Noch immer ist für viele Lippramsdorfer nicht vorstellbar, dass ihr früherer wertgeschätzter Pfarrer in den 1970er und 1980er-Jahren Messdiener missbraucht hat. „Sie wollen wissen, welche Täterlogik dahinter steckte und tun sich insgesamt noch schwer, die Betroffenheit in Worte zu fassen“, sagt Cilly Scholten, die als Theologin und Psychologin in der Pfarrei St. Sixtus arbeitet. Sie, Pfarrer Michael Ostholthoff und Pastoralreferentin Veronika Bücker halfen einen Tag nach der Offenlegung des Missbrauchs als Gesprächspartner Menschen in ihrer Ratlosigkeit.
Cilly Scholten betreut Missbrauchsopfer. Deshalb weiß sie, dass Pfarrer B seine Übergriffe lange vorbereitet hatte. Seine Besuche in den Familien, seine nach außen gezeigte herzliche Zuwendung gehörten für sie zur Täterlogik. „Er hat letztlich die Kinder, die ihm einen riesigen Vertrauensvorschuss gewährten, schamlos ausgenutzt. Er zwang die Jungen nach dem sexuellen Missbrauch zum Schweigen und isolierte sie damit von der Familie.“ Die Kinder litten, trauten sich aber nicht, sich den Eltern, die den Pfarrer glorifizierten, mitzuteilen.
Eine große Verunsicherung
Juristisch lassen sich die Taten nicht mehr aufarbeiten, weil Pfarrer B., der 31 Jahre lang in Lippramsdorf wirkte, 2007 verstarb. Aber Pfarrer Michael Ostholthoff hat keinen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der drei ehemaligen Messdiener, die sich ihm offenbart hatten.
Aber es gibt auch Lippramsdorfer, die sagen: Wem soll ich denn glauben? „Die Gemeinde muss gerade eine große Verunsicherung aushalten“, sagt Pfarrer Ostholthoff. Damit jeder für sich Klarheit gewinnen kann, dafür gibt es die Gesprächsangebote. „Wir müssen künftig als Gemeinde noch sensibler auf Anzeichen achten, wenn es Menschen nicht gut geht“, das sieht Pastoralreferentin Veronika Bücker nun als eine besondere Aufgabe an.
Trotz aller Unverständlichkeit hätten die Lippramsdorfer Gemeindemitglieder aber auch die Betroffenen im Blick, so Veronika Bücker. Wie geht es ihnen, wie fühlen sie sich nach der Bekanntgabe des sexuellen Missbrauchs? Auf diese Fragen konnte Michael Ostholthoff zumindest antworten, dass die Opfer sich durch die Art der Veröffentlichung in ihrem Leid ernst genommen fühlten. „Aber sie haben natürlich größte Angst, erkannt zu werden.“ Sich mit Namen als Opfer eines solchen Verbrechens zu bekennen, erfordert mehr als Mut. Martin Schmitz aus Rhede, selbst Missbrauchsopfer, hat sich dazu bekannt. Er erhielt zwar auch Zuspruch, musste genauso jedoch Beschimpfungen und Distanzierungen aushalten.
Für die Opfer sprechen
Die Pfarreileitung steht an der Seite der Opfer und bekennt sich zu ihrer Verantwortung. Bei der Aufarbeitung sei gleichzeitig wichtig, die Menschen sprachfähig über das, was geschehen ist, zu machen und sie in ihrer Unsicherheit aufzufangen, sagt Cilly Scholten. Missbrauch in der Kirche sei kein neues Thema, aber zum ersten Mal werde in Haltern Missbrauch öffentlich gemacht. „Wir müssen nun Balance halten. Das Gemeindeleben geht weiter, aber immer mit Blick auf das Geschehene“, betont Pfarrer Ostholthoff. „Wir müssen die Gemeinde befähigen, für die Betroffenen zu sprechen.“

Durch Missbrauch, sagt Cilly Scholten, veränderte sich ein ganzes Welt- und Lebensbild. „Der Missbrauch geht mit viel Schmerz und Traurigkeit einher. Er zerstört lebenslänglich Identitäten. Manche Kinder verarbeiten das nie.“ Dass die Betroffenen in Lippramsdorf so lange geschwiegen hätten, hänge auch damit zusammen, dass sie ihre Eltern nicht mehr mit der brutalen Vergangenheit belasten wollten. „Das zeigt die Macht des Täters. Bis zuletzt“,
Licht gegen das Vergessen
Am 6. Juni gibt es von 19.30 bis 21 Uhr im Pfarrheim ein weiteres Gesprächsangebot. Aber das Seelsorgeteam und unabhängige Beratungsstellen können jederzeit kontaktiert werden. Die Pfarrei will künftig das „Licht gegen das Vergessen“ in der Kirche stärker als zuvor in den Fokus rücken und Themenabende organisieren.
„Wir entwickeln den Weg im Gehen, denken in Schritten und lassen das Zeitfenster weit offen“, beschreibt Cilly Scholten das künftige Handeln. Alle miteinander seien gerade noch überfordert.