Kirchenaustritte in Haltern auf Rekordniveau „... dann werden wir zur Geschichte“

Über 500 Kirchenaustritte in Haltern: „Wir müssen mit der Zeit gehen“
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Immer mehr Halternerinnen und Halterner kehren der Evangelischen und Katholischen Kirche den Rücken zu. Im Jahr 2022 waren es insgesamt 573 Menschen - das ist ein Negativ-Rekord.

Die Zahl der Gemeindemitglieder der Evangelischen Kirche verringerte sich laut einer aktuellen Statistik binnen eines Jahres um 107 auf 7.023. Die Katholische Kirche ist deutlich stärker von der anhaltenden Austrittswelle betroffen gewesen. Sie verlor im Jahr 2022 insgesamt 466 Mitglieder, noch einmal 159 mehr als im Jahr zuvor. Zum Jahreswechsel hatte die katholische Kirche in Haltern 19.658 Mitglieder.

Die individuellen Motive für den jeweiligen Austritt sind Pfarrer Michael Ostholthoff (Katholische Kirche) und Pfarrerin Merle Vokkert (Evangelische Kirche) überwiegend unbekannt. Oft sei es sicherlich ein Geflecht von Gründen, erklären die beiden Geistlichen in einem gemeinsamen Gespräch mit der Redaktion.

„Es ist auf jeden Fall ein längerer Prozess, der mit einer gewissen Entfremdung von der Kirche einhergeht“, sagt Michael Ostholthoff. Natürlich gebe es einen großen Missstand in der Katholischen Kirche, der durch Missbrauchsskandale offensichtlich geworden sei. „Solche Enthüllungen erschüttern Christinnen und Christen auch in unserer Pfarrei, und dann verlassen sie eine solche, vermeintlich reformunfähige Institution.“

Michael Ostholthoff und Merle Vokkert stehen vor dem Eingang der St. Marienkirche in Haltern. Die Tür im Hintergrund steht offen.
Michael Ostholthoff und Merle Vokkert wünschen sich, dass sie mit Bürgerinnen und Bürgern vor dem Austritt ins Gespräch kommen. © Jennifer Wachter

Michael Ostholthoff hat den Eindruck, dass meist nicht das sinkende Vertrauen in die Pfarrei vor Ort ausschlaggebend für einen Austritt sei, sondern die Gesamtlage von Kirchen generell. Dem stimmt auch die evangelische Pfarrerin Merle Vokkert zu: „Solch negative Ereignisse wir die Missbrauchsskandale färben auch auf das Bild der Evangelischen Kirche ab.“

Ein weiterer Grund, aus der Kirche auszutreten, ist auch die Kirchensteuer. „Viele Menschen wissen nicht, wie diese Mittel eingesetzt werden und den Menschen vor Ort konkret zugute kommen“, meint Pfarrer Ostholthoff.

Sichtbarkeit der Arbeit im Ort

„Wir kommen beispielsweise unserer stadtgesellschaftlichen Verantwortung nach, indem wir als konfessionelle Träger Einrichtungen wie Kitas, diakonische und caritative Einrichtungen, unsere Altenwohnhäuser und das Krankenhaus betreiben“, so Ostholthoff weiter.

Die evangelische Pfarrerin ergänzt, dass zum Beispiel auch das soziale Engagement wie die Geflüchtetenarbeit, aber auch „die Wächterfunktion in politischen Gremien, in denen wir für die Bedürfnisse des Gemeinwohls in Haltern eintreten, oft unsichtbar bleiben“.

Die Konsequenz: „Unsere Kirchen müssen lernen, die Öffentlichkeit besser über ihr Engagement für die Menschen zu informieren und ihnen den Mehrwert einer christlich geprägten Gesellschaft vor Augen stellen“, sagt Ostholthoff. Auch die Corona-Pandemie sei ein Grund für die Austrittswelle gewesen, denn in dieser Zeit hätten sich viele Menschen von Kirche und Gemeinschaft entwöhnt. „Generell sind nach der Pandemie weniger ältere Menschen im Gottesdienst“, beobachtet Merle Vokkert.

Veränderung ist notwendig

Inflation, Kirchensteuer, Skandale, abnehmende religiöse Identität, demografischer Wandel und letztendlich die Pandemie sorgen dafür, dass die Austrittswelle ungebrochen bleibt. „Deshalb müssen wir neue Wege gehen“, sagt Vokkert. Dem stimmt auch Michael Ostholthoff zu: „Wenn wir nicht mit der Veränderung gehen, dann werden wir zur Geschichte.“

Die Kirche treibe den Wandel nicht voran, um sich bei einem jüngeren Publikum anzubiedern, sondern um sich in einer zeitgemäßen Weise der Botschaft Jesu zu stellen. „Deshalb sind uns die Gespräche und kritische Rückmeldungen so wichtig. Im Dialog können wir Veränderungen im eigenen Ort gemeinsam vorantreiben.“

Beide Halterner Geistliche wünschen sich, dass ein solches Gespräch bereits vor dem Austritt gesucht werde.

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