Der runde rote Schriftzug in Großbuchstaben an dem Eckhaus zwischen Ostwall und Schwanenwall wird bald verschwinden. Seit 152 Jahren versorgt hier die Hirsch-Apotheke Dortmunder mit Medikamenten. Ende Oktober schließt sich die Tür – für immer und lässt ein weiteres Stück Tradition am Ostenhellweg sterben.
Die Entscheidung ist Inhaber und Apotheker Kristian Reissig nicht leicht gefallen. Noch immer berät der 84-Jährige seine Kunden hinter der Theke, doch er nennt gleich mehrere Gründe, warum es am Ostwall nicht weitergeht.
Anfangs gutes Geschäft
2008 hat Reissig die Immobilie gekauft – mit der Sicherheit, dass der Mietvertrag des damaligen Apotheken-Inhabers ausläuft. Sein Vorgänger habe die Apotheke nicht gut geführt, meint Kristian Reissig. Er selbst habe sie im Mai 2010 nach einem Monat Komplettrenovierung wieder eröffnet.
Das Geschäft lief gut – bis die Corona-Pandemie Dortmund erreichte. „Die Leute kamen nicht mehr in die Innenstadt und damit auch nicht mehr in die Apotheke“, sagt Reissig. 2021 kam noch die große Dauerbaustelle vor der Haustür hinzu und blockierte ein gefühltes Dreivierteljahr lang den Eingang, sagt er: „Selbst Stammkunden fanden nicht mehr zu uns hinein.“
Doch noch mehr als Pandemie und Baustelle macht Reissig die ausgeuferte Bürokratie und die Macht der gesetzlichen Krankenkassen zu schaffen. So musste der Apotheker 2011 im Rahmen einer sogenannten Präqualifizierung noch einmal nachweisen, dass sich seine Apotheke für die Versorgung mit und Lagerung von Hilfsmitteln wie Kanülen, Kompressionsstrümpfen, Milchpumpen und Spritzen noch immer eignet – und dass sie einen behindertengerechten Zugang und eine Kundentoilette in der richtigen Höhe hat.
Haus vor fünf Jahren verkauft
Ist diese Überprüfung durch die Präqualifizierungsstelle positiv ausgefallen, bekommt die Apotheke eine Bestätigung, die von jeder Krankenkasse anzuerkennen ist. „Wir mussten sogar nachweisen, dass wir einen Verkaufsraum haben“, sagt Reissig kopfschüttelnd: „Das ist Bürokratie hoch drei, schlimmer geht‘s nicht.“ Es gebe keinen anderen Beruf, der dermaßen kontrolliert werde. Für Reissig ist das auch Beutelschneiderei; denn die Kontrolle kostet neben Zeit auch Geld.
Seine Tochter ist auch Apothekerin und hat zwischenzeitlich in der Hirsch-Apotheke mitgearbeitet. Weil sie wegen ihrer Familie nur halbtags arbeiten wollte, kam für sie die Übernahme der Apotheke nicht infrage. Auch die Übernahme der Immobilie sei ihr wegen der Finanzierung zu riskant gewesen, sagt Reissig.
Deshalb habe er das Haus vor fünf Jahren verkauft. Ein Fehler, meint er heute: „Ich hätte erst die Apotheke verkaufen sollen, und dann die Immobilie.“ Einen Interessenten für die Übernahme der Apotheke hätte er gehabt, aber der Vermieter wollte ein Sonderkündigungsrecht vertraglich nicht ausschließen. Das wiederum hätte das Risiko für Reissigs potenziellen Nachfolger bedeutet, mit der Apotheke vorzeitig ausziehen zu müssen.
Vier Mieterhöhungen
Reissig: „Außerdem hat es in den vergangenen zweieinhalb Jahren vier Mieterhöhungen gegeben.“ Auch die Apotheken-Makler-Firma habe ihm erklärt: „Mit dem Mietvertrag werden wir die Apotheke nicht los.“
„Gut, dann kann ich sie nicht verkaufen, dann muss ich sie eben zumachen“, hat er gedacht. Jeden Tag schließe in Deutschland eine Apotheke, weil sich kein Nachfolger finde. Er sagt: „In Dortmund ist die Zahl der Apotheken in den vergangenen Jahren von 152 auf 117 zurückgegangen“.
Die Lust am Apotheker-Dasein nähmen ihm auch die gesetzlichen Krankenkassen und die zunehmenden Lieferengpässe bei vielen Medikamenten. Im Gegensatz zu den Krankenkassen hätten die Apotheken keine Lobby. „Es kann nicht sein, dass lebensnotwendige Arzneien nur im Ausland produziert werden“, kritisiert er: „Wir verbringen zehn Prozent der Arbeitszeit damit, unseren Kunden zu helfen, Ersatzarzneien zu finden. Das kostet viel Zeit, die nicht ordentlich bezahlt wird.“
Keine Honoraranpassung
Seit einigen Jahren handelten die Krankenkassen selbst die Kosten aus, die sie den Herstellern für Medikamente zahlten. Dabei bekämen sie teils hohe Rabatte eingeräumt. Bei Missachtung solcher Rabattverträge bekomme der Apotheker nach Herausgabe eines Ersatzmedikaments die Kosten von den Krankenkassen nicht erstattet.
Gleichzeitig habe es seit 15 Jahren habe es keine Honoraranpassung für Apotheken gegeben, klagt Reissig. Energiekosten und Mieten seien stark gestiegen, die Einnahmen aber nicht mehr geworden. „Deshalb haben immer weniger Lust, eine Apotheke zu übernehmen.“
Keinen Spaß mehr
Apotheker an sich sei ein schöner Beruf, versichert Reissig. Er ist seit 53 Jahren als Apotheker tätig. „Der Apothekerberuf macht keinen Spaß mehr, wirklich nicht, dabei habe ich ihn sehr gern gemacht.“
Und er macht ihn trotz alledem noch weiter. Reissig betreibt auch die Delta-Apotheke in Eving. Was ab November mit den Räumen der Hirsch-Apotheke passiert, weiß er nicht. „Es hat noch niemand die Räume besichtigt.“
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