Betroffener zum Missbrauch in Halterner Gemeinde „Verdrängen heißt nicht vergessen“

Missbrauch in Lambertus: „Verdrängen heißt nicht, alles zu vergessen“
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Der Schock in St. Lambertus Lippramsdorf sitzt noch immer tief. Seit Sonntag weiß die Gemeinde, dass ihr ehemaliger Pfarrer B. in den 1970er- und 1980er-Jahren Messdiener im Pfarrhaus und in der Sakristei sexuell missbraucht hat.

Die meisten kriegen das Bild eines fürsorgenden und respektierten Pfarrers mit dem des Missbrauchstäters nicht überein. 17 Jahre nach dem Tod wurden die Taten nun öffentlich. Warum so spät?

Martin Schmitz aus Rhede ist selbst Missbrauchsopfer, hat darüber ein Buch geschrieben und bietet in ganz Deutschland Betroffenen seine Hilfe an. Der 62-Jährige coacht nun auch die Sixtus-Pfarrei und kennt die Antwort.

„Ein Kind“, sagt er, „empfindet Missbrauch als lebensbedrohlich. Es versucht aber, trotz schwerer Traumatisierung das Geschehene zu verdrängen.“ Missbrauch sei vor allem mit Scham behaftet, Kinder suchten die Schuld zunächst bei sich selber.

Martin Schmitz weiß, wovon er redet. Er wurde von einem pädophilen Pfarrer missbraucht, verdrängte das 30 Jahre lang, erst 2012 begann er eine Therapie (sie dauerte sechs Jahre). Damals war sein Leben völlig zusammengebrochen. Martin Schmitz machte sein Leid namentlich öffentlich. Im vergangenen Jahr las er in der Halterner Marienkirche aus seinem Buch.

Suche nach Überlebensstrategie

In Lippramsdorf geschah, was klassisch ist, so Martin Schmitz. Kinder versuchten das Erlebte aus dem Gedächtnis zu tilgen, weil sie keine Sprache für den Missbrauch fänden, sich nicht stark genug fühlten, sich einem Pfarrer mit seiner wahnsinnigen Autorität zu widersetzen und daher eine Überlebensstrategie suchten, erklärt Martin Schmitz. „Aber verdrängen heißt nicht, alles zu vergessen.“ Oft seien Betroffene jedoch erst viele Jahre später in der psychischen Verfassung, den Missbrauch und die verschütteten Gefühle öffentlich zu machen und sie im Rahmen von Therapien wirklich zu verarbeiten.

Menschen in Lippramsdorf sagen, man solle die Toten doch ruhen lassen. „Ein großer Teil der Gemeinde hat den Pfarrer eben so nicht erlebt und möchte einen Schlussstrich ziehen“, solche Gedanken kennt Martin Schmitz aus anderen Gemeinden auch. Mit Unverständnis, manchmal Aggressionen blickten Gemeindemitglieder auf die Missbrauchsopfer, weil sie das Bild des Pfarrers demontierten. „Aber wir müssen jetzt an der Seite der Betroffenen stehen“, betont Martin Schmitz, „sexueller Missbrauch ist ein Verbrechen!“

In den USA sagt man übrigens zu Opfern Überlebende.

Große Gefahr für Gemeinde

Er findet, Pfarrer Michael Ostholthoff und sein Team hätten einen guten Weg der Aufarbeitung eingeschlagen. Michael Ostholthoff hatte im Gottesdienst am Sonntag betont, die ganze Solidarität und Unterstützung gelte den Menschen, die unfassbares Leid erfahren hätten. Es ginge jetzt weder um das Ansehen der Kirche noch um das der Pfarrgemeinde.

Den Missbrauch in St. Lambertus nun zu verarbeiten, sei unglaublich herausfordernd, glaubt Martin Schmitz. Die Gefahr, dass sich eine Gemeinde spalte, sei extrem groß. Es sei gerade sehr wichtig, für alle Gemeindemitglieder Gesprächsräume zu schaffen. Auch für die, die sich ihren feinfühligen Pfarrer B. als Missbrauchstäter nicht vorstellen können und dessen Neigungen für undenkbar halten.

Nicht weiteres Leid zufügen

Und doch bleibt Martin Schmitz dabei: Die Pfarrei St. Sixtus müsse die Betroffenen im Blick behalten und nicht in erster Linie die, die sagen: „Ihr macht das Bild unseres Pfarrers kaputt.“ Wenn der Gemeinde der Ruf des Seelsorgers wichtiger sei, dann füge sie den Missbrauchsopfern weiteres Leid zu. Aber Pfarrer Michael Ostholthoff versicherte in der Kirche: „Wir bekennen uns zu unserer Verantwortung, dass Unrecht und Täter beim Namen genannt werden müssen.“