Zürich toleriert Drogenhandel im Konsumraum und hat Erfolg Warum geht das in Dortmund nicht?

Drogenhandel in Konsumraum: Warum geht das nicht in Dortmund?
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Holger Keßling war im Ton freundlich, in der Sache aber eindeutig: Als der Leiter des Dortmunder Gesundheitsamts im Februar bei der Vorstellung des neuen Outdoor-Treffpunkts für die Drogenszene in der City gefragt wurde, was dort denn erlaubt sei, erwähnte er kurz das „Züricher Modell“, nur um schnell hinzuzufügen: „Aber hier wird kein Ameisenhandel geduldet und erst recht nicht gewünscht.“ Das gleiche gilt für Deutschlands größten Drogenkonsumraum, das „Café Kick“ auf der anderen Straßenseite.

„Ameisenhandel“ - so wird in Fachkreisen der Handel von geringen Mengen Drogen unter Schwerstabhängigen genannt. In Zürich wird diese Art von Mikrohandel in den drei Drogenkonsumräumen der Stadt unter strengen Auflagen toleriert. Laut dem Leiter der Züricher Konsumräume, Florian Meyer, ist diese Duldung ein Schlüssel für den Erfolg des „Züricher Modells“: „Sobald Städte den Mikrohandel in den Drogenkonsumeinrichtungen nicht tolerieren, hat man den Handel draußen. Dann gibt es eine Sogwirkung aus dem Umland.“

Vor etwas mehr als 30 Jahren war Zürich ein Drogen-Moloch: In einem Park im Herzen der reichen schweizerischen Metropole gab es die größte offene Drogenszene Europas. Zeitweise setzten sich dort mehrere Tausend Süchtige pro Tag ihren Schuss. Durchschnittlich gab es mehr als einen Drogentoten pro Woche.

Von all dem ist heute nichts mehr zu sehen: In der größten Stadt der Schweiz gibt es mittlerweile keine nennenswerte offene Drogenszene mehr. Dabei ist die Szene nicht verschwunden, im Gegenteil: Sie besteht immer noch aus rund 1000 Süchtigen - doch die konsumieren ihre Drogen nur noch in den Drogenkonsumräumen.

Der Leiter der Züricher Drogenkonsumräume Florian Meyer in einer seiner Einrichtungen, der „Kontakt- und Anlaufstelle Selnau“
Der Leiter der Züricher Drogenkonsumräume Florian Meyer in einer seiner Einrichtungen, der „Kontakt- und Anlaufstelle Selnau“: Die Tolerierung des Mikrohandels ist für ihn einer der Schlüssel zum Erfolg des „Züricher Modells“. © Jonathan Labusch (Archiv)

Das liegt an einem durchdachten Zusammenspiel aus einer harten Null-Toleranz-Politik in öffentlichen Räumen und einem sehr gut ausgebauten und liberalen Drogenhilfesystem, das sich seit den 1990er-Jahren in Zürich entwickelt hat. Inzwischen suchen Weltstädte wie San Francisco und New York bei ihren Problemen mit Drogensüchtigen Rat in der Stadt am Rand der Alpen.

Auch als die Dortmunder Politik 2023 ein umfassendes Maßnahmenpaket zur Bewältigung ihrer Crack-Krise beschloss, atmeten viele Punkte den Züricher Geist: die Prüfung weiterer Standorte für Drogenkonsumräume, der Ausbau der Straßensozialarbeit, der erhöhte Kontrolldruck gegen Drogenkonsumenten in der Öffentlichkeit.

Tolerierung ist für deutsche Akteure undenkbar

Eine Tolerierung des Mikrohandels im Dortmunder Drogenkonsumraum „Café Kick“ hingegen ist bisher für alle beteiligten Akteure in Dortmund undenkbar: Die Erfolge des „Züricher Modells“ seien zwar „nicht von der Hand zu weisen“, schreibt die Stadt Dortmund. „Jedoch muss das geltende Recht durch die Polizei umgesetzt werden. Und dieses sieht aktuell keinen Spielraum vor.“ Daher gebe es keine Pläne, so etwas in Dortmund - und sei es nur versuchsweise - einzuführen.

Die Dortmunder Polizei stellte bereits Anfang 2024 zu dem Thema klar: „Über einen sogenannten Mikrohandel mit Betäubungsmitteln in einem geschlossenen Raum/Ort dürften wir, anders als im Züricher Modell, nicht hinwegsehen.“ Man unterliege schließlich dem Strafverfolgungszwang.

Und Willehad Rensmann, der Geschäftsführer der Aidshilfe Dortmund, die den Drogenkonsumraum in der City betreibt, sagte Ende 2023, ihm fehle „die Fantasie, dass das auf lokaler Ebene vernünftig verhandelbar ist“. Er habe die Verpflichtung seinen Mitarbeitern gegenüber, dass sie sich nicht wegen ihrer Arbeit strafbar machen müssen. Um das zu ändern, müsse wohl erst das Betäubungsmittelgesetz geändert werden.

In das gleiche Horn bläst auch das NRW-Innenministerium: „Zur Umsetzung des ‚Züricher Modells‘ wäre eine Gesetzesänderung der Strafprozessordnung auf Bundesebene, eine Änderung der Verordnung über den Betrieb von Drogenkonsumräumen und eine Änderung der Kooperationsvereinbarungen [zwischen den Trägern der Drogenkonsumräume, der jeweiligen Kommune, der zuständigen Staatsanwaltschaft und der zuständigen Kreispolizeibehörde] notwendig“, schreibt ein Sprecher auf Anfrage unserer Redaktion.

Jurist: „Die Schweizer Behörden sehen da mehr Gestaltungsspielraum“

Von deutscher Seite scheint die Sache also klar: Tolerierung von Mikrohandel? Keine Chance, nicht machbar! Doch wenn man sich in der Sache in der Schweiz umhört, gerät diese Gewissheit etwas ins Wanken.

„Der rechtliche Rahmen in der Schweiz ist vergleichbar mit jenem in Deutschland“, antwortet Thierry Urwyler, Juniorprofessor für Strafrecht an der renommierten Uni Zürich, wenn man ihn fragt, ob es Unterschiede gibt zwischen dem Strafverfolgungszwang der Polizei in beiden Ländern. „Die Schweizer Behörden sehen da anscheinend mehr Gestaltungsspielraum als ihre deutschen Kollegen.“

Ein Beamter der Stadtpolizei Zürich im Einsatz
Ein Beamter der Stadtpolizei Zürich im Einsatz: Die Behörde toleriert indirekt den Ameisenhandel unter Drogenabhängigen in den Konsumräumen der Stadt. © Stadtpolizei Zürich

Das gibt man dort auf Anfrage ganz offen zu: „Die Behörden bewegen sich in einer gewissen rechtlichen Grauzone“, erklärt Michael Walker von der Stadtpolizei Zürich. „Die Angestellten [der Drogenkonsumräume] sind nicht verpflichtet, bei entsprechenden Anhaltspunkten, Feststellungen oder Verdachtslagen Strafanzeige zu erstatten bzw. die Polizei beizuziehen.“

Das gelte aber nur, wenn beim Mikrohandel strikte Regeln eingehalten werden: Er darf nur in einem bestimmten Raucherraum stattfinden und er muss diskret sein. „Wir wollen keine Geldscheine sehen, keine Waagen“, sagt Konsumraum-Chef Meyer.

Wo kein Kläger, da kein Richter

Die Züricher Polizei wiederum toleriere den Mikrohandel „nur indirekt, indem sie keine aktive (Drogenfahndungs-)Präsenz in den Einrichtungen zeigt und nicht proaktiv nach solchen Kleinstdealer-Konsumierenden fahndet“, so Polizeisprecher Walker.

Das Ganze wirkt wie die schweizerische Version des Sprichworts: „Wo kein Kläger, da kein Richter.“

Ein wackliges Konstrukt, findet der Züricher Strafrechtler Urwyler: „Es handelt sich bei diesem Modell um eine Grauzone, die zu einer rechtlichen Verantwortungsverlagerung an die Leute an der Front führt.“

Eine rechtliche Grundlage gebe es für die Tolerierung genauso wenig wie in Deutschland. „Es wäre eigentlich schlauer, die Tolerierung von Ameisenhandel mit einer expliziten Rechtsgrundlage zu verankern. So hätten alle Fachpersonen Handlungssicherheit.“

„Die entsprechende Rechtslage ist nicht vollständig geklärt“, räumt Polizeisprecher Walker ein. „Dieses pragmatische Vorgehen ist aber langjährig etabliert und politisch quer durch die Parteien breit abgestützt.“

Der Journalist David Sarasin berichtet seit Jahren über die Zürcher Drogenpolitik
Der Journalist David Sarasin berichtet seit Jahren über die Züricher Drogenpolitik: „Kritik daran ist oft wirkungslos, weil der Erfolg des Modells zu offensichtlich ist.“ © Fabienne Andreoli

Es ist eine überraschende Haltung für ein Land wie die Schweiz, das gemeinhin als sehr ordnungsliebend gilt. Einen Aufschrei in der Züricher Stadtgesellschaft löse das institutionalisierte Wegschauen der Behörden aber schon lange nicht mehr aus, sagte Ende 2023 der Züricher Journalist David Sarasin, ein langjähriger Beobachter der Drogenpolitik seiner Stadt: „Kritik daran ist oft wirkungslos, weil der Erfolg des Modells zu offensichtlich ist.“

Fragt man die Züricher Polizei, was sie ihren Dortmunder Kollegen raten würde im Umgang mit der Drogenszene, nennt sie neben einer engen Vernetzung mit allen relevanten Behörden (was in Dortmund durch einen Sonderstab bereits geschieht) auch ein „Ausloten des politischen und rechtlichen Handlungsspielraums mit Regierung (lokal, Bundesland, Justiz- und Polizeiverantwortliche) und Staatsanwaltschaft“.

Drogenkonsum und -handel sind „gesellschaftliche Realität“

Dann werden die schweizerischen Ordnungshüter sehr grundsätzlich: Der Drogenkonsum und -handel seien „eine gesellschaftliche Realität“, die nicht mehr verschwinden werde. Aber: „Bis zu einem gewissen Maß steuern lässt sich, wo diese stattfinden.“

Zürich wollte nach den albtraumhaften Erfahrungen mit seiner offenen Drogenszene in den 1980er- und 1990er-Jahren unbedingt verhindern, dass es erneut zu „offenen, unkontrollierten Szenen im öffentlichen Raum“ kommt. „Das gelingt recht gut, bedingt aber auch gewisse Kompromisse.“

Die Züricher Polizei schließt ihren Rat an die Kollegen mit einem weiteren für eine Ordnungsbehörde bemerkenswerten Gedanken: „Das Klammern an zum Teil unrealistischen dogmatischen Ansätzen anstatt eines evidenzbasierten Vorgehens ist oft nicht zielführend.“ Doch dafür müsse der Polizei „ein gewisser Handlungs- und Ermessenspielraum“ eingeräumt werden, der von einem „breit abgestützten Konsens“ abgesichert sein muss.

Es hört sich erneut wie die schweizerische Version eines Sprichworts an, dieses Mal von diesem: Wo ein (politischer) Wille ist, ist auch ein Weg.