
© Nora Varga
Inge Venus (75) über 20 Jahre vegetarisch: „Wir wurden Spinner genannt“
Menschen in Haltern
Schon ihr gesamtes Leben hat Inge Venus damit gehadert, Tiere zu essen. Sie verzichtete immer mehr auf Fleisch, zu einer Zeit, in der es in Haltern am See dafür selten Verständnis gab.
Der Satz „Ich bin Vegetarierin“ ist im Jahr 2022 nichts Besonderes mehr. Rund acht Millionen Menschen in Deutschland essen kein Fleisch. Aber das war nicht immer so, in den 70er- und 80er-Jahren gab es deutlich weniger Vegetarier. Und wer es war, der wurde dafür schief angeguckt. Eine von ihnen ist Inge Venus. Die 75-Jährige hadert schon ihr gesamtes Leben damit, Tiere zu essen.
Wer Inge Venus kennenlernt, der merkt schnell, dass Alter wirklich nur eine Zahl ist. Die aufgeweckte Frau hätte mit ihren Überzeugungen auch gut eine 25-jährige Studentin sein können. Sie ist überzeugte Feministin. Im Bücherregal im Wohnzimmer stehen Bücher wie „Design von Frauen“ oder „Frauen, die lesen, sind gefährlich und klug“ und ihr Wildgarten passt genau zu dem, was die Schüler von Fridays for Future fordern.
Schweine streicheln und Ziegen-Wagen
Die pensionierte Lehrerin hat schon früh eine besondere Beziehung zum Fleisch. Denn das Fleisch, das in ihrem Elternhaus gegessen wurde, lebte im eigenen Garten. „Heute würde man das ‚ökologischen Landbau‘ nennen. Die Tiere haben artgerecht im Garten gelebt, aber das war nur ein Nebenerwerb.“ Sie zeigt eine kleine Fotografie, auf der sie im Alter von rund vier Jahren zu sehen ist – zusammen mit ihrem Lieblingsschwein. „Ich durfte sogar darauf reiten und es ließ sich kraulen und hielt dabei ganz still“, erzählt sie schmunzelnd.

Alte Fotos, auf denen Inge Venus als Kind zu sehen ist. Sie ist mit Tieren aufgewachsen. Für sie ist es wichtig, das tierisches Lebewesen als Lebewesen und Mitgeschöpf zu sehen und nicht als Nutztier. © Nora Varga
Neben den Schweinen gab es auch Ziegen, die Inge Venus Großvater sogar an ein kleines Geschirr gewöhnt hatte. In einem Wägelchen wurde sie dann von den Ziegen gezogen. Fleisch isst sie als Kind trotzdem, es schmeckt ihr auch, besonders dann, wenn ihre Oma kocht. Aber: „Für mich war das eh nie das Hauptthema auf dem Teller.“ Jeden Tag Fleisch gab es damals ohnehin noch nicht. Das gab es nur einmal in der Woche am Samstag.
Je älter sie wird, desto mehr hadert sie mit dem Fleischessen. Auch ihr Glaube trägt dazu bei. Zur Landessynode der evangelischen Kirche 1986 wird ein Heft zum Thema „Verantwortung für Gottes Schöpfung“ herausgegeben. Mit an dem Heft schreibt auch der Halterner Gemeindepfarrer Heinrich Vokkert. „Da steht alles das drin, was heute wieder diskutiert wird.“
Vegetarier wurden früher als Spinner belächelt
Auch der Film „Le sang des bêtes – Das Blut der Tiere“ beeinflusst sie stark. Der schwarz-weiß Film aus dem Jahr 1949 thematisiert als einer der Ersten das Töten auf dem Schlachthof. In der Dokumentation von Georges Franju über den Pariser Schlachthof in La Chapelle sieht man Männer, die durch dampfendes Blut und Exkrementen waten. Der Filmkritiker Amos Vogel schrieb über den Film: „Franju, ein engagierter Künstler, Widerstandskämpfer und Moralist, will uns alle Bluttaten vor Augen führen, die überall auf der Welt in unserem Namen von denen vollbracht werden, die wir bezahlen, damit sie unsere dreckige Arbeit verrichten, sodass wir unsere Hände in Unschuld waschen und alle Verantwortung ablehnen können.“
Auch Inge Venus nehmen die Bilder aus dem Schlachthof mit: „Ich konnte mir den damals gar nicht zu Ende anschauen. Ich bekomme jetzt schon wieder eine Gänsehaut. Auch bei diesen ganzen Skandalen heute kann ich mir das nicht ansehen.“
Immer öfter verzichtet sie auf Fleisch, aber auch wenn das Thema Tierwohl durch die Grünen immer weiter in die Mitte der Gesellschaft rückt, normal ist Vegetarismus nicht. „Das gab es damals schlicht nicht. Wir wurden Spinner genannt, das war schlimm.“ Sie gibt zu, dass sie nicht das Selbstbewusstsein hatte, schon so früh auch in aller Öffentlichkeit kein Fleisch zu essen. „Ich habe das nie nach außen getragen.“ Sie erinnert sich, dass es Menschen gab, die aus gesundheitlichen Gründen kein Fleisch essen durften. Aber aus moralischen Gründen zu verzichten, war für die Mehrheit der Menschen unvorstellbar.
In ihrem Umfeld gab es deswegen nicht nur Verständnis. „Oft wurde mir dann gesagt, dass die Tiere doch dafür da sind.“ Für Inge Venus ganz großer Blödsinn: „Ich kann auch das Wort Nutztiere nicht mehr hören. Das sind lebende Tiere, Mitgeschöpfe.“ Während sie erzählt, wird sie regelrecht wütend. Trotzdem habe sie nie versucht, andere Menschen zu missionieren. „Ich habe eine pädagogische Grundeinstellung. Man kann keinen zwingen, das bewirkt genau das Gegenteil.“
In der Schule über Tierwohl und Massentierhaltung sprechen
Auch wenn sie niemanden überzeugen will, bespricht sie das Thema mit ihren Schülerinnen und Schülern. „Ab 1995 habe ich dazu Unterrichtseinheiten gemacht.“ Sie fährt mit den Klassen ins LWL-Museum zu Ausstellungen über die Geschichte des Schweins und liest mit den Jugendlichen Artikel über artgerechte Haltung. Sie zeigt einen Zeit-Artikel von 1993. Schon damals ist vom Elend der Massentierhaltung zu lesen.
Wenn ihre Schülerinnen und Schüler Fleisch essen, dann müssen sie zumindest wissen, wie die Tiere leben, findet sie. Ab wann sie sich komplett vegetarisch ernährt hat, weiß Inge Venus nicht mehr. Mindestens seit 20 Jahren, vermutet sie. Auch wer sie besucht, bekommt kein Fleisch gekocht.
Die Halternerin hat nicht das Gefühl, etwas verloren zu haben. „Ich esse viel mehr asiatisch und indisch“, erklärt sie. In diesen Kulturkreisen ist der Verzicht auf Fleisch weit verbreitet. Mehr als jeder Dritte in Indien lebt vegetarisch. Jedem, der vegetarisch leben will, empfiehlt die 75-Jährige es einfach auszuprobieren. „Einfach mehr Gemüse nehmen, möglichst aus der Region. Mittlerweile kann man sich ja ganz leicht Rezepte suchen.“
Jahrgang 2000. Ist freiwillig nach Castrop-Rauxel gezogen und verteidigt ihre Wahlheimat gegen jeden, der Witze über den Stadtnamen macht. Überzeugte Europäerin mit einem Faible für Barockmusik, Politik und spannende Geschichten.
