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Arbeitsmigranten: Pfarrer setzt sich für Westfleisch-Mitarbeiter ein
Coronavirus bei Westfleisch
Sie werden ausgebeutet und leben - auch in Haltern - zusammengepfercht in alten Häusern: Pfarrer Kossen hilft Arbeitsmigranten. Nachbarn, Stadt und Kirche könnten alle etwas tun, sagt er.
Angesichts der gehäuften Corona-Fälle in Schlachtbetrieben wie Westfleisch stehen die Arbeits- und Wohnbedingungen für die vor allem aus Osteuropa stammenden Werksvertragsarbeiter in der Kritik. Auch in Haltern. Sozialpfarrer Peter Kossen aus Lengerich engagiert sich für die Arbeitsmigranten und fordert ein Ende der modernen Sklaverei. Wir sprachen mit ihm.
Schon lange vor Corona haben Sie auf die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen der osteuropäischen Schlachthof-Mitarbeiter hingewiesen. Wollte Ihnen niemand zuhören?
Ich bin nicht der erste und einzige, der seit Jahren auf die schlechten Lebensbedingungen in der Fleischindustrie aufmerksam macht. Diese sind lange von der Politik und von der Wirtschaft ignoriert worden. Ich glaube, dass Lobby-Interessen eine starke Rolle gespielt haben. Es wird von einigen sehr viel Geld damit verdient, auf diese Art und Weise Menschen auszubeuten. Andere wollen es nicht glauben, dass es in Deutschland, in einem Rechtsstaat, in einer sozialen Marktwirtschaft, so etwas gibt. Die Situation hat sich nicht wirklich verbessert. Das hat sicherlich damit zu tun, dass das Thema nur manchmal im Fokus stand. Jetzt, durch die Corona-Infektion von Westfleisch-Mitarbeitern, besteht die Möglichkeit, einen Systemwechsel herbeizuführen, weil die Empörung Gott sei Dank sehr groß ist.
In Haltern leben diese Arbeitskräfte schon seit längerer Zeit. Erst jetzt – durch die Corona-Infektionen bei Westfleisch – werden sie wahrgenommen. Warum schauen so viele Menschen einfach weg?
Es ist sicher so, dass ich in meiner bürgerlichen Welt gut darüber hinwegsehen kann. In Lengerich beispielsweise gibt es 23.000 Einwohner, allein 1100 sind aus Bulgarien und Rumänien. Viele davon sind prekär untergebracht und prekär beschäftigt. Sie leben in einer Parallelwelt, in einer Subkultur, wollen nicht auffallen und werden oft nicht wahrgenommen, weil sie unter den Lebens- und Arbeitsbedingungen auch am gesellschaftlichen Leben nicht teilnehmen können. Viele, wahrscheinlich die meisten, sprechen kein Deutsch und haben auch keine Zeit dazu, die Sprache zu lernen. Wenn man sechs Tage in der Woche zehn bis elf Stunden arbeitet, dann fehlt einfach die Möglichkeit dazu. Und dann ist man eben nicht Teil dieser Gesellschaft. So kann man als Bürger oder Nachbar gut darüber hinwegsehen, dass es diese Menschen in großer Zahl bei uns gibt.
Dürfen wir uns als hoch entwickelte Gesellschaft eine solche Ausbeutung überhaupt leisten?
Nein, wir dürfen uns diese Ausbeutung nicht leisten. Für das billige Fleisch oder die Wurst, die nur 89 Cent kosten darf und dann auf einem Weber-Grill für 2000 Euro gegrillt wird, dürfen wir nicht die Gesundheit und Würde dieser Arbeitsmigranten opfern. Faktisch geschieht das aber so. Man verkauft das noch als Win-Win-Situation, als wenn diese Menschen etwas davon haben. Weil sie hier ja angeblich so viel mehr verdienen und es ihnen hier so viel besser geht als zuhause. Das hat mir noch nie eingeleuchtet, warum Menschen aus Rumänien, Bulgarien oder Polen für die gleiche Arbeit so viel weniger verdienen sollen wie Menschen, die hier groß geworden sind. Dafür gibt es keine Begründung und auch keine Rechtfertigung.
Wenn die Politik nicht reagiert, muss sich dann nicht wenigstens die Kirche für mehr Gerechtigkeit positionieren?
Die Kirche muss sich engagieren und positionieren, das geschieht so wenig in den Gemeinden und in den Sozialverbänden wie KAB, Kolping oder Frauengemeinschaft. Insgesamt sind wir in der Kirche zu bürgerlich, um uns aufzuregen. Das ist ein grundsätzliches Problem. Nach meinem Verständnis von Christentum und Kirche haben wir die Aufgabe, anwaltschaftlich in der Gesellschaft zu wirken für die, die keine Lobby haben. Auch unter der Gefahr, dass wir denen, die viel Kirchensteuer zahlen, auf die Füße treten. Wir müssen Stachel im Fleisch sein.
Sind diese Lebensverhältnisse der Preis für unseren ungezügelten Konsum?
Die Lebensverhältnisse sind der Preis für den Billigkonsum. Damit Lebensmittel verramscht werden können, zahlen Arbeitsmigranten den Preis, die Bauern auch. Das ist ungerecht und das ist anzuklagen.
Das Ordnungsamt der Stadt Haltern hat sich mit Vorankündigung die Unterkunft der Westfleisch-Mitarbeiter in einer Wohnsiedlung angesehen. Statt der 20 Bewohner traf die Stadt nur noch 10 an, es gab keine Beanstandungen. Werden da auf die Schnelle Missstände bereinigt – bis zum nächsten Mal?
Das geschieht leider oft, mit dem Ergebnis wie in Haltern. Dass auf einmal alles in Ordnung zu sein scheint. So funktioniert das bis heute: Dass die Ämter sich nicht zuständig fühlen oder nach deren Auffassung keine Handhabe haben. Genau deshalb gibt es Schrottimmobilien, in denen die Arbeitsmigranten menschenunwürdig untergebracht sind. Mein Bruder ist Arzt. Er hat jeden Tag Patienten aus der Fleischindustrie und macht auch Hausbesuche. Er beschreibt sehr deutlich, was er dort sieht: Schlecht belüftete, kleine, menschenunwürdige Räume mit Schimmel an den Wänden. So etwas dürfen die Behörden nicht einfach zur Kenntnis nehmen mit dem Hinweis darauf, dass die Wohnung heilig ist, dass man dort nicht einfach eindringen kann. Wenn man will, kann man rechtlich einen Hebel ansetzen und die Grundlage schaffen, damit diese Missstände abgestellt werden.

Bis zu 20 Westfleisch-Mitarbeiter sollen in einem Haus in Haltern untergebracht gewesen sein. Bei einer Kontrolle der Stadt wurden allerdings nur zehn Betten und Bewohner angetroffen. © dpa
Wollen die Arbeitsmigranten überhaupt, dass ihnen geholfen wird, oder sind sie aus finanzieller Not mit der Missachtung aller Regeln einverstanden?
Sie nehmen durchaus wahr, dass sie durch ihre Lebens- und Arbeitssituation gedemütigt werden. Sie realisieren, dass sie ausgebeutet und betrogen werden, zum Beispiel um ihren Lohn, oder dass sie außerhalb der Sozialgesetzgebung und Arbeitsschutzrechte arbeiten. Sie sind häufig ratlos, wie sie sich wehren könnten. Viele resignieren und ergeben sich ihrer Situation, damit sie wenigstens ein bisschen Geld zu ihren Familien schicken können. Wenn alle Bedingungen stimmen würden, wären sie aktive, verantwortungsbewusste Mitbürger, die viele gute Dinge einzubringen haben, nicht nur ihre Arbeitskraft.
Peter Kossen und seine Ein-Man-Demo
Der katholische Sozialpfarrer und Menschenrechtler Peter Kossen hatte zuletzt große Aufmerksamkeit durch seine „Ein-Mann-Demo“ gegen die Arbeitsbedingungen in Fleischfabriken und Schlachthöfen erreicht. Fast drei Stunden lang stand er mit Schildern wie „Moderne Sklaverei beenden“ vor dem Werkstor von „Westfleisch“ in Coesfeld. Seit vielen Jahren macht er auf die für Arbeitsmigranten prekäre Situation aufmerksam, 2019 gründete der 52-Jährige den Verein „Aktion Würde und Gerechtigkeit“. Peter Vossen ist Leitender Pfarrer der katholischen Kirchengemeinde in Lengerich. Haltern am See ist für mich Heimat. Hier lebe ich gern und hier arbeite ich gern: Als Redakteurin interessieren mich die Menschen mit ihren spannenden Lebensgeschichten sowie ebenso das gesellschaftliche und politische Geschehen, das nicht nur um Haltern kreist, sondern vielfach auch weltwärts gerichtet ist.
