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Westfleisch und Co.: Ohne Osteuropäer kein Kilo Fleisch für 4,19 Euro
Schlachthöfe
Unter Schlachthof-Werkvertragsarbeitern macht sich das Coronavirus breit – ihre schäbigen Lebensumständen holen die Unternehmen nun ein. In Haltern leben rund 20 Mitarbeiter in einem Haus.
Die Arbeit in der Schlachtung ist buchstäblich ein Knochenjob, erledigt wird sie in ganz NRW von einem Heer osteuropäischer Werkvertragsarbeiter. Das ist auch bei Westfleisch an den Standorten Oer-Erkenschwick und Coesfeld der Fall. Dass aktuell gerade unter den auf engstem Raum lebenden Rumänen, Ungarn und Letten Sars-CoV-2 umgeht, beleuchtet wie ein Schlaglicht die Hintergründe industrieller Fleischproduktion. Jetzt hängt am Filet ein ganz anderer Strang – die Infektionskette.
Seit Jahren etwa gibt es Proteste gegen die Bedingungen, unten denen Osteuropäer hier wohnen und in den Schlachthöfen arbeiten, der katholische Priester Peter Kossen aus Lengerich gehört zu den beharrlichen Kritikern der Zustände.
„Der Vorfall in Coesfeld wird nur der Anfang sein“
Mit Bestürzung reagierten Sozialpfarrer Peter Kossen aus Lengerich und Michael Prinz, Diözesanpräses der Katholischen Arbeitnehmer Bewegung (KAB) im Bistum Münster, auf Coronavirus-Infektionen an den Westfleisch-Standorten Oer-Erkenschwick und Coesfeld und in weiteren Schlachthöfen.
Michael Prinz, vor Jahren Pfarrer in St. Michel in Recklinghausen-Hochlarmark: „Jetzt ist der ,GAU‘ eingetreten, den Pfarrer Peter Kossen schon zu Beginn der Pandemie angekündigt hat. Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Werkvertragsarbeiter in der Fleischindustrie laden gerade dazu ein, dem Virus eine rasante Verbreitung zu erlauben.“
Pfarrer Kossen engagiert sich seit fast zehn Jahren gegen die Ausbeutung von Arbeitsmigranten in der Fleischindustrie, prangert sie in Predigten bisweilen als „moderne Sklaverei“ an. 2019 hat er die Aktion „Würde und Gerechtigkeit“ mitgegründet – fern von Sozialromantik helfen Juristen und Ehrenamtliche Arbeitsmigranten zu ihrem Recht. Kossen warnt seit Wochen eindringlich vor einer massenweisen Corona-Infizierung osteuropäischer Arbeiter in Großbetrieben.
Angesichts prekärer Wohnverhältnisse und harter Arbeitsbedingungen in der Fleischindustrie befürchtet er schwere Verläufe der Erkrankung, beklagt Totalerschöpfung und mangelnden Arbeitsschutz. „Der Vorfall in Coesfeld wird nur der Anfang sein.“ Landesweit, so fordern KAB und Kossen, müssten Unterkünfte von Saisonarbeitern in Fleischindustrie und Landwirtschaft verstärkt überprüft und konsequent verbessert werden. Menschenwürdiges Leben und Arbeiten – ein Menschenrecht.
Über 70 Prozent Werkvertragsarbeiter in Oer-Erkenschschwick
In einem Offenen Brief an NRW-Minister Laumann findet Kossen klare Worte: „Wenn jetzt die Pandemie auf diese ausgelaugten, angeschlagenen und gedemütigten Menschen aus Ost- und Südosteuropa trifft, wird sie zahlreiche Opfer fordern. Migranten müssen davor beschützt werden, dass man sie noch mehr als bisher auspresst und verschleißt, um sie dann wie Maschinenschrott zu entsorgen.“
Dem Pfarrer und der von ihm gegründeten Aktion „Würde und Gerechtigkeit“ steht ein Industriekomplex gegenüber, in dem mit Zehntelcent gerechnet wird. Anders als mit dem Einsatz von Billiglohnkräften aus Sub- oder Sub-Subunternehmen sind für die Branche Sonderangebote von 4,19 Euro für das Kilo Schweinekotelett bei einem Discounter (Stand 8. Mai, griffiger Werbeslogan: „Echt billig“) nicht zu realisieren.
Um die Dimension zu verdeutlichen: In Coesfeld sind von 1200 Beschäftigten die Hälfte eigene Mitarbeiter. In Oer-Erkenschwick sind von 1850 Beschäftigten 1350 Werkvertragsarbeiter – zumeist aus Rumänien, Ungarn, Lettland. Wo sie alle mit ihren Familien unterkommen, sieht das Unternehmen Westfleisch nicht als seine Sache an.
Nun aber zwingt das Coronavirus genau diese Verhältnisse auf den Prüfstand: Insgesamt 128 Infektionsfälle seien so zusammengekommen, gut zwei Drittel der Betroffenen seien bereits wieder genesen, hatte Landrat Cay Süberkrüb erst am Dienstag noch bei einer Pressekonferenz des Kreises Recklinghausen erklärt. Alle Infizierten seien in einer von Westfleisch in Erkenschwick angemieteten Tagungsstätte untergebracht und isoliert. Das Ordnungsamt kontrolliere diese Maßnahmen regelmäßig.
Schrottimmobilien, in denen Menschen zusammengepfercht sind
Im Kreis RE wie auch im Kreis Coesfeld geht die Angst um, dass durch die Decke schießende Infektionszahlen zur Verschiebung von Lockerungen der Coronavirus-Beschränkungen führen. Man muss kein Meisterdetektiv sein, um im ganzen Kreis Recklinghausen Behausungen aufzuspüren, in denen Rumänen, Ungarn oder Letten leben. Bisweilen sind es nur wenige Personen, die inmitten von Wohnsiedlungen in unscheinbaren Mehrfamilienhäusern leben.
Und dann gibt es da noch die heruntergewohnten Bruchbuden, bisweilen regelrechte Schrottimmobilien, in denen Menschen auf Basis des gesetzlichen Minimums von neun Quadratmetern Wohnfläche je Bewohner zusammengepfercht sind. Dutzende von Namenszettelchen auf Klingelschildern und Briefkästen verraten solche Elendsbehausungen.
Die Bruchbuden an der Geschwister-Scholl-Straße in Recklinghausen-Hochlarmark, in denen über Jahre Menschen aus Osteuropa hausten, sind noch immer in der Nachbarschaft berüchtigt. Aktuell haben in der Hochhaussiedlung am „Grünen Platz“ in der ECA-Siedlung in Recklinghausen sozialschädliche Begleiterscheinungen der Unterbringung vieler Saisonarbeiter auf engstem Raum Anwohner-Proteste ausgelöst.
Marl, Haltern, Recklinghausen – das Internet wimmelt von vollmundig als „Monteurwohnung“ oder „Bauarbeiter-Appartement“ angepriesenen Angeboten in allen Städten des Kreises. Im Westen der Halterner Innenstadt etwa leben 20 Werkvertragsarbeiter, einer davon ist positiv getestet worden – die anderen negativ. Die Stadt steht in Kontakt mit Westfleisch.
Ein Angebotsbeispiel aus dem Westfleisch-Standort Oer-Erkenschwick zeigt, worüber man in der industriellen Fleischproduktion auch redet: Sechs Mietwohnungen à 80 Quadratmeter werden mit je sechs Menschen belegt, das ist zulässig. Preis pro Person und Nacht: 12,50 Euro (zulässig). Mindestlaufdauer: 12 Monate (zulässig). Macht nach einem Jahr überschlägig gut 160.000 Euro Umsatz. Und das ist eines der besseren Angebote, los geht es ab 5 Euro pro Person und Nacht. Beschreibung der Bausubstanz: keine.