begrüßen zu können, war sehr hart.“ Aber sie hatten auch Berührungsängste, geben die beiden zu. Alles war voller Schläuche, sie hätten sich gar nicht richtig getraut, ihr Kind anzufassen. „Er war noch gar nicht fertig. So wollte man ihn ja eigentlich gar nicht sehen“, versetzt sich die junge Mutter in die Anfangszeit zurück. Sauerstoffzufuhr, Messgeräte für die Sauerstoffsättigung und die Herzfrequenz; ein ständiges Piepen und Blinken. An seinem dritten Lebenstag bekam Leandro dann eine Hirnblutung. „Da waren wir richtig fertig“, sagt Jaquelin Raffael. In der Folgezeit musste er mehrfach reanimiert werden, weil die Atmung aussetzte. Anstrengend waren auch die täglichen Fahrten ins Krankenhaus nach Hamm, um ihr Kind zu besuchen. Das ging außerdem, ebenfalls wegen Corona, immer nur abwechselnd.
Ständig unter Strom
Doch dann, ein halbes Jahr nach seiner Geburt, durfte Leondro nach Hause. Quasi zum Abschied war er noch einmal reanimiert worden. „Da wird einem schon ganz anders“, sagt die junge Mutter. Die Messgeräte kamen mit. „Diese Zeit war dann der absolute Horror“, erzählt Jaquelin Raffael. Weil das Gerät rund um die Uhr „etwas zu meckern“ hatte. Oft waren es Fehlalarme. „Ich stand ständig unter Strom und habe eigentlich nicht geschlafen“, denkt sie zurück. Tobias Lücker war als Produktionsmitarbeiter viel bei der Arbeit. Und auch in dieser Zeit war noch nicht klar, ob Leandro das Weihnachtsfest erleben würde.
Leandro ist stabil
Doch jetzt, knapp ein Jahr nach seiner Geburt, ist der kleine Leandro endlich stabil und seine Eltern sind überglücklich. Verliebt betrachten sie ihn, knuddeln ihn, sprechen zärtlich mit ihm. „Er hat so viel Power, ist immer freundlich. Er ist so fit und entdeckungsfreudig. Den Gedanken, dass er das nicht schaffen könnte, habe ich einfach nicht zugelassen“, sagt Jaquelin Raffael nachdrücklich. Heute wiegt Leandro 5,5 Kilogramm. Welche Schäden die frühe Hirnblutung hinterlassen haben könnte, ist noch nicht ganz klar, wahrscheinlich sind es leichte Einschränkungen in der Motorik - mehr nicht. Das ist keine Selbstverständlichkeit, es hätten auch andere Hirnregionen betroffen sein können.
„Dass Leandro jetzt Weihnachten mit uns feiern kann, mit uns gemeinsam und der ganzen Familie, ist richtig was Besonderes“, sagt Vater Tobias Lücker strahlend, es hätte ja auch ganz anders kommen können. Aber Frühchen sind eben Kämpfer.“
In und um Stuttgart aufgewachsen, in Mittelhessen Studienjahre verbracht und schließlich im Ruhrgebiet gestrandet treibt Kristina Gerstenmaier vor allem eine ausgeprägte Neugier. Im Lokalen wird die am besten befriedigt, findet sie.
