
Der Sarg mit dem Leichnam des bei einem Polizeieinsatz erschossenen Mouhamed D. während einer Trauerfeier am 12. August in Dortmund. © Joscha F. Westerkamp
Tod von Mouhamed D. (16) in Dortmund: Die Chronologie einer Tragödie
Nordstadt
Mit dem Tod von Mouhamed D. ist Dortmund der Ausgangspunkt einer intensiven gesellschaftlichen Debatte geworden. Wir sortieren die Sachlage und die Emotionen knapp zwei Wochen nach dem Vorfall.
Es ist bereits spät am Abend im Ort Ndiaffate im Senegal, als die Reise von Mouhamed Lamine Dramé endet. Der Leichnam des 16-Jährigen wird am Donnerstag (18.8.), zehn Tage nach dessen Tod in Dortmund, auf einem Friedhof in dem Dorf beigesetzt, in dem er am 4. November 2005 geboren ist.
Am Nachmittag war der Sarg in das rund 5800 Kilometer entfernte Land im Westen Afrikas geflogen worden.
Bilder von der Beisetzung in der senegalesischen Presse zeigen eine Menschenmenge, die das Ritual begleitet. „Familie, Freunde und Nachbarn“ seien darunter gewesen, berichtet das Portal „Dakaractu“. Der Schlusssatz lautet: „Seine Familie fordert weiterhin Gerechtigkeit.“
Tödliche Schüsse in der Dortmunder Nordstadt am 8.8.22
Mouhamed stirbt am Montag, 8.8.22. Am Nachmittag dieses Sommertages fallen auf dem Hof eines Kirchengrundstücks in der Dortmunder Nordstadt sechs Schüsse aus einer Maschinenpistole des Typs MP 5. Schütze ist ein 29-jähriger Dortmunder Polizeibeamter.
Die Polizei ist hierher gerufen worden, weil Mouhamed D. im Begriff gewesen sein soll, sich mit einem Messer selbst Schaden zuzufügen. Der Einsatz entwickelt sich dramatisch.

Mouhamed D. starb am 8. August in Dortmund bei einem Polizeieinsatz. © privat
Der 16-Jährige soll mit einem Messer in der Hand zwei Beamte angegriffen haben, so schildert es die Polizei später über ihren obersten Dienstherrn, Innenminister Herbert Reul (CDU). Ein „Sicherungsbeamter“ soll aus der Entfernung die Schüsse abgegeben haben, um einen Kollegen vor einem Angriff zu schützen.
„Sicherungsbeamter“ (29) schießt aus der Entfernung
Mit Reizgas sollte Mouhamed zunächst davon abgebracht werden, sich selbst mit der circa 10 bis 15 Zentimeter langen Klinge zu verletzen. Als dies wirkungslos blieb, sollen Taser eingesetzt worden sein. Dennoch lief D. laut Einsatzbericht mit dem Messer auf die Beamten zu. Der 29-Jährige schoss.
Fünf Kugeln trafen den 16-Jährigen im Gesicht, am Arm, an der Schulter und im Bauch. Der Jugendliche starb kurz darauf im Schockraum des Klinikums Nord.
Und die Welt ist für viele Menschen in Dortmund seit diesem 8.8.22 nicht mehr so, wie sie vorher war.

Es gab seit dem Vorfall mehrere Demonstrationen in Dortmund und auch in anderen Städten. © Joscha F. Westerkamp
Denn der Fall Mouhamed D. ist gleichzeitig Projektionsfläche für und Auslöser von mehreren großen gesellschaftlichen Debatten geworden: Kriminalität, Polizeigewalt, Polizeitaktik, Rassismus, der Umgang mit Geflüchteten, die Betreuung von psychisch kranken Menschen. Das alles und noch mehr steckt in diesem Fall, je nachdem aus welcher Richtung man ihn interpretiert.
Doch am Anfang steht die Frage: Was ist an diesem Nachmittag an der Holsteiner Straße und an der Missundestraße genau passiert?
Benachbarte Polizeibehörde ermittelt gegen Dortmunder Kollegen
Beantworten sollen sie die Polizei Recklinghausen und die Staatsanwaltschaft Dortmund. Noch bevor die Ermittlungen starten, beginnen die Zweifel. Polizisten aus dem Kreis Recklinghausen ermitteln in Dortmund, Dortmunder Beamte in einem anderen Fall im Dienstgebiet des Polizeipräsidiums Recklinghausen.
Das sehen viele wegen fehlender Neutralität als von vornherein zum Scheitern verurteilt an.
Innenministerium, Polizei und Staatsanwaltschaft bitten um Vertrauen. Drei Tage schwirren Spekulationen und Interpretationen zum Polizeieinsatz umher, dann erlegt sich die Staatsanwaltschaft eine Art Nachrichtensperre auf.
Infos veröffentliche man erst wieder, wenn die Zusammenhänge klarer sind, heißt es. Nach jetzigem Stand könnte das bis Anfang September dauern.
Die Polizei Recklinghausen sucht derweil nach Videos, die Zeugen der Situation gemacht haben könnten. Auch hier: keine Zwischenstände.
Viele Fragen zu den tödlichen Schüssen, bisher wenige Indizien
Stattdessen neue Fragen, jeden Tag. Warum fielen die Schüsse, warum aus dieser Waffe? Wer hatte welche Position im Einsatz? Wie hat die Polizei mit ihrem Gegenüber kommuniziert? Viele Fragen gehen in den leeren Raum, manche Antworten überzeugen noch nicht, etwa die zu den Bodycams.
Die dünne Indizienlage zum tatsächlichen Geschehen auszuhalten, fällt vielen Menschen ersichtlich schwer. Denn schon kurz nach den tödlichen Schüssen beginnt in sozialen Medien und auch auf der Straße ein Wettrennen um die Deutung des Falles.
Die Reaktionen: Schock und Wut
Es gibt eine starke emotionale Komponente. Viele Menschen sind schlicht schockiert vom Tod eines 16-Jährigen mitten am Tag. Andere sind wütend auf die Polizei, weil sie Zweifel daran haben, ob bei diesem Einsatz alles richtig abgelaufen ist.
Sie tragen die Trauer und die Wut in den ersten Tagen auf die Straße und ins Internet. #JusticeForMouhamed lautet ein viel geteilter Hashtag aus Dortmund, der viele Meinungen bündelt.
Das trifft auf Menschen, die das Mitgefühl der anderen kritisieren und die tödlichen Schüsse des Polizisten vorbehaltlos als „richtig“ bezeichnen. Sie wollen stärker thematisiert sehen, dass von einem Messerangriff eine große Gefahr ausgeht. Sie kritisieren auch Dortmunds Oberbürgermeister und andere für ihre Teilnahme an einer Trauerfeier für Mouhamed D. am 12.8..
Nordstadt-Bewohner äußern ihr Misstrauen gegenüber der Polizei
In der Nordstadt bricht durch den Vorfall etwas auf. Viele Bewohnerinnen und Bewohner des Stadtteils äußern ein schon länger empfundenes Gefühl von Ungerechtigkeit im Verhalten der Polizei ihnen gegenüber.
Die Sicherheitsbehörde sieht sich vielen Vorwürfen und einem Generalverdacht ausgesetzt. „Vertrauensverlust“ ist ein Begriff, der häufig fällt.
Die Polizei hält kommunikativ entgegen. Betont, was sich in der Nordstadt alles verbessert hat, wirbt um Vertrauen. Allein, dass sie das öffentlich tun muss, zeigt, welche Wirkung der Fall hat.
Zugleich schweigt die Behörde zu den Ermittlungen, weil sie es als Verfahrensbeteiligte muss. Das verhindert bisher auch, die von vielen Beobachtern gestellte Frage zu beantworten, wie es dem Polizisten geht, der geschossen hat.
Das leere Grab auf dem Dortmunder Hauptfriedhof
Es gibt einen bizarren Moment, in dem die Schwere dieses Ereignisses besonders deutlich wird.
Am 15.8., eine Woche nach seinem Tod, soll Mouhamed D. beerdigt werden. Auf dem muslimischen Teil des Hauptfriedhofs ist bereits die Grabstelle ausgehoben. Menschen, zu denen der 16-Jährige in einer Wohngruppe für Jugendliche Kontakt hatte, sind gekommen, um von ihm Abschied zu nehmen.
Doch mittlerweile ist der Fall eine diplomatische Angelegenheit. Die senegalesische Botschaft in Berlin schaltet sich ein und vermittelt den Kontakt zu Angehörigen in Ndiaffate. In Dortmund war man zunächst davon ausgegangen, dass der Getötete ein Waise ist und hatte deshalb die Beerdigung vorbereitet.
Das Grab auf dem Hauptfriedhof bleibt leer.
Flucht von Mouhamed D. aus dem Senegal beginnt 2020
Seit einer Woche lebt der 16-Jährige zum Zeitpunkt seines Todes erst in Dortmund. Seit April ist er in Deutschland.
Es sind nur Bruchstücke seines kurzen Lebensweges bekannt.
Warum, wann und wie genau Mouhamed und ein Familienmitglied, den er als jüngeren Bruder bezeichnete, geflohen sind, ist ungewiss. Lamine Dramé, ein Mann, der angibt, Mouhameds Vater zu sein, sagte gegenüber der senegalesischen Presseagentur APS, dass er Fotos gesehen habe, die zeigen würden, dass sein Sohn auf dem Seeweg gereist sei.
Die Reise nach Europa habe Mouhamed vor etwa zwei Jahren angetreten. Auf der Flucht soll sein Bruder im Mittelmeer ertrunken sein.
Im April 2022 kommt Mouhamed in Deutschland an. Nach vier Monaten in Rheinland-Pfalz wird er Anfang August auf eigenen Wunsch in Dortmund untergebracht, weil er die Stadt über den BVB kannte.
Keine psychischen Auffälligkeiten - bis kurz vor dem Vorfall
Mouhamed D. fällt den Menschen, die mit ihm Kontakt haben, nicht durch psychische Probleme auf, wie unterschiedliche Personen berichten. Allerdings ist eine Therapie geplant, weil er wie viele unbegleitete Jugendliche durch die Flucht traumatisiert sei.
In den Tagen vor den tödlichen Schüssen befindet er sich offenbar in einer psychischen Ausnahmesituation.
Die Betreuer der Wohngruppe melden ihn am 6.8. als vermisst. Am 7.8., so berichtet das „Der Spiegel“, soll er wegen psychischer Probleme die Polizeiwache Nord aufgesucht hatten.
Er sei von dort in die psychiatrische Kinder- und Jugend-Klinik St. Elisabeth gebracht worden. Er verlässt die Einrichtung noch am selben Abend und kehrt in in seine Wohngruppe zurück.
Dort kommt es am Tag darauf gegen 16.30 Uhr zu der Situation, die ein schreckliches Ende findet.
Betreuer versuchen nach Angaben des Einrichtungsleiters noch beruhigend auf ihn einzuwirken, rufen dann die Polizei. Elf Polizisten sind letztlich vor Ort, einige Medien berichten von zwölf.
Die Diskussion betrifft ganz Deutschland
Die Diskussion hat die lokale Sphäre längst verlassen. Der Fall trifft zeitlich mit einer Reihe weiterer Polizeieinsätze mit tödlichem Ausgang in Deutschland zusammen. Und weil noch so viele Fragen offen sind, wird die Debatte weitergehen.
Seit 2010 Redakteur in Dortmund, davor im Sport- und Nachrichtengeschäft im gesamten Ruhrgebiet aktiv, Studienabschluss an der Ruhr-Universität Bochum. Ohne Ressortgrenzen immer auf der Suche nach den großen und kleinen Dingen, die Dortmund zu der Stadt machen, die sie ist.
