Betriebsratsvorsitzender Ralf Melis in der Ausbildungswerkstatt, wo seine Laufbahn bei der Steag 1978 begann. © Günther Goldstein
Steag-Stilllegung
Betriebsratschef: Viele Kollegen verlieren hier im Kraftwerk ihre zweite Familie
Zum Jahresende stellt das Lüner Steag-Kraftwerk die Stromproduktion ein. Für viele Mitarbeiter wird es ein emotionaler Abschied. Zumal noch nicht alle wissen, wie es beruflich weiter geht.
„Ich bin so ein Dino“, sagt Ralf Melis und schaut sich um in der Ausbildungswerkstatt des Steag-Kraftwerks. Dort hat Melis 1978 seine Lehre begonnen. Damals hieß das noch nicht Ausbildung. Heute spricht er als Betriebsratsvorsitzender für die Belegschaft. Es geht ihm spürbar nahe, davon zu erzählen, dass der letzte Arbeitstag in dem Industriekomplex an der Moltkestraße für die Kollegen jetzt unaufhaltsam näher rückt. Und was das wohl bedeutet. „Viele Kollegen verlieren hier im Kraftwerk ihre zweite Familie“, erklärt Melis, „es ist eine besondere Kultur hier, jeder kennt jeden, die meisten kommen aus Lünen.“ Melis auch. Der 57-Jährige wohnt im Geistviertel.
Das Steinkohlekraftwerk mit seinen zwei Blöcken und gut 500 Megawatt Leistung ist nicht irgendein Kraftwerk. Es ist die Keimzelle der am 20. September 1937 in Lünen gegründeten Steinkohlen-Elektrizität AG (STEAG). Ein Jahr später, 1938, produzierte das Kraftwerk den ersten Strom. Ende 2018 produziert es den letzten. Ob schon kurz vor Weihnachten oder erst Silvester, steht nicht fest. Das hängt davon ab, ob der Markt die Kraftwerksleistung anfordert.
Am 2. März 2018 hatte die Steag das Kraftwerk bei der Bundesnetzagentur zur Stilllegung angemeldet. Man sehe „keine wirtschaftliche Perspektive mehr“, teilte das Unternehmen damals mit. Stilllegungstermin sollte der 2. März 2019 sein. Am 31. August 2018 erklärte Steag in einer weiteren Pressemitteilung, die Kraftwerksschließung werde auf den 31. Dezember 2018 vorgezogen. Übertragungsnetzbetreiber Amprion und Bundesnetzagentur hätten entschieden, dass die beiden Blöcke in Lünen nicht systemrelevant seien.
Rahmen-Sozialplan schon 2016
Weil die Betreiber von Kohlekraftwerken seit Jahren unter wirtschaftlichem Druck stehen, hatte der Betriebsrat schon 2016 einen Sozialplan und Interessenausgleich auf Konzernebene mit der Geschäftsführung vereinbart. In dem Wissen, dass das Aus für Lünen und weitere Standorte kommen würde. „Da stecken die Grundthemen drin. Für jeden betroffenen Standort ist aber auch ein Einzelinteressenausgleich auszuhandeln“, erläutert Ralf Melis. Er vertritt nicht nur die Arbeitnehmer am Standort Lünen, sondern ist auch der Gesamt- und Konzernbetriebsratsvorsitzende bei der Steag.
Vorgezogener Termin erhöhte den Zeitdruck
Dass der Stilllegungstermin um zwei Monate vorgezogen wurde, verbunden mit dem Wegfall von 101 Stellen, habe den Zeitdruck erhöht, so Melis. Noch dazu sei der Interessenausgleich vor Ort ein komplexes Konstrukt. Denn weil die Steag 2013 die Betriebsführung für das benachbarte Trianel-Kraftwerk übernommen hat, werde eigentlich nur ein Standort, nämlich der Altstandort geschlossen. Denn arbeitsrechtlich gehörten beide Standorte und ihre Beschäftigten zusammen. Melis spricht von über 250 Betroffenen der Sozialplan-Regelungen: Circa 100 im Steag-Kraftwerk, 70 im Trianel-Kraftwerk, 40 im Technischen Service (die auch für andere Kraftwerke und Kunden arbeiten) und 40 Auszubildende.
Alle nutzten das Vorruhestands-Angebot
Vorruhestandsangebote habe man gemacht und ein mehrstufiges Ausschreibungsverfahren für andere Stellen in Gang gesetzt. Alle 48 Beschäftigten, denen Vorruhestand angeboten wurde, hätten unterschrieben. „Wir sind beim Vorruhestand auf 56 Jahre runtergegangen, das ist ne Nummer. Dafür gibt Steag Millionen aus“, erklärt Kraftwerksleiter Kai Uwe Braekler (51). Ziel sei, ohne betriebsbedingte Kündigungen auszukommen.
Eine Reihe von Mitarbeitern aber wird mit ihren Familien Weihnachten feiern, ohne letzte Gewissheit zu haben. Betriebsratschef Melis geht davon aus, dass erst etwa Mitte Januar 2019 die Ergebnisse des Ausschreibungsverfahrens komplett vorliegen. „Unsere Kollegen sind hochdiszipliniert. Sie haben volles Vertrauen zu sagen: Steag wird mich schon nicht hängen lassen“, betont Melis.
Enttäuschung und Verbitterung
Bei allem Vertrauen in den Arbeitgeber gebe es aber auch Enttäuschung und Verbitterung. Zum Beispiel über die Tonlage in den Diskussionen über die Energiewende, berichtet Melis: „Ich fahre jedes Jahr ins Kraftwerk und wünsche meinen Kollegen frohe Weihnachten. Wer bringt denn den Haushalten Heiligabend den Strom? Das sind meine Kollegen, die einen verdammt guten Job machen. Aber wir werden verteufelt, dass wir die Menschen vergiften.“
Kai Uwe Braekler, der das Lüner Kraftwerk seit 2015 leitet, weiß um die Betroffenheit innerhalb seiner Belegschaft, spricht von „harten emotionalen Themen“. Auch die Stadt Lünen werde die Folgen zu spüren bekommen: „Sie verliert über 100 hochqualifizierte Arbeits- und Ausbildungsplätze.“
Ob dieser Verlust auf längere Sicht ausgeglichen werden kann, hängt davon ab, wann und wie es zu einer Folgenutzung des fast 43 Hektar großen Kraftwerksgeländes beiderseits der Moltkestraße kommt. Das Gelände gehöre zwar der Steag, aber die planungsrechtliche Hoheit liege bei der Stadt Lünen, erklärt Steag-Sprecher Florian Adamek.
Stadt will „zukunftsfähige Arbeitsplätze“
Bei der Stadt heißt es dazu, dass die Fläche im neuen Regionalplan als Kooperationsstandort ausgewiesen werden solle. „Das Ziel von Stadt und der Wirtschaftsförderung ist es, auf der Fläche attraktive gewerbliche Nutzungen zu etablieren, die zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen“, erklärt Stadtsprecher Benedikt Spangardt. Die Wirtschaftsförderung und die Stadt Lünen hätten bereits die Initiative ergriffen und seien mit der Steag, dem Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie NRW sowie Unternehmen seit Anfang 2018 im Gespräch, „um Möglichkeiten einer gemeinsamen Entwicklungsperspektive und Erschließung zu erörtern.“
Bevor an eine neue Nutzung überhaupt nur zu denken ist, sind auf dem Kraftwerksgelände noch umfangreiche Arbeiten zu erledigen. Darum kümmern sich Mitarbeiter aus der Stammbelegschaft. Sämtliche Flüssigkeiten, Schmierstoffe Chemikalien, brennbare Gegenstände müssen entfernt werden. Das Kraftwerk wird regelrecht trockengelegt. Die Kohlenlager werden geräumt. „Das wird etwa bis zum 3. Quartal 2019 dauern, dann werden wir die Anlage sicher einschließen“, kündigt Kraftwerkschef Braekler an. Ein Sicherheitsdienst werde dann über das stillgelegte Kraftwerk wachen.
Zeitpunkt für Abriss noch offen
Wann das Kraftwerk abgerissen wird und somit auch der Kühlturm aus der Stadtsilhouette verschwindet, lasse sich derzeit noch nicht sagen. Auch das hänge von den Plänen für die künftige Nutzung ab. Ein Rückbau (Abriss) werde etwa zwei bis drei Jahre dauern, heißt es bei der Steag.
Vor diesem Hintergrund erklärt auch Stadtsprecher Spangardt, dass eine Prognose hinsichtlich des Zeitpunkts für eine Nachnutzung schwierig sei. Bei der Stadt gehe man von „voraussichtlich fünf Jahren“ vom Herunterfahren des Kraftwerks über den Rückbau, die Altlastenbeseitigung und das Planungsverfahren bis hin zur Erschließung für eine künftige Nutzung aus.
Ausbildungswerkstatt bleibt in Betrieb
Zurück in die Ausbildungswerkstatt, wo „Dino“ Melis 1978 bei der Steag startete. Sie bleibt, inmitten eines stillgelegten Kraftwerks, noch bis 2020 in Betrieb. Die Steag-Azubis verbringen traditionsgemäß die erste Hälfte ihrer Ausbildung dort. Und das soll sich auch für jene Nachwuchskräfte, die 2018 eingestellt wurden, nicht ändern.
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