Am 24. März 2015 um 10.41 Uhr zerschellt eine Passagiermaschine der Germannwings an einer Bergwand nahe des französischen Dorfes Le Vernet. Nicolas Balique erzählt in einem bewegenden Buch von dem Schock, der das kleine Alpendorf erschüttert, von der Invasion der Medien aus der ganzen Welt, von dem Empfang der Familien der Opfer, von den Spuren, die dieses Drama bei den Einwohnern hinterlassen hat.
In diesem kleinen, ruhigen Dorf verbringt er seit seiner Kindheit sehr viel Zeit, er kennt jeden Pfad, jeden Winkel, jeden Bewohner. Er beschloss, alles liegen und stehen lassend, sich auf den Weg in sein Dorf, in seine Berge zu machen.
Zerreißprobe
Was er dort direkt nach dem Absturz und einige Wochen später erlebt, hat er aufgeschrieben in einem Buch: „Rückkehr nach Le Vernet – Mein Dorf nach dem Germanwings-Absturz“. Annette Bleß, die ihre Tochter Elena bei dieser Katastrophe verlor, hat es ins Deutsche übersetzt. „Es ist eine höchst bewegende Reportage, die einen ganz anderen Blick auf die Ereignisse ermöglicht“, schreibt Annette Bleß in ihrem Vorwort, das sie auf Bitten des Autors verfasst hat.
Warum hat sich Nicolas Balique auf den Weg gemacht, kurz nachdem die Passagiermaschine von Germanwings an diesem 24. März um 10.41 Uhr am Ende eines sehr schmalen Tals an einer Bergwand zerschellte? Was würde er dort oben machen? „Meine Kenntnis der Gegend und meine Erfahrung als Journalist würden es mir mit Sicherheit erlauben, eine Sensationsmeldung zu realisieren“, schreibt er in seinem Buch „Rückkehr nach Le Vernet“.
Aber er kann nicht Profit aus diesem Unglück schlagen, er kann keine Fotos machen: „Es sind nämlich meine Berge, es ist mein Dorf … Eine erste Zerreißprobe zwischen meinem Beruf und meinen persönlichen Verbindungen.“
„Eine Tragödie“
Eine Nachricht an diesem Morgen berührt ihn besonders: „Die Anwesenheit einer Gruppe von 16 deutschen Gymnasiasten an Bord des Flugzeugs. Was für eine Tragödie für ihre Eltern!“ Mit zwei Freunden steigt er zu der Absturzstelle hinauf.
„Unter den verstreuten Trümmern, die ich für Steine halte, befinden sich mehrere hundert kleine Trümmer. Weiter oben ein Stück des zerstörten Rumpfes, auf dem ich mehrere Seitenfenster erkenne … Ich denke an tausend Dinge gleichzeitig. An den schrecklichen Aufprall des Flugzeuges gegen die Wand, an die 16 deutschen Oberstufenschülerinnen und -schüler... Die Gebirgswand scheint das Flugzeug verschluckt zu haben“, Nicolas Balique beobachtet eine trostlose Szenerie. Alles habe sich in Luft aufgelöst: Die fröhliche Stimmung an Bord, die Freude in Haltern auf die Rückkehr der Kinder.
Pläne vor dem Albtraum
Zur Absturzzeit schaut sich Gymnasiallehrerin Annette Bleß mit ihrer Lerngruppe der Jahrgangsstufe 8 in der letzten Doppelstunde Französisch vor den Osterferien den Film „Die Kinder des Monsieur Mathieu“ an.
Ihre Gedanken schweifen ab zu den Plänen für die Zeit nach dem Unterricht: „Mittags werde ich nach der Schule schnell zum Einkaufen fahren, denn Elena hat sich frische Erdbeeren gewünscht … Mein Unterricht hört früh genug auf, sodass ich alles noch rechtzeitig schaffen kann, bevor ich Elena vom Bahnhof in Haltern abhole. Am Nachmittag wird Elena mir gemütlich bei einem Stück Kuchen von ihrem Spanienaustausch erzählen, ihren Koffer auspacken und wir werden zusammen den nächsten Tag, ihren 16. Geburtstag, planen.“
Dann der Albtraum: „Wir stehen unter Schock und nehmen alles nur wie durch einen Schleier wahr. Alles fühlt sich so falsch an. Es kann einfach nicht wahr sein, dass unsere Tochter und die anderen Passagiere tot sind. Wie kann es möglich sein, dass ein geisteskranker Pilot an das Steuer eines Flugzeuges gelassen wird?“
Nicht nur für die Angehörigen
Im Dezember 2015 bringt Anke, eine der anderen betroffenen Mütter, nach einem Besuch in Le Vernet das Buch des französischen Journalisten mit. Sie bittet Annette Bleß, es für sie zu übersetzen. Sechs Wochen später nimmt die Französisch-Lehrerin es in die Hand. „Ich fange an zu lesen und kann nicht mehr aufhören.“
Annette Bleß beschließt, es zu übersetzen, nicht nur für die Angehörigen und Freunde der verstobenen Schüler und Lehrerinnen aus Haltern, sondern auch für die deutschsprachigen Angehörigen aller Opfer, für Menschen, die in Südfrankreich Urlaub machen, für Journalisten. Sie schreibt dem Autor einen Brief und erhält wenige Tage später Antwort.
Nicolas Balique vertraut der Halternerin die Übersetzung an. Unter einer Bedingung: Annette Bleß sollte ein Vorwort schreiben. Sie zeichnet auf, wie sie und ihre Familie die furchtbaren Stunden, Tage, Wochen, Monate danach erleben. „Liebe Freunde, Verwandte und Bekannte und nicht zuletzt unser unermüdlicher Pfarrer standen uns zur Seite. Ihre liebevolle Unterstützung, aber auch unsere Gewissheit, dass mit dem Tod nicht alles vorbei ist, haben uns durch diese schwere Zeit getragen und werden uns auch in Zukunft weiter tragen.“
Annette Bleß und ihr Mann Martin gründeten eine Stiftung, die den Namen ihrer Tochter trägt und Schüler bei der Durchführung von Auslandspraktika und Austausch unterstützt.
Dorfbewohner im Blick
Nicolas Balique hat das Ehepaar Bleß eingeladen, Ferien in seinem Chalet in Le Vernet zu verbringen und mit ihm durch die Berge zu wandern. Autor und Übersetzerin verbindet inzwischen ein fast freundschaftliches Verhältnis.
Wie konnte sie die Details in seinem Buch zu der Katastrophe ertragen und an der Übersetzung arbeiten? „Die Beschäftigung mit der Sprache hat mir geholfen, obwohl die Reportage wirklich keine leichte Kost ist. Ich musste mich auf eine andere Ebene begeben, musste trotz meiner Sprachkenntnisse vieles nachschlagen oder regionale Ausdrücke vom Autor erklären lassen. Ich stand ständig mit ihm in Kontakt.“
Annette Bleß schätzt an diesem Buch besonders eines: Dass Nicolas Balique auch die Dorfbewohner in den Blick nimmt. Schildert, dass auch sie und ebenso die Einsatzkräfte Opfer der Katastrophe sind. Vieles, was er berichtet, war für Annette Bleß neu und interessant.
Sie kannte nicht die Geschichte des Dorfes und seiner Bewohner, die so unglaublich herzlich und gastfreundlich seien. „Es hat mir Erleichterung verschafft, das Buch zu übersetzen, die Augenzeugenberichte zu lesen. Die bewegende Reportage von Nicolas Balique hat uns einen ganz anderen Blick auf die Ereignisse ermöglicht.“
Auch als Hörbuch
„Rückkehr nach Le Vernet“ von Nicolas Balique erschien im Verlag Masou. Es kostet 12.90 Euro und ist in der Buchhandlung Kortenkamp, Lippstraße 1, erhältlich. Auflage: 1000. Es wird auch als Hörbuch verkauft.
Nicolas Balique, Literatur- und Politikwissenschaftler, war u.a. stellvertretender Chefredakteur bei Radio France International und war mehrere Jahre als Korrespondent in Afrika