Was für ein großes Thema die Crack-Krise in Dortmund mittlerweile ist, sah man Ende Oktober in den Westfalenhallen: Fast vier Stunden lang diskutierten Politiker, Experten und Händler in einer Mammut-Sitzung des Sozial- und des Bürgerdienste-Ausschusses von Dortmunds Rat über die Drogenszene in der Innenstadt.
Dabei fiel immer wieder der Name einer Stadt: Zürich. Egal ob es Thier-Galerie-Chef Torben Seifert war oder ein eigens aus Frankfurt zugeschalteter Suchtforscher - die Drogenpolitik der Schweizer Metropole wurde mehrfach als leuchtendes Beispiel für einen Weg aus der Drogen-Krise angeführt.
Tatsächlich sind die Erfolge der größten Stadt der Eidgenossenschaft im Kampf gegen ihre offene Drogenszene beeindruckend. In den 1980er- und 1990er-Jahren war Zürich noch ein Drogen-Moloch: Im Platzspitz-Park und später auf einem stillgelegten Bahnhof gab es mitten in seinem Zentrum die größte offene Drogenszene Europas. Zeitweise setzten sich dort mehrere Tausend Süchtige pro Tag ihren Schuss. Durchschnittlich gab es mehr als einen Drogentoten pro Woche.
Heute hingegen sind die Süchtigen weitestgehend aus dem Stadtbild verschwunden. Eine nennenswerte offene Drogenszene existiert nicht mehr. Weltstädte wie San Francisco und New York suchen bei ihren Problemen mit Drogensüchtigen Rat in der Stadt am Rand der Alpen.
Wie hat Zürich das geschafft? Und taugt der Weg auch als Vorbild für Dortmund?

Florian Meyer ist für diese Fragen ein guter Ansprechpartner. Der 43-Jährige hat als Leiter der drei Zürcher Drogenkonsumräume jeden Tag Kontakt mit der Szene in der Stadt.
Den Grundsatz des „Zürcher Modells“ beschreibt Meyer in einem Satz: „Draußen gilt Null Toleranz, drinnen ist ein sicherer Hafen.“ Mit „drinnen“ meint er die „Kontakt- und Anlaufstellen“ (K&A), wie die Drogenkonsumräume in Zürich genannt werden.
„Bedürfnisse der Klientel maximal berücksichtigen“
Ihr Name macht deutlich, dass die K&A mehr sind als nur Orte, in denen Drogen genommen werden. „Die Bedürfnisse der Klientel müssen maximal berücksichtigt werden“, sagt Meyer. „Wichtig ist, dass dort mehr passiert als nur der Konsum.“
Sie verfügen über Aufenthaltsräume, es gibt Essen und Getränke, medizinische und sozialarbeiterische Betreuung, niederschwellige Arbeitsangebote und Beratungsmöglichkeiten für Therapien. „Wir haben die Leute drinnen und bieten ihnen alles“, sagt Meyer.

Nach Angaben der Stadt Zürich nutzen rund 1000 Drogenabhängige täglich dieses Angebot. Ihnen stehen in den drei K&A mehrere Räume mit insgesamt 88 Plätzen zur Verfügung, in denen sie Drogen in einer hygienischen Umgebung nehmen können (zum Vergleich: In Dortmunds Drogenhilfeeinrichtung „Café Kick“ in der Martinstraße gibt es 23 solcher Plätze).
Die Aufteilung des Drogenkonsum-Angebots auf drei Standorte sei dabei sehr wichtig, sagt Meyer. „Eine Anlaufstelle alleine würde das Umfeld zu stark belasten.“ So habe sich in Zürich ein sozialverträglicher Kreislauf entwickelt: „Die Drogenszene in Zürich wandert über den Tag von einer Kontakt- und Anlaufstelle zur nächsten.“
„Dezentralisierung“ heißt nicht zentrumsfern
Das Schlagwort „Dezentralisierung“ bedeutet für Meyer jedoch etwas anderes als für einige der Dortmunder Befürworter des „Zürcher Modells“. Während es in Dortmund eine große Diskussion über die Zukunft des zentralen Standorts des Drogenkonsumraums „Café Kick“ in der City gibt, gehören für den Zürcher K&A-Chef solche Einrichtungen selbstverständlich ins Stadtzentrum: „Die Anlaufstellen müssen zentral liegen, in der Nähe der Szene.“
Deshalb befinden sich zwei der drei Zürcher K&A mitten im Herzen der Stadt, nur wenige hundert Meter Luftlinie entfernt von der Bahnhofsstraße, Zürichs Luxus-Äquivalent zum Westenhellweg, und die dritte im zentrumsnahen Stadtteil Oerlikon, von der Lage und Bedeutung übertragen auf Dortmund vergleichbar mit Hörde.

Dass zentrumsferne Drogenkonsumräume, wie sie manchem „Café Kick“-Kritiker vielleicht in Scharnhorst oder Lütgendortmund vorschweben, nichts bringen, erlebte Zürich dieses Jahr auf schmerzliche Weise: Nachdem eine der beiden K&A im Zentrum geschlossen worden war, weil die alte Kaserne, in der sie untergebracht war, kernsaniert wird, bildete sich in einem nahen Park zum ersten Mal seit der Jahrtausendwende wieder eine (kleine) offene Drogenszene.
Die Ausweich-Anlaufstelle für die geschlossene K&A, welche im Süden Zürichs eingerichtet worden war, wurde nicht angenommen, weil sie zu abgelegen war. Die Stadt steuerte gegen: Nun eröffnet in diesen Tagen eine neue provisorische K&A in unmittelbarer Nähe des alten Standorts auf dem Kasernengelände.
Enormer Personalaufwand
Der Personalaufwand, den Zürich betreibt, um keine dauerhafte offene Drogenszene mehr entstehen zu lassen, ist enorm: In den drei K&A arbeiten 80 Mitarbeiter auf 40 Vollzeitstellen.
Nochmal so viele Stellen hat der Sozialarbeiter-Außendienst SIP (Sicherheit, Intervention, Prävention), dessen 60 Mitarbeiter in Uniform auf den Straßen der Stadt unterwegs sind. Sie vermitteln unter anderem bei Konflikten zu Drogenkonsum im öffentlichen Raum, bieten Krisenberatung an und weisen auf Hilfsangebote und die K&A hin. Rund 10,7 Millionen Euro gibt die Stadt Zürich für K&A und SIP jedes Jahr aus.
Dortmund hat bedeutend kleinere Drogenszene
Von diesen Zahlen ist Dortmund entfernt. Im „Café Kick“ an der Martinstraße im Schatten der Thier-Galerie arbeiten 54 Mitarbeiter auf 33 Vollzeitstellen, im „Außendienst“ sind lediglich zwei Sozialarbeiter tätig, zwei weitere Stellen wurden jüngst bewilligt. Laut Aidshilfe wird das Budget der Einrichtung für dieses Jahr gut 2 Millionen Euro betragen.
Auch wenn der Vergleich mit Zürich in diesem Punkt etwas hinkt. So gibt es in Dortmund 300 bis 500 Suchtkranke in der offenen Drogenszene - so die Schätzung des Café-Kick-Betreibers, der Aidshilfe Dortmund. Das sind bedeutend weniger Betroffene als in Zürich.
Zürich lässt Mikro-Handel zu
Viel entscheidender ist ein anderer Unterschied: die Tolerierung des so genannten „Ameisen-Handels“. In Zürichs Kontakt- und Anlaufstellen wird zugelassen, dass die Schwerstabhängigen untereinander Kleinstmengen Drogen dealen. „Der Mikro-Handel ist ein Graubereich, er wird geduldet, wenn er diskret ist – wir wollen keine Geldscheine sehen, keine Waagen“, sagt K&A-Chef Florian Meyer.
Das ist zwar von Gesetzes wegen illegal, aber: „Das ist der pragmatische Weg, den Zürich geht. So steuern wir die Szene“, erklärt Meyer. Ohne den Ameisen-Handel in den Einrichtungen hätte man einen bedeutend größeren auf der Straße - und bald wieder eine offene Drogenszene: „Dann gibt es eine Sogwirkung aus dem Umland.“
Kritik am Zürcher Modell „ist oft wirkungslos“
Einen Aufschrei, dass in staatlich finanzierten Einrichtungen mit Drogen gehandelt wird, gibt es in der Stadtgesellschaft nicht, sagt der Schweizer Journalist David Sarasin: „Kritik daran ist oft wirkungslos, weil der Erfolg des Modells zu offensichtlich ist.“
Der 45-Jährige schreibt seit über zehn Jahren für den Zürcher Tages-Anzeiger, eine der großen Schweizer Zeitungen. „Insgesamt ist man froh, dass man keine offene Drogenszene mehr hat“, beschreibt Sarasin die Stimmung in der Stadt. „Es gibt viele Zürcher, die gar nicht wissen, dass Zürich jeden Tag 1000 Süchtige versorgt.“ Das sei der größte Erfolg des Zürcher Modells.

Und die Zürcher Polizei? Sieht weg, ganz bewusst. „Der absolute Schlüssel des ganzen Systems ist die Zusammenarbeit zwischen der Polizei und den Einrichtungen. Dazu gehört, dass der Mikrohandel zwischen Abhängigen innerhalb der Einrichtungen toleriert wird.“
Es sei ein langer Weg gewesen und ein Prozess, der nie aufhört, aber mittlerweile sei die Zürcher Polizei ein erklärter Fürsprecher der städtischen Drogenpolitik. Als im Sommer die K&A auf dem Kasernengelände im Zürcher Zentrum schließen musste, habe die Polizei offensiv für einen Alternativstandort an der gleichen Stelle lobbyiert.
„Früher hat die Polizei vor den Einrichtungen kontrolliert“, erinnert sich Meyer. „Heute schulen wir alle Polizeischüler, das ist extrem wertvoll. Sie verbringen während ihrer Ausbildung auch einen Tag bei uns in den Einrichtungen.“ Der Erfahrungsaustausch sei dabei keine Einbahnstraße. Er sei immer mal wieder als Gast mit unterwegs auf Polizei-Streifen, sagt Meyer.
Café-Kick-Betreiber „fehlt die Fantasie“
Könnte es auch in Dortmund einen von den Behörden tolerierten Ameisen-Handel geben? Entsprechende Anfragen unserer Redaktion an Stadt und Polizei blieben bis zum Redaktionsschluss dieses Artikels unbeantwortet.
Willehad Rensmann, Geschäftsführer des Café-Kick-Betreibers Aidshilfe, reagierte hingegen. Auch wenn die Zusammenarbeit des „Café Kick“ mit der Stadt und der Polizei eine gute sei - ihm „fehlt die Fantasie, dass das auf lokaler Ebene vernünftig verhandelbar ist“.
Die Polizei habe eine Strafverfolgungspflicht bei Drogenhandel, sagt Rensmann, und er habe die Verpflichtung seinen Mitarbeitern gegenüber, dass sie sich nicht wegen ihrer Arbeit strafbar machen müssen. Um das zu ändern, müsse wohl erst das Betäubungsmittelgesetz geändert werden.

2000 Platzverweise seit Juli
Abseits des Mikro-Handels sieht Rensmann gar nicht so große Unterschiede zwischen der Dortmunder Drogenpolitik und jener in Zürich. „Das ist meiner Meinung nach nicht anders als unser Modell.“ Es werde vielleicht nur etwas konsequenter umgesetzt.
Teil dieser Strategie ist auch eine Null-Toleranz-Politik gegen Drogenkonsum und -handel im öffentlichen Raum. Ein Weg, den Dortmunds Ordnungsamt und Polizei schon lange eingeschlagen haben. Sie gehen seit dem Sommer wieder verstärkt gegen die offene Drogenszene in Dortmunds Innenstadt vor. Die Polizei sprach zuletzt von etwa 2000 Platzverweisen, die sie seit Juli bis in den November hinein gegen Drogenabhängige und aggressive Bettler ausgesprochen habe.
Hoffnung auf längere Öffnungszeiten
Doch Kontroll-Druck allein werde das Problem nicht lösen, sagt Rensmann. Das sieht auch sein Zürcher Kollege Florian Meyer so: „Repression allein führt nicht zu einer Verdrängung aus dem öffentlichen Raum. Man muss immer schauen, dass man die Leute irgendwohin verdrängen kann. Bei uns sind das die K&A.“
In Zürich haben die K&A immer von 7.30 Uhr bis 21.30 Uhr geöffnet. Soweit ist Dortmund zwar noch nicht - aber immerhin konnte das „Café Kick“ seit dem 1. November seine Öffnungszeiten deutlich erweitern. Die Drogenkonsumeinrichtung hat nun an den meisten Tagen von 8 Uhr bis 20 Uhr geöffnet. Rensmann hofft, dass das Druck vom öffentlichen Raum nimmt.

Nachholbedarf sieht der Café-Kick-Betreiber hingegen beim Drogenkonsumraum selbst. „Unsere Kapazitäten reichen für Crack nicht aus“, sagt Rensmann. Während der Konsum in Dortmund erst vor wenigen Jahren anzog, erwischte die erste Crack-Welle Zürich bereits kurz nach der Jahrtausendwende. „Wir haben 20 Jahre Erfahrung mit Crack“, sagt Meyer. In Zürichs K&A gibt es fast 60 Plätze für Crack-Konsum.
Bei drei Viertel der monatlichen 28.000 Konsumvorgänge in den K&A werde inzwischen Crack oder die verwandte Droge Freebase konsumiert. In Dortmund (Konsumvorgänge insgesamt im Oktober 2023: knapp 6600) liegt der Crack-Anteil erst bei 30 Prozent.
Taugt Zürich nun als Vorbild für Dortmund? Solange ein Mikro-Drogenhandel im „Café Kick“ nicht möglich ist, lautet die Antwort: nur bedingt. „Patentrezepte sehe ich nicht“, sagte auch Dortmunds Sozialdezernentin Birgit Zoerner in der Mammut-Sitzung Ende Oktober. „Das wird ein mühsamer Weg, auf den man sich begeben muss.“
Der erste Schritt ist gegangen: Das in der Mammut-Sitzung vereinbarte Maßnahmen-Paket wurde am 8. November im Rat beschlossen. Viele seiner Vorschläge (null Toleranz gegen öffentlichen Drogenkonsum, Ausbau der aufsuchenden Sozialarbeit, weitere Vernetzung sozialer, medizinischer und ordnender Maßnahmen) atmen den Zürcher Geist.
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