Die Dortmunder Neonazi-Szene gilt desorientierten Jugendlichen als attraktiv. Ein Projekt will den Ausstieg vor dem Einstieg. Eltern, Lehrer und Betroffene erhalten Hilfe. Ein Interview.

Dortmund

, 11.12.2018, 17:33 Uhr / Lesedauer: 5 min

Sie bieten kameradschaftliche Akzeptanz und Aggressionen ein Ventil: Dortmunder Neonazis rekrutieren ihren Nachwuchs nicht mit Freibier, sondern mit Respekt. Im Interview mit Redakteur Peter Bandermann erklärt der Sozialwissenschaftler Lukas Schneider, warum die Dortmunder Neonazi-Szene derzeit als attraktiv gilt für – einzelne – Jugendliche und junge Erwachsene. Lukas Schneider arbeitet bei Coba-Yana. Ein Projekt, das früh ansetzt und den Einstieg in die Szene verhindern soll.

Herr Schneider, die Dortmunder Szene bekennt sich klar zum Nationalsozialismus. Warum steigt ein junger Mensch bei einem rechtsradikalen Schlägertrupp ein, dessen Ideologie gesellschaftlich geächtet ist und der stets mit Razzien, Anklagen und Haft rechnen muss?

Es gibt viele Gründe und es kommt immer individuell auf diese eine Person an. Anschlussfähigkeit besteht grundsätzlich dann, wenn Jugendliche gravierende Probleme haben und in den eigenen sozialen Gruppen nicht klarkommen. Über niedrigschwellige soziale Akzeptanz finden sie schnell einen Einstieg in die Szene. Da reicht es schon, zu Aggressionen zu neigen und ein Gewaltproblem zu haben, denn diese Eigenschaften bewertet die Szene positiv.

Wo ist der soziale Mehrwert, wenn sich ein junger Mensch ausgerechnet dieser Szene anschließt?

Mit Rechtsrockkonzerten, Demonstrationen, Katz- und Maus-Spielen mit der Polizei und politischen Gegnern bietet sie auch eine umfangreiche Erlebniswelt an, in der viel Anerkennung aufgebaut werden kann. Jugendliche, die vorher am Rand gestanden haben, erfahren Zugehörigkeit durch Provokation und Polarisierung. Sie erhalten zwar negative Aufmerksamkeit, aber auch das ist Aufmerksamkeit. Was draußen als negativ aufgefasst wird, ist in der Szene positiv. Diese negative Aufmerksamkeit zeigt jungen Menschen: Ich bin wer, ich besitze Stärke. Sie werden wahrgenommen als Akteure, die etwas vermeintlich Größeres verfolgen und vor denen man Angst haben muss. Selbst wenn diese Jugendlichen politisch nicht überzeugt sind, so finden sie schnell Anschluss. Die Dortmunder Szene besitzt bundesweit einen hohen Stellenwert und ist international gut vernetzt. Sie bietet Fahrten nach Bulgarien und Griechenland an. Wer dabei ist, kann glänzen und sagen: Ich gehöre zu Dortmund.

„Wir hängen nicht nur Plakate“: Eine Provokation, die auf die Lynchjustiz der Wehrmacht anspielt - und darauf abzielt, Aufmerksamkeit zu erhaschen.

„Wir hängen nicht nur Plakate“: Eine Provokation, die auf die Lynchjustiz der Wehrmacht anspielt - und darauf abzielt, Aufmerksamkeit zu erhaschen. © Peter Bandermann

Bei einem Treffen der Bundesarbeitsgemeinschaft „Einstieg zum Ausstieg“ im Oktober in Berlin wurde der Stellenwert der Dortmunder Neonazi-Szene bundesweit beschrieben: Sie soll eine Kaderschmiede sein. Wie kommt diese Einschätzung zustande?

Zum Beispiel die Selbstinszenierung zu einem Nazi-Kiez. Man gibt sich einen soziokulturellen Rahmen, was eigentlich immer linke Szenen attraktiv gemacht hat, und produziert prägnante Bilder. Wer als Neonazi nach Dortmund zieht, hat die Vorstellung, in der Großstadt eine eigene Subkultur vorzufinden. Mehrere Leute aus der Szene wohnen auf engem Raum, die Wege sind kurz. Es gibt eigene Immobilien, der Umzug nach Dortmund ist also nicht mit den üblichen Problemen bei der Wohnungssuche verbunden. Ich bekomme, was ich mir leisten kann. Gleichzeitig gibt es klare Arbeitsstrukturen. Man kann mitarbeiten, teilhaben und Erfahrung im Aktionismus sammeln. Da gibt es viele wichtige Arbeitsschritte hinter den Kulissen, was das Vernetzen und auch die Ökonomie angeht: Der Handel mit Musik und Nazi-Devotionalien ist lukrativ. Es gibt also Strukturen, die man wie in einem Praktikum durchlaufen kann. Dazu Konzerte, Kameradschaft und politische Vorträge. Man kann mit den führenden Köpfen sprechen und am Ende als Fachkraft aus der Kaderschmiede in die eigene Szene zurückkehren. Das haben andere Städte nicht zu bieten.

Welches Verhältnis besteht zwischen dieser Szene und Medien?

Das ist ein ambivalentes Verhältnis. Einerseits spielen sie gerne mit den Medien und sind stark auf sie ausgerichtet, wenn es darum geht, die Nazi-Kiez-Geschichten von Dorstfeld zu produzieren und sich selbst zu inszenieren. Die bei einer Demonstration gerufene Parole „Wer Deutschland liebt, ist Antisemit“ hat es mit nur einem Eintrag bei Twitter bis in die Tagesschau geschafft. Darauf ist die Nazi-Szene stolz. Medien schaffen Aufmerksamkeit, egal, was drin steht. Andererseits gefällt es nicht, wenn Medien über die Aktionen der Zivilgesellschaft berichten oder Repressionen folgen. Sachliche Berichterstattung muss überregional einordnen: Dortmund ist nicht die Stadt der Nazis, sondern eine sehr vielfältige Stadt.

Rechtsextremisten haben in Marten versucht, ein Klima der Angst aufzubauen. Die Polizei hat eine Person festgenommen und bei zwei Personen Gefährderansprachen gehalten. Wie ist die Lage in Marten?

In Marten kommt die Zivilgesellschaft aus den Löchern, die Menschen trauen sich, darüber zu reden. Die Probleme sind nicht in einem halben Jahr aus dem Weg zu schaffen. Die Ergebnisse werden wir in den nächsten Jahren sehen. Viele Menschen engagieren sich, sie leisten viel Laufarbeit und machen sich auch nicht immer beliebt, wenn sie davor warnen, dass aus Marten ein Dorstfeld werden kann.


Neonazi-Kundgebung in Dortmund: „Wer dabei ist, kann glänzen und sagen: Ich gehöre zu Dortmund.

Neonazi-Kundgebung in Dortmund: „Wer dabei ist, kann glänzen und sagen: Ich gehöre zu Dortmund. © Peter Bandermann

Sie wollen den Einstieg in die Szene verhindern, weil ein späterer Ausstieg viel komplizierter ist. Wie gehen Sie in Dortmund vor?

Wir müssen die Orte kennen, an denen ein Einstieg möglich ist, und den Kontakt zu den jungen Menschen finden, die einsteigen könnten.

Wie alt sind diese Menschen?

Unsere Arbeit beginnt derzeit bei 13-Jährigen und endet bei 27-Jährigen.

Wie funktioniert ein Einstieg?

Wie bei den meisten Sekten: Der Einstieg ist sehr freundlich, es gibt eine schöne Willkommenskultur. Wenn Sie so leicht eingeführt werden, ist das noch ganz angenehm. Das Bild wandelt sich dann schnell: Gewalt gibt es auch in der Szene. Dann herrscht der Druck, sich beweisen zu müssen. In der angeblich attraktiven Alternative wird man schnell mit seinen alten Problemen konfrontiert und steht schnell wieder am Rand, denn es gilt das Recht des Stärkeren. Ein Vorstandsmitglied der Partei „Die Rechte“ hat einen jungen Mann mit einer körperlichen Einschränkung als „unwertes Leben“ bezeichnet. Die Szene verdoppelt die Probleme eines Menschen. Wer da rauskommen will, leidet unter dem Stigma, ein Nazi zu sein. Es besteht die Gefahr, in diesen Sektenstrukturen völlig unterzugehen.

Was bietet die Szene einem jungen Menschen, der in Schule, Freizeit und Familie von Problemen umzingelt ist?

Er kann sich zugehörig fühlen zu einer größeren Gruppe, die fest davon überzeugt ist, ermächtigt zu sein, als Avantgarde das ausführende Organ einer größeren Bewegung zu sein. Man ist Teil einer Bewegung mit einem Erlösungsgedanken. Bevor wir gewinnen, muss jeder wollen, was wir wollen, denn es ist das Beste für alle. Man gibt vor, denen einen Schritt voraus zu sein, die noch im Dunkeln tappen.

Wann erkennen Sie eine Einstiegs-Gefahr?
Wir müssen ins Gespräch kommen, wenn sich ein junger Menschen in den eigenen sozialen Gruppen nicht mehr zurechtfindet, zu Aggressionen und Gewalt neigt und wenn durch die Lage vor Ort die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass er den Einstieg in die Nazi-Szene findet.

Dortmunds Nazis lösen menschliche Probleme nicht. Sie verstärken sie und schaffen neue.

Deshalb müssen wir andere Perspektiven entwickeln und über andere Ziele sprechen, also über Schulabschlüsse oder Ausbildungsplätze, denn Jugendliche mit schlechten Perspektiven haben keine Vorstellungen von ihrem Leben als Erwachsene. Wir müssen Hilfe bieten, die sich an den Alltagsproblemen orientiert, und Lösungen in einem sozialen Umfeld finden, in dem diese Person gut aufgehoben ist.

Wie erfolgreich arbeitet das Projekt?

Wir haben bereits mit jungen Menschen gearbeitet, die dann nicht in die Szene eingestiegen sind. Wir konnten gemeinsam bessere Perspektiven fürs Leben entwickeln. Anders als bei der Ausstiegs-Beratung sind Erfolge bei der Verhinderung eines Einstiegs nicht genau messbar.

Was bedeutet es für Eltern, wen sich das Kind entscheidet: Ich bin ein Nazi.

Ein Einstieg in eine Neonazi-Szene kann bei Eltern eine große Krise auslösen. Sie fragen sich, was sie getan haben, dass es so weit kommen konnte, und wie sie damit umgehen müssen. Sie werden konfrontiert mit einem Personenkreis, der ihnen zutiefst zuwider ist. Sie hören und spüren in der Nachbarschaft Sätze wie „dein Kind ist ein Nazi“ oder „das ist die Nazi-Familie“. Einerseits haben Eltern eine starke emotionale Bindung. Andererseits hat sich das radikalisierte Kind völlig entfremdet. Das auszuhalten ist für Eltern enorm schwierig.


Neonazi-Kundgebung in Dortmund: „Wer dabei ist, kann glänzen und sagen: Ich gehöre zu Dortmund.“

Neonazi-Kundgebung in Dortmund: „Wer dabei ist, kann glänzen und sagen: Ich gehöre zu Dortmund.“ © Peter Bandermann

Was raten Sie Eltern?

Dass sie den Kontakt aufrecht erhalten, soweit das möglich ist. Sie sollten dem Kind signalisieren, dass sie es nicht aufgegeben haben. Auch wenn ein junger Mensch in dieser abgeschotteten Subkultur lebt: Es muss einen guten Kontakt nach außen geben. Das ist wichtig, wenn es eine Rückkehr geben kann. Jugendliche sollen zu Hause aber auch eine andere Meinung hören. Eltern sollten klar ihren Standpunkt vermitteln und sagen: Wir akzeptieren das alles nicht. Keine Nazi-Musik, keine Nazi-Parolen, keine Nazi-Devotionalien – und: Wir geben dich nicht auf.

Was bieten Sie Eltern?

Es ist für sie hilfreich, über die Situation reden zu können und zu überprüfen, ob sie richtig damit umgehen. Sie können erfahren, dass es nicht ihre Schuld ist. Sie sind nicht Eltern eines Nazis, sondern eines Kindes, für das es einen Weg zurück in die Gesellschaft gibt. Wir können ein Problem nicht sofort aufhalten, aber Ideen entwickeln und Resistenzfaktoren gegen einen tieferen Einstieg stärken. Alles, was wir besprechen, wird absolut vertraulich behandelt. Es gibt keinen Datenaustausch. Die Eltern bleiben anonym, wenn sie das wünschen.

Wie sorgen Sie dafür, in Schulen und Vereinen bekannt zu sein, damit ein Frühwarnsystem funktioniert?

Nach anderthalb Jahren Arbeit sind wir an den Orten, an denen es darauf ankommt, gut vernetzt. Derzeit legen wir den Fokus auf Marten. Die Bürger dort wissen, dass es uns gibt. Wir haben in den vergangenen sechs Monaten große Sprünge machen können.

Wir haben gesprochen über den Versuch, einen Einstieg zu verhindern. Gibt es auch Ausstiegs-Angebote?

Wir sind spezialisiert auf die Arbeit, Einstiege zu verhindern, und so gut vernetzt, dass wir mitbekommen, wenn ein Ausstieg infrage kommt. Den harten Ausstieg können unsere Kooperationspartner besser begleiten. Das sind Nina NRW oder der Verfassungsschutz. Ausstiegs-Erfolge gibt es hier. Die Dortmunder Szene hat mehrere Personen aus den Kaderstrukturen verloren.

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Kontakt für Hilfe
  • Coba-Yana zeigt „Wege aus dem Rechtsextremismus“ und arbeitet beratend, begleitend und präventiv. Die Stadt Dortmund und das Bundesprogramm „Demokratie leben“ fördern das Projekt.
  • Kontakt: per E-Mail info@coba-yana.de oder mobil 01735476500