
© Julian Schäpertöns
Der Therapienotstand hat sich durch Corona verschärft
Coronavirus
Durch den Lockdown erkranken immer mehr Menschen psychisch. Doch es gibt zu wenige Hilfsangebote. Eine Psychotherapeutin aus Kirchhellen erzählt.
Schon vor Corona mussten Menschen mit psychischen Erkrankungen lange auf einen Therapieplatz warten. Durch die Pandemie hat sich die Lage in den niedergelassenen Praxen nochmals verschärft. Depressionen, Angststörungen, häusliche Gewalt oder Substanzmissbrauch nehmen durch den verhängten Lockdown drastisch zu. Die psychischen Auswirkungen der Pandemie dürfen nicht unterschätzt werden, sagt die Kirchhellener Psychotherapeutin Johanna Thünker.
200 Menschen stehen auf der Warteliste
Zwischen fünf und zehn Anfragen für einen Therapieplatz bekommt Diplompsychologin Johanna Thünker wöchentlich. „Auf meiner Warteliste sind 200 Menschen. Wir haben in unserer Praxis eine Wartezeit von 23 Monaten“, erzählt die 36-jährige Kirchhellenerin. „Es gab schon vorher einen Notstand. Durch Corona hat sich das aber noch verschärft.“
Die 23 Monate Wartezeit in ihrer Praxis sind ein Extrembeispiel. Bundesweit müssen Kassenpatienten im Schnitt 24 Wochen auf einen Therapieplatz warten. Das Ruhrgebiet und Bottrop liegen allerdings deutlich über diesem Schnitt. „Das liegt an der sogenannten polyzentrischen Verflechtung. Es wird angenommen, dass sich die Städte im Ruhrgebiet gegenseitig mitversorgen“, erklärt Johanna Thünker.
In der Theorie ist Bottrop überversorgt
Mit komplizierten mathematischen Verfahren wird der Bedarf an Psychotherapieplätzen von dem Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) berechnet. Das diese Bedarfsplanung nicht der Realität entspricht, kritisiert Johanna Thünker, die auch Vorsitzende des Verbands Psychologischer Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten ist. „In der Theorie haben wir sogar eine Überversorgung in Bottrop, praktisch ist es aber eine Unterversorgung“, erklärt sie. In Bottrop wurde zuletzt 2018 ein halber Kassenplatz mehr zugelassen – ein Tropfen auf den heißen Stein.
Dabei gibt es faktisch gesehen nicht unbedingt mehr psychische Erkrankungen als früher. Was sich aber mit den Jahren stark verändert hat, ist die Bereitschaft, professionelle Hilfe anzunehmen. „Die Stigmatisierung psychischer Erkrankungen ist weniger geworden und das Thema wird langsam enttabuisiert“, sagt die Psychotherapeutin. Während man früher noch eine Depression „ausgesessen“ hat, sind nun mehr Menschen dazu bereit, sich psychotherapeutisch helfen zu lassen. Dadurch ist die Nachfrage bei den zugelassenen Ärzten gestiegen.
Das Paradoxe ist: Diese Nachfrage kann gedeckt werden. Denn es gibt genug ausgebildete Psychologen in Deutschland. Was fehlt, sind die kassenärztlichen Zulassungen. Ohne diese können Therapiesitzungen nicht über die Krankenkasse abgerechnet werden.
Der Lockdown ist ein Katalysator für psychische Probleme
Johanna Thünker hofft, dass sich die Politik nun durch die Corona-Pandemie diesem Problem annimmt und für mehr Kassenzulassungen sorgt. Laut der Deutschen Psychotherapeutischen Vereinigung sollen die Anfragen in Praxen Anfang 2021 um 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr gestiegen sein.
Die ansteigende Nachfrage seit der Pandemie ist für sie keine Überraschung. Denn der Lockdown wirkt wie ein Katalysator bei psychischen Problemen. Hat man sonst zum Beispiel den Ausbruch einer Depression durch genügend Ausgleich verhindern können, so entsteht durch Kontaktbeschränkungen, Unsicherheiten, existenziellen Nöten oder Einsamkeit ein Ungleichgewicht. Auch Menschen, die sonst eigentlich psychisch gesund waren, geraten vermehrt durch den Lockdown in eine seelische Krise.
Um präventiv entgegenzuwirken, müsse man eigentlich die Dinge tun, die man seit der Pandemie unterlassen soll. Sprich: soziale Kontakte pflegen und etwas unternehmen. Johanna Thünker erklärt: „Eine drohende Depression kann man sich wie eine Waage vorstellen. Auf der einen Seite hat man die Belastungen im Leben, auf der anderen Seite den Ausgleich hierzu. Durch den Lockdown sind die Belastungen mehr geworden und der mögliche Ausgleich hat abgenommen. Dadurch kippt bei vielen Menschen diese Waage.“
Probleme nehmen zu
Es sind vor allem die Unsicherheiten in der Pandemie, die belastend sind. Die Probleme nehmen zu. Menschen haben Angst um ihren Job und ihre Zukunft. Im Zusammenleben auf engem Raum entsteht mehr Konfliktpotenzial, was in häusliche Gewalt enden kann. Einsamkeit macht sich vor allem bei Alleinstehenden breit. Mehr Alkohol und Drogen werden konsumiert, was zu Suchtverhalten führen kann. Und auch die gesundheitlichen Folgen durch eine Covid-19-Infektion bis hin zum Verlust nahestehender Menschen durch das Virus können traumatische Erlebnisse auslösen.

Seit 2015 hat Johanna Thünker ihre Kassenzulassung und therapiert in ihrer Praxis in Kirchhellen. © Julian Schäpertöns
Auch bei Kindern sei die Nachfrage nach Therapieplätzen gestiegen. „Viele Familien versuchen in dieser Zeit, so gut es geht Halt und Ordnung zu schaffen, doch trotz aller Bemühungen ist es immer noch eine Riesen-Herausforderung“, weiß Johanna Thünker.
Für genügend Ausgleich sorgen
Besonders wichtig sei es in dieser schwierigen Zeit, für genügend Ausgleich zu sorgen – so gut es eben geht. „Man sollte eine Tagesstruktur beibehalten, viel raus gehen und sich bewegen, vielleicht ein neues Hobby anfangen und Kontakte zumindest regelmäßig online pflegen“, empfiehlt die Psychologin. Im Lockdown sei viel Kreativität gefragt, um die Waage im Gleichgewicht zu halten.
„Das ist sehr schwierig momentan. Und ich weiß: man kann nicht alles dadurch kompensieren.“ Die Psychologin würde sich wünschen, dass die Kontaktbeschränkungen mehr mit Augenmaß von der Politik betrachtet werden. So findet sie es wichtig, dass unter Einhaltung der Hygienemaßnahmen, wieder mehr Angebote im Freien zugelassen werden, zum Beispiel in Vereinen. Dies wäre zumindest ein kleiner Anfang, um für mehr Ausgleich zu sorgen. Sie würde sich außerdem wünschen, dass mehr Schulpsychologen eingestellt werden. „Da hinkt Deutschland im internationalen Vergleich stark hinterher“, sagt sie.
Pandemie wirkt wie ein Brennglas
Die Pandemie wirkt wie ein Brennglas beim eh schon bestehenden Therapienotstand. Um genügend Arbeit muss sich Johanna Thünker in den nächsten Jahren keine Sorgen machen. Sie wünscht sich, dass nun endlich mal ausreichende Angebote für Betroffene geschaffen werden. Denn unter Corona leidet nicht nur die körperliche Gesundheit – auch die psychischen und sozialen Folgen der Pandemie sollten nicht außer Acht gelassen werden.
Ich bin in Dorsten aufgewachsen und lebe seit einigen Jahren in Kirchhellen. Die Region kenne ich also von klein auf. Trotzdem entdecke ich durch meine Tätigkeit als Journalist immer wieder neues. Die lokale Berichterstattung finde ich spannend, weil ich dadurch viele nette Menschen kennenlernen darf und immer mitten im Geschehen bin. Als Fotograf ist mir dabei wichtig, meine Geschichten auch immer visuell ansprechend zu gestalten.
