Fotograf sah die Passagiere von Flug 4U9525 - ein Gedanke beschäftigt ihn bis heute

Germanwings-Absturz

Der Fotograf Ricardas Jarmalavicius stand am 24. März 2015 neben den Passagieren des Germanwings-Flugs 9525 am Gate. Nachdem er von ihrem Absturz erfuhr, ließ ihn ein Gedanke nicht mehr los.

Haltern

, 24.03.2020, 12:00 Uhr / Lesedauer: 3 min
"Das Foto ,Last Hug. Germawings #4U9525' bildet meine Gefühle ab, die bei mir wegen dieser Tragödie aufkamen", sagt Ricardas Jarmalavicius. "Es bildet meine Erlebnisse ab, die ich erzählen wollte."

"Das Foto ,Last Hug. Germanwings #4U9525' bildet meine Gefühle ab, die bei mir wegen dieser Tragödie aufkamen", sagt Ricardas Jarmalavicius. "Es bildet meine Erlebnisse ab, die ich erzählen wollte." © Ricardas Jarmalavicius

Der 24. März 2015 hat Haltern am See verändert. Vor fünf Jahren verloren 144 Passagiere und fünf Crew-Mitglieder des Germanwings-Flugs 9525 ihr Leben, weil der Co-Pilot das Flugzeug absichtlich abstürzen ließ. 16 der Opfer gingen auf das Joseph-König-Gymnasium, zwei weitere arbeiteten dort als Lehrerinnen.

Die sinnlose Tat bewegte auch Menschen, die keine Angehörigen verloren haben, die noch nie in der Seestadt waren, die niemanden dort persönlich kennen, die nichts weiter mit den Menschen im Flugzeug zu tun hatten, als zufällig neben ihnen bei der Sicherheitskontrolle zu stehen. Einer von ihnen ist der Fotograf Ricardas Jarmalavicius.

Vor fünf Jahren flog er von Barcelona nach Vilnius. Er hatte dort seinen Sohn besucht, der seit fast zehn Jahren in Barcelona lebt. Die Germanwings-Maschine hob am Gate nebenan ab. Als Jarmalavicius‘ Flieger in Vilnius landet, erfährt er vom Absturz der Maschine.

Das Schicksal der Menschen bewegt ihn, lässt ihn auch Monate später nicht los, als er wieder am Flughafen in Barcelona ist. Er nimmt ein Foto auf, mit dem er versucht, eine wichtige Botschaft an alle Menschen dieser Welt zu senden.

So erinnert sich Ricardas Jarmalavicius an den 24. März 2015 und die Idee für sein Foto zurück:

„Ich verabschiede mich von meinem Sohn. Ich kam in Eile zum zweiten Terminal des Flughafens Barcelona – wie immer. Bei der Sicherheitskontrolle fielen mir die vielen deutschen Reisenden auf, die ich später am Flugsteig wieder sah, weil die Gates nach Düsseldorf und Vilnius direkt nebeneinanderlagen. Zuerst startete das Flugzeug nach Düsseldorf, ungefähr zehn Minuten später hoben wir in Richtung Vilnius ab. Bis zu den Alpen flogen wir hinter dem Germanwings-Flugzeug mit der Nummer 9525.

Für die Fotografie "Last Hug. Germawings #4U9525" ist Ricardas Jarmalavicius bei den "Hotshoe Black & White Photography Awards" zum Fotograf des Jahres 2016 in der Kategorie Reisen ausgezeichnet worden.

Für die Fotografie "Last Hug. Germanwings #4U9525" ist Ricardas Jarmalavicius bei den "Hotshoe Black & White Photography Awards" zum Fotograf des Jahres 2016 in der Kategorie Reisen ausgezeichnet worden. © Ricardas Jaramalavicius

Als das Flugzeug, in dem ich saß, in Vilnius landete, erfuhr ich von dem Absturz. Ich war wie unter Schock. Ich habe diese Leute lebend gesehen, ich stand neben ihnen. Ich war einer der letzten, der die Passagiere dieses Flugs lebend sah. Ich fühlte, wie der Schmerz über mich kam.

Ich war noch nie in Haltern am See. Aber ich fühlte mich in diesem Moment als einer der Bewohner dieser Stadt, die um die 16 Schüler und ihre zwei Lehrer trauerte. Unmittelbar nach der Tragödie posteten die Menschen in sozialen Netzwerken Fotos der Opfer. Ich erkannte einige Gesichter, die ich bei der Sicherheitskontrolle gesehen hatte.

Ich erinnere mich an eine junge Dame, die in der Warteschlange neben mir stand und mit der ich ein Lächeln austauschte. Ich erinnere mich an eine Gruppe von Schülern, die sich freudig auf Deutsch unterhielten. Ich erinnere mich an einen älteren Mann, der sich mit dem Sicherheitspersonal stritt und sie bat, mit ihm auf Deutsch zu sprechen.

„Wir verlassen unser Zuhause jeden Morgen in Eile, ohne zu wissen, ob es unser letzter Abschied von unserem Kind, unserer Frau, unserem Ehemann ist. Wir eilen weiter, ohne daran zu denken, dass jede Umarmung die letzte sein könnte.“

„Wir verlassen unser Zuhause jeden Morgen in Eile, ohne zu wissen, ob es unser letzter Abschied von unserem Kind, unserer Frau, unserem Ehemann ist. Wir eilen weiter, ohne daran zu denken, dass jede Umarmung die letzte sein könnte.“ © Ricardas Jarmalavicius

Ich wurde leicht wütend auf ihn, weil er sich nicht beeilte, seinen Koffer vom Band der Sicherheitskontrolle zu nehmen, und gab ihm einen leichten Stoß, damit er seinen Koffer schneller nahm. Wir hatten es eilig – wie immer.

Nach der Tragödie dachte ich immer wieder darüber nach, wie ich mich verhalten hätte, wenn ich nur das geringste Gefühl gehabt hätte, was diesen Menschen zustoßen würde. Ich weiß es nicht, da ein solches Szenario nicht vorhersehbar ist. Aber der Gedanke an Eile, immer in Eile zu leben, sollte mir nicht mehr aus dem Kopf gehen.

Wir verlassen unser Zuhause jeden Morgen in Eile, ohne zu wissen, ob es unser letzter Abschied von unserem Kind, unserer Frau, unserem Ehemann ist. Wir eilen weiter, ohne daran zu denken, dass jede Umarmung die letzte sein könnte.

Ein paar Monate später, als ich wieder von Barcelona aus flog und am selben Flugsteig stand, dachte ich dasselbe. Mir fiel eine Werbeanzeige in den Blick, auf der ein Mann abgebildet war, der ein Kind umarmte. Ich schaute mir die Werbung lange Zeit an und fotografierte sie und das Leben, das um sie herum wuselte, mit meinem Handy. Den Namen der Fotografie hatte ich da bereits im Kopf: The Last Hug – Die letzte Umarmung.“