Von der Beamtenvorstadt zum Szeneviertel
Die Geschichte des Kreuzviertels
Es war nicht immer das beliebte In-Viertel, als das es heute von vielen wahrgenommen wird. Über lange Strecken seiner Geschichte hatte das heutige Kreuzviertel noch nicht mal einen Namen. Wie wurde aus dem Viertel das, was es heute ist?

Die Kreuzung Lindemannstraße/Essener Straße um 1915. Nach dem Ersten Weltkrieg lebten hier viele französische Soldaten. © Christian Barenbrügge
1870, zur Zeit des Deutsch-französischen Krieges, war dort, wo heute das Kreuzviertel ist, nichts außer Ackerland. Gutes Ackerland. Der Bodenpreis sei dementsprechend teuer gewesen, Häuser zu bauen lohnte sich nicht. Doch immer mehr Menschen wollten vom Land in die kleine Stadt ziehen. In dem Buch „Das Dortmunder Kreuzviertel“ untersucht Christian Barrenbrügge die Siedlungsgeschichte „von der Geburt an bis 2006“.
Eine Zählung ergab 1873, dass mittlerweile mehr Häuser außerhalb der Mauern der Stadt Dortmund standen als innerhalb, schreibt Barrenbrügge in seinem Buch. Durch die Platznot wurden die Mauern schließlich abgetragen und auch gute Agrarflächen bebaut. So ist das Kreuzviertel entstanden.
Dann kam der Erste Weltkrieg. Und der Zweite. Bomben brachten Zerstörung mit sich, viele Menschen verloren ihr Zuhause.
Eine zerstörte Kirche gibt dem Viertel den Namen
1945 traf ein heftiger Angriff die Heilig-Kreuz-Kirche und zerstörte sie weitgehend. Wäre die Kirche als Namensgeber des Viertels nicht wieder aufgebaut worden, hieße das Kreuzviertel heute vermutlich ganz anders.
Aber im Gegensatz zu vielen anderen Stadtteilen in Dortmund war der Schaden im Kreuzviertel relativ gering. „Es gab nicht so viele Volltreffer durch Bombenanschläge“, sagt Barrenbrügge. Und die Häuser, die getroffen wurden, habe man leicht wieder aufbauen können: „Die Zwischenböden waren damals aus Holz, so verbreitete sich das Feuer von Etage zu Etage. Die dicken Außenmauern blieben aber stehen.“ Deswegen würden viele alte Häuser unter Denkmalschutz stehen.
Fremd im eigenen Viertel
Nach dem Ersten Weltkrieg lebten im Kreuzviertel viele französische Soldaten. Hinweisschilder hingen auf Französisch an großen Kreuzungen, die Kreuzschule und das staatliche Gymnasium wurden von den Besatzern beschlagnahmt. Eine Vorschrift verlangte laut Barrenbrügge: „Verlassen des Bürgersteigs beim Entgegenkommen eines französischen Soldaten.“ Es muss ein seltsames Gefühl gewesen sein, sich in den Straßen, in denen man aufgewachsen ist, fremd zu fühlen.
1941, mitten im Zweiten Weltkrieg, gab es in fast jeder Straße eine Bäckerei. 16 Lebensmittelgeschäfte waren ortsansässig, alleine 6 seien auf der Lindemannstraße und am Neuen Graben gewesen.
„Es gab keine Supermärkte, keinen Kühlschrank. Aber in jeder Straße war ein Tante-Emma-Laden“, erzählt Christian Barrenbrügge. Heute gebe es zwei große Supermärkte im Umkreis. Dann noch ein paar Biosupermärkte und Weinläden. Mehr braucht der „Kreuzviertler“ nicht. Dafür sind hier viele Cafés und Kneipen: „20 bis 30 Kneipen wechseln fast im Jahreswechsel ihre Namen“, sagt der Lehrer.
Fast alle Beamten der Stadt in einem Viertel
Was die wenigsten erahnen würden, wenn sie durch das lebendige Viertel samt junger Bewohner spazieren: Das Kreuzviertel war lange Zeit eine „Beamtenvorstadt“ , wie sie im Volksmund genannt wurde. „Früher war vieles staatlich organisiert. Postbeamte, Lehrer, sie alle wohnten im gleichen Viertel“, sagt Christian Barrenbrügge. Der Boom mit den jungen Menschen kam erst viel später.

Die Liebigstraße um 1911. © Christian Barenbrügge
Die Parksituation war jedoch schon immer katastrophal. „Dass die Leute da nicht auf die Barrikaden gehen“, wundert sich der Lehrer. Ein Versuch, 1978 in Dutzenden Straßen im Kreuzviertel Tempo-30-Zonen einzurichten, ging nach hinten los: Die Autos parkten so schräg und dicht beieinander, dass Fußgänger nicht mehr zwischen Hauswand und parkende Autos passten, so Barrenbrügge.
Aus den Tempo-30-Zonen wurden einige Spielstraßen gemacht – dadurch sei das Kreuzviertel aufgrund von weniger Verkehr noch attraktiver für Bewohner geworden. Das Parkproblem bestehe aber immer noch und werde durch Läden, die Menschen aus allen Stadtteilen besuchen, noch verstärkt.
Ein anderes Publikum
Ebenfalls 1978, man könnte es Zufall nennen, begann eine Umwandlung im Kreuzviertel. Alte Wohnhäuser aus der Entstehungszeit wurden aufgekauft, die Mietwohnungen renoviert und „anschließend als Eigentumswohnungen zu überhöhten Preisen mit guter Rendite“ verkauft, schreibt Barrenbrügge. „Reichere, jüngere und vor allem akademisch ausgebildete Personen zogen verstärkt ins Kreuzviertel.“ Durch die Nähe zur Universität und zur Fachhochschule zogen auch immer mehr Studenten ins Viertel. „Nach dem Studium sind sie dann dort geblieben“, sagt Barrenbrügge.
Die Umwandlung war Grund dafür, dass die Gemeinden im Kreuzviertel, darunter auch die Heilig-Kreuz-Kirche, einen Verein für die Verbesserung des Wohnraums gründeten. Hier sei 1979 nun erstmals der Begriff „Kreuzviertel“ aufgetaucht. Der Name sollte die Identität und das Lebensgefühl des Gebiets zum Ausdruck bringen.
Barrenbrügge hat selbst schon fünf Jahre im Kreuzviertel gewohnt – weggezogen ist er aber bereits vor 18 Jahren. „Mir wurde das alles zu viel mit dem Parken und meinen Kindern“, sagt der 45-Jährige. Zurück ins Viertel möchte der Lehrer nicht.