Ann-Christin starb beim Germanwings-Absturz Eltern sprechen erstmals über Tod der Tochter

Ann-Christin starb beim Germanwings-Absturz: Eltern sprechen erstmals über Tod der Tochter
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Petra und Peter Hahn sitzen an ihrem gemütlichen Esstisch im Hamm-Bossendorfer Eigenheim. Hier kann man sich wohlfühlen. Über der Lehne eines Stuhles hängt, wie zufällig dort abgelegt, der grüne Abi-Pullover ihrer Tochter Ann-Christin. Der Hoodie sieht aus wie neu, sie hat ihn nie getragen, denn ihr Leben und mit ihm alle Versprechen auf die Zukunft endeten am 24. März 2015 beim Flugzeugabsturz in den französischen Alpen.

2017 hätte Ann-Christin am Joseph-König-Gymnasium in Haltern Abitur gemacht. Ihr Jahrgang hat dafür gesorgt, dass die 16 Namen der Schülerinnen und Schüler, die zu den 149 Opfern des Germanwings-Fluges gehörten, auf dem Abschluss-Pulli stehen.

Seitdem liegt dieser am Platz von Ann-Christin und drückt das aus, was mit Worten nicht zu fassen ist – Leere und Schmerz, Vermissen und Endgültigkeit. „Warum?“, steht auf der Trauerkarte für Ann-Christin, die zusammen mit Fotos und anderen Erinnerungen auf einem Regal in der Nähe des Esstisches steht. Noch immer haben die Eltern so viele Fragen, die wohl nie beantwortet werden.

Der grüne Abi-Pullover von Ann-Christin hängt am Esstisch ihrer Eltern in Haltern über einem Stuhl.
Der grüne Abi-Pullover von Ann-Christin, den sie nicht mehr tragen konnte, liegt über ihrem Platz am Esstisch in ihrem Elternhaus. © Silvia Wiethoff

Ihre Gedanken sind jeden Tag bei ihrem einzigen Kind, das sie so früh verloren haben. Täglich besuchen sie das Grab ihrer Tochter auf dem Friedhof Heilig Kreuz in Hamm-Bossendorf. In den ersten Jahren nach ihrem Verlust führte der Weg von Petra zweimal täglich zur Ruhestätte, morgens vor der Arbeit um 5.30 Uhr und am Abend.

Mit viel Kraft hat sie sich den Besuch am frühen Morgen abgewöhnt. „Wir müssen lernen, mit unserem Verlust zu leben“, sagen die Eltern. Das ist bis heute, zehn Jahre nach der Tragödie, anstrengend. Das Leben geht weiter, auch für die verwaisten Eltern, aber es wird nie mehr so sein wie vor dem 24. März 2015. Zuversicht und ungetrübte Lebensfreude zerschellten am französischen Bergmassiv.

Keine Zukunft

Wenn andere von Hochzeiten oder Nachwuchs bei ihren Kindern berichten, bleibt ihnen nur der Blick in die Vergangenheit. Ann-Christin wird nie älter als 16 sein. „Wir erzählen gern von unserer Tochter“, erklären Mutter und Vater und fügen hinzu: „Es gibt nicht mehr viele, die es hören wollen.“

Petra Hahn hält einen Gedenkstein und einen Holzengel als Erinnerung an den Germanwings-Absturz in den Händen.
Diese Dinge sind Petra Hahns ständige Begleiter: Ein Gedenkstein, der am ersten Jahrestag der Tragödie ausgegeben wurde, und ein Holzengel, der bei der Trauerfeier im Kölner Dom am 17. April 2015 für Angehörige und Helfer bereitlag. © Silvia Wiethoff

Ann-Christin war ein zurückhaltendes Mädchen, das sich nicht gern in der ersten Reihe aufhielt. Sie hatte viele Talente, war sowohl in Mathe als auch in Sprachen begabt. Sie pflegte ihre Freundschaften, kam mit allen gut aus und konnte sich über kleine Dinge freuen.

Gemeinsam mit ihren Freundinnen erlebte sie die ersten Partys. Die Mädchen passten aufeinander auf. Es gibt ein Foto der Clique, auf dem zehn Jugendliche zu sehen sind. Fünf saßen im Unglücksflieger. „Man kann es in der Mitte durchschneiden“, beschreibt Petra die Aufstellung. Die Tragödie hat nicht nur bei den Familien tiefe Spuren hinterlassen.

Alle Hebel hatte Ann-Christin in Bewegung gesetzt, um an dem Schüleraustausch in Spanien teilnehmen zu können. Dabei hatte sie Flugangst. Mit den Eltern wollte sie gern in den Süden reisen, aber nur im Auto. Kurz vor dem Hinflug nach Barcelona hat sie sich noch bei ihrer Mutter gemeldet und von ihrer Angst berichtet. „Wenn du hinwillst, musst du fliegen“, hat diese geantwortet.

Alles hat sich verändert

„Einfach machen“, so wie sie das früher oft geraten und selbst beherzigt hat, das gebe es bei ihr heute nicht mehr, sagt Petra.

Vor der Reise hat die Mutter ihre Tochter noch ermahnt, in der Disko sollte sie keine Flasche offen stehen lassen. Lieber eine neue kaufen. An die Gefahr, dass den Jugendlichen aus Haltern etwas ins Getränk gemischt werden könnte, hat sie gedacht, aber nicht an einen Flugzeugabsturz.

Die Zeit um Weihnachten und Neujahr sei für sie neben dem Geburtstag von Ann-Christin im Sommer am schlimmsten, so die Eltern. „Wir brauchen nur zwei Stühle“, beschreibt Peter (63) die Dimension des eigenen Verlusts. Unbefangene Kontakte sind mitunter schwierig geworden. Manchmal hört Petra (58) den Satz „Da wo Ann-Christin jetzt ist, möchte sie nicht, dass du traurig bist.“

„Wir werden unser ganzes Leben traurig sein. Es tut jeden Tag weh“, lautet ihre Antwort. Der Kloß im Hals gehe nicht mehr weg, aber an manchen Tagen mache er sich nicht gar so heftig bemerkbar. „Es ist wie eine Welle, die manchmal abflaut und dann wieder anschwillt.“ Es sei wie ein Lichtschalter, den man anknipst und der nicht richtig einrastet. Plötzlich kann es wieder dunkel werden, ergänzt ihr Mann. Ein Klagen vor anderen, das stellt er klar, haben er und seine Frau sich aber nie erlaubt.

Trost finden beide in der Gemeinschaft mit anderen betroffenen Eltern in Haltern. Seit zehn Jahren kommen diese einmal im Monat zusammen, können weinen und lachen, ganz so, wie jeder und jedem zumute ist. „Und wenn es mir mal ganz schlecht geht, dann weiß ich, wo ich anrufen kann“, so Petra.

Rote Rose liegt an der Absturzstelle der Germanwings-Maschine in Le Vernet in Frankreich inmitten von Gestein.
Wenn die Eltern von Ann-Christin nach Frankreich fahren, gehört es zum Ritual, dass Petra Hahn vier Rosenköpfe ablegt - einen direkt an der Absturzstelle (Foto), einen am Friedhof in Le Vernet, einen an der Gedenkstele und einen im Andachtsraum für die Angehörigen der 149 Opfer der Flugzeugkatastrophe. © privat

Schon Wochen vor dem zehnten Jahrestag ist der Flugzeugabsturz, bei dem der Co-Pilot 149 unschuldige Menschen mit in den Tod riss, wieder präsent in den Medien. „Es machte sofort Klick“, beschreibt Peter seine Reaktion. All die Bilder seien wieder da.

Nachricht vom Unglück

Seine Frau hat damals im Büro in Marl vom Unglück gehört, das Radio lief im Hintergrund. Sie hat sofort im Internet recherchiert. In einer ersten Meldung war von einer Maschine die Rede, die auf dem Weg von Düsseldorf nach Barcelona abgestürzt sei. Erleichtert hat sie Ann-Christin per WhatsApp geschrieben „Habe mir Sorgen gemacht. Melde dich, wenn ihr gelandet seid.“

Ann-Christin freute sich auf ihr Zuhause, Mutter und Tochter wollten zur Feier des Wiedersehens gemeinsam Pizza essen gehen. Als die erste Meldung über den Weg des Flugzeugs dementiert und Start- und Landeort umgekehrt wurden, wusste Petra, dass die Kinder im Unglücksflieger saßen.

Für sie sei sofort klar gewesen, dass es keine Rettung gegeben haben konnte. „Man würde denken, bei so einer Nachricht fällt man gleich tot um“, blickt sie zurück. Beide Eltern haben funktioniert. Petra wollte allerdings in den ersten Tagen nicht schlafen. „Ich hatte Angst vor dem Aufwachen, zu realisieren, dass es kein Traum, sondern Wirklichkeit ist.“

Noch schlimmer als der 24. März sei für sie der 10. Juni 2015 gewesen, berichtet sie. An diesem Tag kehrten die Kinder in einem Tross aus überwiegend weißen Leichenwagen nach Haltern am See zurück. Die Angehörigen holten sie aus Düsseldorf ab, wo sie in einem Hangar aufgebahrt waren. Zuerst sei jeder zu seinem Kind gegangen, ein Foto wies den Weg. Später hätten sich alle umarmt. Das Schicksal hat die Familien für immer verbunden.

Weiße Leichenwagen mit den Opfern des Germanwings-Absturzes passieren das Schulzentrum in Haltern.
Unter großer Anteilnahme der Halterner Bevölkerung trafen die verstorbenen Jugendlichen am 10. Juni 2015 nach langem Warten in ihrer Heimatstadt ein. © Holger Steffe (Archiv)

Für sie ist es schwer, dass es keinen richtigen Abschied gab. Die Särge blieben verschlossen. Auch die Eltern von Ann-Christin konnten ihr Kind nicht noch einmal spüren, in den Arm nehmen und so begreifen, was so schwer zu verstehen ist. „Mir fehlt meine tote Tochter“, sagt Petra. Die Hoffnung auf ein Wiedersehen an einem anderen Ort haben die Eltern nicht.

Der wabernde Nebel, den Schmerz und Leid in einer Trauerphase über jeden Tag legen können, stellte sich beim Ehepaar Hahn Monate nach der Tragödie ein. Im September sind die Halterner an die Ostsee in den Urlaub gefahren und dort „herumgelaufen wie Falschgeld“. Überall fehlte Ann-Christin.

Die Wucht der Trauer

Als das Ehepaar sich Räder ausleihen wollte und dafür die Adresse angeben musste, fiel dem Mitarbeiter gleich die Angabe Haltern am See auf. „Ach, da kam doch die Schulklasse her, kennen Sie denn jemanden?“, habe dieser gefragt. „Ja, unsere Tochter“, haben sie geantwortet. Dann war Schweigen.

2022 haben sie das Zimmer von Ann-Christin umgestaltet. Das war nicht leicht. Aber längst war der Geruch der Tochter verschwunden. „Wir hätten ihn so gern konserviert“, lässt Peter in seine Gefühle blicken. Der Raum hat einen neuen Bodenbelag und neue Tapeten bekommen. Das Mobiliar ist ein Mix aus Alt und Neu. „Ich wollte kein Museum, aber auch kein Bügelzimmer daraus machen“, erklärt Petra.

17. März steht auf einem Kalender im Zimmer von Ann-Christin Hahn in Haltern.
Der Kalender im Zimmer von Ann-Christin bleibt für immer auf dem 17. März stehen. An diesem Tag verließ die junge Halternerin ihr Zuhause und kam nicht mehr zurück. © Silvia Wiethoff

Dinge, die ihrer Tochter wichtig waren, haben sie aufbewahrt – ihre liebsten Handtaschen zum Beispiel, kleine Andenken auf dem Regal und einen Kalender, den Peter zum letzten Mal vor zehn Jahren auf den 17. März erneuert hat. Das hat er jeden Morgen beim Bettenmachen erledigt, wenn seine Frauen früh aus dem Haus waren. An diesem Tag verließ eine fröhliche Tochter mit all den Möglichkeiten eines jungen Lebens das Haus und kam nicht mehr zurück.

Zehnter Jahrestag

Am Jahrestag wird das Ehepaar Hahn wieder zur Absturzstelle reisen. „Das ist uns ganz wichtig und das werden wir machen, so lange es uns körperlich möglich ist. Es gibt keinen anderen Ort, an dem wir am 24. März sein wollen“, betont Peter. „Wenn ich oben am Berg bin, würde ich am liebsten sitzen bleiben“, sagt seine Frau.

Ann-Christins liebste Handtaschen hängen an Haken an der Wand.
Das Zimmer von Ann-Christin ist umgestaltet, die Eltern habe Dinge behalten, die ihrer Tochter wichtig waren - dazu gehören ihre liebsten Handtaschen. © Silvia Wiethoff
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