
Der 16-jährige Mouhamed D. ist am 8. August in diesem Dortmunder Innenhof von einem Polizisten erschossen worden. © Kevin Kindel / Privat
Wie kam es zu den tödlichen Schüssen auf Mouhamed D.? Eine Rekonstruktion des Falls
Chronologie
Vier Kugeln aus einer Maschinenpistole der Polizei treffen am 8. August Mouhamed D. in der Nordstadt - kurz danach ist der 16-jährige Flüchtling tot. Wie lief der Einsatz genau ab? Eine Rekonstruktion.
Der Tod des 16-jährigen Mouhamed D. beschäftigt viele Menschen. Die Aufklärung des Falles läuft, gegen fünf Polizeikräfte wird ermittelt. Die Staatsanwaltschaft prüft, ob gegen sie Anklage erhoben wird.
Problematisch ist in diesem Fall, dass die Polizei Dortmund eine Partei des Konflikts ist. Damit müssen alle Einsatzprotokolle und andere Dokumente besonders kritisch hinterfragt werden. Bei allen folgenden Aussagen handelt es sich um Informationen nach aktuellem Kenntnisstand (20.9.), der sich verändern kann. Doch zunächst zur Vorgeschichte.
Mouhamed D. ist im westafrikanischen Senegal aufgewachsen. Mit 14 Jahren sei er losgezogen, um nach Deutschland auszuwandern, ist von seiner Familie zu hören. Im Sommer 2022 ist er 16 Jahre alt. Am 30. April wird er in Rheinland-Pfalz registriert und zieht am 1. August nach Dortmund.
Mouhamed kommt als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling in eine Wohngruppe der Jugendhilfe St. Elisabeth an der Holsteiner Straße in der Nordstadt. Der Stadt Dortmund liegt die Aussage vor, dass seine Eltern tot seien. Aus dem Senegal meldet sich jedoch später eine Familie zu Wort. Möglich ist, dass es sich nicht um die leiblichen Eltern handelt - die Aussage kann aber auch nur eine Behauptung des Jugendlichen gewesen sein.
Aufenthalt in Polizeiwache und Psychiatrie
In der Nacht zum 7. August (Sonntag) betritt Mouhamed D., der nie kriminalpolizeilich aufgefallen war, die Polizeiwache Dortmund-Nord. „Nonverbal durch Gestik“ äußert er Suizidabsichten, heißt es in einem Dokument des Innenministeriums.
Unter Einbeziehung des Jugendamts wird er freiwillig in die Kinder- und Jugendpsychiatrie gebracht. Mit einem Dolmetscher wird er untersucht, Mouhamed dementiert die Suizidabsicht, sagt aber, zurück in den Senegal zu wollen. Noch am Sonntagabend wird er in Absprache mit dem Jugendamt wieder entlassen. Ein Taxi bringt ihn zurück in seine Wohn-Einrichtung. Den Tag danach (8. August, Montag) überlebt Mouhamed D. nicht.
Der Tag von Mouhameds Tod
16.25 Uhr: Notruf. Ein Betreuer der Wohngruppe sagt der Polizei am Telefon, dass Mouhamed D. im Innenhof des Grundstücks sitze und sich ein 15 bis 20 Zentimeter langes Messer an den Bauch halte.
Eine Betreuerin habe erfolglos versucht, den Jugendlichen zum Weglegen des Messers zu bewegen. Der Mann bleibt in der Notruf-Leitung, Einsatzkräfte werden mit dem Stichwort „Suizidversuch“ informiert. Auch ein Rettungswagen wird alarmiert.
16.29 Uhr: Der erste Streifenwagen trifft am Einsatzort ein, man sammelt sich an der Holsteiner Straße. Ob jemand dabei ist, der Mouhamed am Vortag in der Wache gesehen hat, ist bislang unklar.
16.37 Uhr: Die Polizei macht sich im Innenhof ein Bild von der Lage. Von der Holsteiner Straße führt eine Einfahrt in den Innenhof, durch die Autos fahren können. Ein Tor kann man mit einer Kette und einem Vorhängeschloss verschließen. Am anderen Ende des Geländes befindet sich ein etwa zwei Meter hoher massiver Metallzaun mit Spitzen am oberen Ende. Rechts und links ist der Hof von hohen Mauern umgeben.

Der Innenhof ist von Mauern und einem massiven Metallzaun begrenzt. Das Auto rechts im Bild muss beim Einsatz nicht an derselben Stelle gestanden haben wie bei der später erfolgten Aufnahme. © Kevin Kindel
16.41 Uhr: Der 16-Jährige hockt in einer Ecke an einer Wand und einem Gebüsch, hält sich das Messer an den Bauch. Er guckt in Richtung Metallzaun und Missundestraße, weg von der Hofdurchfahrt zur Holsteiner Straße.
16.42 Uhr: „Kollegen können sich bis auf 3-4 Meter nähern, ohne gesehen zu werden“, so das Polizei-Protokoll.
16.44 Uhr: Zivil gekleidete Polizisten sprechen Mouhamed auf Deutsch und Spanisch an. Er soll Französisch, Spanisch und eine afrikanische Sprache gesprochen haben.
Dass er „zum Weglegen des Messers aufgefordert wurde, haben die Ermittlungen nicht ergeben“, so die Staatsanwaltschaft. „Eine Reaktion erfolgte nicht.“ Zwei Beamte nehmen ihre Pistolen „in entschlossene Sicherungshaltung“, ein dritter tut dies mit der Maschinenpistole MP5.
16.46 Uhr: Die „unmittelbare Lebensgefahr durch Selbstverletzung“ soll abgewendet werden. Auf Anordnung des Dienstgruppenleiters sprüht eine Beamtin, die hinter dem Zaun außerhalb des Innenhofes steht, Pfefferspray auf Mouhamed D.
Man erhofft sich, dass er durch die Schmerzen das Messer fallen lässt. Das passiert aber nicht, der Jugendliche steht auf, wischt sich mit der freien Hand durchs Gesicht und macht einen Schritt zur Seite. Das Pfefferspray war seit April abgelaufen.
Schnell setzen eine Beamtin und ein Beamter ihre Elektro-Taser ein - so wie zuvor abgestimmt. Ein Schuss von der anderen Seite des Zauns trifft nicht richtig, der Strom kann nicht fließen.

Sechs Wochen nach den tödlichen Schüssen ist weiterhin einige Anteilnahme am Tatort zu bemerken. © Kevin Kindel
Beim zweiten Schuss, der im Hof abgegeben wird, treffen die beiden Pfeile wohl zu nah beieinander in den Unterleib, sodass keine „neuromuskuläre Handlungsunfähigkeit“ herbeigeführt wird. Ob sich Mouhamed weiter bewegt und wie er die Hand mit dem Messer hält, wird noch ermittelt.
Die Polizei vermerkt am Tag danach in einem Bericht, man habe ein im Innenhof geparktes Auto als Barriere zwischen sich und Mouhamed genutzt. Der Jugendliche habe nach dem Pfefferspray-Einsatz das Messer „in Richtung der Kräfte“ gehoben und „die Distanz schnell an der Frontpartie des Fahrzeugs vorbei“ überbrückt.
16.47 Uhr: Der Polizist, der den Auftrag hat, als Sicherungsschütze zu fungieren, schießt sechs Mal mit seiner Maschinenpistole - „sehr zeitnah oder gegebenenfalls sogar zeitgleich“ zum zweiten Taser-Schuss, so die Staatsanwaltschaft. Vier Kugeln treffen Mouhamed D. in Kopf, Bauch, Arm und Schulter. Er wird vor Ort versorgt und zur Notoperation ins Klinikum Nord gebracht.
17.44 Uhr: Die Polizei informiert via Twitter über den Einsatz: „Es kam zu einem Schusswaffengebrauch durch Polizeibeamte. Es bestand zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für die Öffentlichkeit.“
+++ Informationen +++
Aktuell läuft ein Polizeieinsatz an der Holsteiner Straße. Es kam zu einem Schusswaffengebrauch durch Polizeibeamte. Es bestand zu keinem Zeitpunkt eine Gefahr für die Öffentlichkeit.
18.02 Uhr: Der Tod des 16-Jährigen wird im Krankenhaus festgestellt. So geht es aus Unterlagen des Justizministeriums hervor.
18.44 Uhr: „Durch die Schussabgabe wurde der junge Mann schwer verletzt. Er verstarb im Krankenhaus“, schreibt die Polizei bei Twitter. Am Abend fertigt eine Polizeibeamtin, die einen Teil des Innenhofes gesichert hat, eine Strafanzeige wegen Bedrohung gegen Mouhamed D. Ob sie zu dem Zeitpunkt von seinem Tod wusste, ist nicht bekannt.
Videoaufnahmen vom Einsatz sind nicht bekannt, die Bodycams der Polizei waren ausgeschaltet. Eine Nutzungspflicht gibt es für sie bislang nicht, das Innenministerium will eine Änderung nun prüfen. Die Tonaufnahme des Notrufes, der bis zu den Schüssen gehalten wurde, wird von Experten noch ausgewertet.
Ermittlungen : „Erheblicher Zweifel“ an Verhältnismäßigkeit
Oberstaatsanwalt Carsten Dombert sagte Anfang September, er habe „erheblichen Zweifel“, ob die Polizei korrekt agiert hat: „Die Lage war statisch. Der Jugendliche saß da und tat nichts.“
Die Polizei hatte selbst mitgeteilt, dass keine Gefahr für die Allgemeinheit bestanden habe. Weiterhin muss noch entschieden werden, ob und wenn ja welche Beteiligte angeklagt werden. Der Schütze ist aktuell suspendiert, die vier anderen Beschuldigten in andere Tätigkeitsbereiche versetzt.
Gleich zwei Sondersitzungen sind im NRW-Landtag zum Thema abgehalten worden. Die Opposition sagte immer wieder, dass man schnell Lehren ziehen wolle, um einen ähnlichen Fall in Zukunft zu verhindern. Auch von „politischer Verantwortung“ war vage die Rede.
Innenminister Herbert Reul, der zunächst die Aussagen der Polizei eines Messerangriffs auf Beamte wiedergegeben hatte, sagte Mitte September: „Obwohl sich auch für mich zunehmend Zweifel ergeben, gilt die Unschuldsvermutung.“ Erste Prüfaufträge wie den zur möglichen Bodycam-Pflicht habe er erteilt, will für Näheres aber den Abschluss der Ermittlungen abwarten, sagt Reul.
Kevin Kindel, geboren 1991 in Dortmund, seit 2009 als Journalist tätig, hat in Bremen und in Schweden Journalistik und Kommunikation studiert.
