Die Zahl der Unfälle mit Flucht steigt, die Aufklärungsquote sinkt. Stellt die Polizei einen Verursacher, kommen oft Ausreden in die Akte: „Nicht gehört.“ Eine Klebefolie verrät die Täter.

Dortmund, Lünen

, 29.05.2019, 17:31 Uhr / Lesedauer: 4 min

Zaghaft die Kupplung kommen lassen, schon rollt der dunkle Kombi auf dem Gelände der Dekra am Martener Hellweg vor die Mauer aus Beton. Am Steuer: mal ein Polizist, mal Verkehrsrichter. 30 Minuten später provoziert ein Polizist mit voller Absicht einen Crash: Der Twingo rempelt den Kombi an. Dann geht es mit voller Wucht an der Fahrzeugflanke vorbei, um einen Klassiker nachzustellen: „Spiegel gegen Spiegel“, heißt es in dieser Simulation. Sind der Rempler auf dem Supermarktparkplatz oder der Spiegel-Kracher nicht wahrnehmbar oder überhörbar, wie Unfallverursacher so oft behaupten und damit ihre Flucht begründen?

Polizeisprecher Michael Schönberg erklärt das Phänomen Flucht in diesem Video:

Video
Fahrerflucht kann vors Strafgericht führen

Ein Unfall ist hör- und spürbar

Die Unfallverursacher auf dem Testgelände erfahren hinterm Lenker oder als Beifahrer schnell, dass der Anstoß an der Betonmauer selbst bei nur drei km/h hör- und spürbar ist. Sie sind Richter oder Polizisten und diskutieren anschließend darüber, wie gut oder schlecht sie den Anstoß gespürt haben. Kracht der Spiegel im Vorbeifahren gegen den Spiegel eines geparkten Autos, überträgt die Karosserie den Zusammenprall außen in bester akustischer Qualität in den Innenraum. Die Polizisten, die hier am Steuer sitzen und Alltags-Unfälle nachstellen, sollen für ihre Ermittlungen nach einer Unfallflucht ein Gespür dafür bekommen, wie Verursacher einen Bagatellunfall erleben.

„Beim Hören gibt es immer wieder indifferente Aussagen“, sagt der Dekra-Unfallanalytiker Michael Lerch, „naturgemäß beschreibt jeder ein Geräusch anders.“ – „Wir als Techniker beurteilen diese Aussagen nicht, das ist die Aufgabe des Gerichts. Aber wir können die Aussagen mit unseren Versuchsergebnissen vergleichen.“ Und das geht so: Über die Unfallschäden an den Fahrzeugen können die Ingenieure die Beschleunigung berechnen und so Rückschlüsse auf die damit ins Fahrzeuginnere ausgelöste Energieübertragung ziehen.

Lärm lenkt ab

Sie können also sagen, wie laut oder leise ein Geräusch war. Schwierig wird es, wenn ein Verkehrsteilnehmer andere laute Umgebungsgeräusche angibt, die einen Knall überlagert haben. Das können ein Radio, Verkehrslärm und andere Alltagsgeräusche sein. Aber: Gegen die ins Innere übertragene Energie gibt es keine Ausreden. Außer: „Beine, Rücken und Hände waren neurologisch taub.“

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Im Dezember hatte die Dortmunder Polizei die Kampagne „Unfallflucht ist unfair“ gestartet, denn die Zahl der Unfallfluchten in Dortmund und Lünen steigt seit mehreren Jahren. Seit 2015 in Dortmund um mehr als 24 Prozent auf 5763 Taten im Jahr 2018. In Lünen um fast 7,5 Prozent von 548 auf 589 Fälle. Unter diesen Fällen sind auch die vier Fälle, die der Chef der Direktion Verkehr bei der Polizei, Ralf Ziegler, persönlich kennt:

Vier seiner Familienmitglieder waren von einer Unfallflucht betroffen. Kein Wunder bei mehr als 350 Unfallfluchten pro Tag in Dortmund und Lünen. Der Leitende Polizeidirektor hat eine große Bitte an die Bürgerinnen und Bürger: Für eine höhere Aufklärungsquote und im Interesse der Geschädigten will er sie als Zeugen gewinnen.

Zeugen sind keine Denunzianten

„Zeugen sind keine Denunzianten, sondern Bürger, die helfen, dass einem Geschädigten der Schaden ersetzt werden kann“, erklärt Ralf Ziegler vor Kollegen der NRW-Polizei, Richtern, Dekra-Sachverständigen und Dortmunder Verkehrswacht. Polizei, Dekra und Verkehrswacht haben sich zusammengeschlossen, um die Ermittlungsarbeit zu verbessern und das Thema Unfallflucht in die Öffentlichkeit zu tragen. Ein Einblick in die Ermittlungsmethoden der Polizei und in die Arbeit der Dekra-Sachverständigen soll Unfallverursacher, die zu einer Flucht und faulen Ausreden neigen würden, abschrecken.

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Polizeihauptkommissar Peter Goerke stellte dafür die Spurfix-Folie vor. Damit klebt die Polizei die beschädigten Karosserieteile ab, um auf der klebrigen Seite der Folie bei 500-facher Vergrößerung unter dem Mikroskop die Spuren des Unfallgegners erkennen zu können. In einem Fall konnte Peter Goerke nach Ermittlungen im Wohnumfeld eine junge Autofahrerin entlarven, die eine Unfallflucht angezeigt hatte. Tatsächlich war sie vor einen Holzmast gefahren – die Spuren auf der Spurfixfolie passten zu dem Abrieb am Mast.

Der Lack eines fremden Fahrzeugs ist auf der Spurfixolie sichtbar. Unter dem Mikroskop sind auch andere Partikel zu erkennen.

Der Lack eines fremden Fahrzeugs ist auf der Spurfixolie sichtbar. Unter dem Mikroskop sind auch andere Partikel zu erkennen. © Peter Bandermann

Aus Angst vor ihrem Vater hatte die junge Fahrerin den Unfall und die Flucht eines Unbekannten vorgetäuscht. Auch das ist eine Straftat. Die Staatsanwaltschaft hat das Verfahren eingestellt, weil die Frau mit dem selbst verursachten Schaden bereits hoch genug gestraft worden sei.

Spurenabgleich in der Datenbank

Der Kfz-Sachverständige und Unfallanalytiker Michael Lerch und Dekra-Niederlassungsleiter Jens Vieting erläuterten den Spezialisten der Polizei, dass der Abgleich von Unfallspuren mit den Einträgen in einer großen Dekra-Datenbank schnell zu Fahrzeugtyp und -Baujahr des mutmaßlichen Verursachers führen können. Michael Lerch veranschaulichte die Rekonstruktion eines frontal verursachten Parkplatzremplers, wie er täglich vorkommt:

Ein Unfallfahrer hatte auf einem Parkplatz mit seinem vorderen Kotflügel einen parkenden Pkw angerempelt und beschädigt. Für das menschliche Auge zunächst nicht sichtbar hatte er sein Kfz-Kennzeichen in den Stoßfänger seines Unfallgegners „gestempelt“. Die Dekra konnte Minimalspuren erkennen und nachzeichnen und damit das Kennzeichen des Tatverdächtigen grafisch nachbilden.

Die Folgen sind unangenehm, denn Unfallflucht ist eine Straftat. Aber: „So schlimm ist das doch gar nicht“, würden viele Verursacher denken und sich aus dem Staub machen, sagt Polizeihauptkommissar Marc Jochheim.

Unfallflucht ist ein Risiko

Die Täter würden sich schnell umschauen und vergewissern, dass sie nicht beobachtet worden sind. „Was sagt mein Mann?“, „Was sagt meine Frau?“ oder „Das wird teuer“ – das gehe ihnen durch den Kopf, bevor sie davon fahren. Statt die Polizei anzurufen und „ohne Probleme eines Schadensregulierung einzuleiten“, würden sie ein hohes Risiko eingehen. Denn auch mit Kennzeichen-Fragmenten können die Unfallermittler der Polizei und Sachverständige den Halter ermitteln. Viele Supermarktbetreiber überwachen ihre Parkplätze auch mit Videotechnik. Der Verlust des Führerscheins oder eine hohe Geldstrafe drohen.

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„Nichts gehört“, das ist einer der am häufigsten genannten Gründe fürs Weiterfahren nach einem Unfall. Doch so einfach kommen die Beschuldigten auch vor Gericht nicht mit diesen Ausreden davon. Denn es ist nachgewiesen, dass das Gleichgewichtsorgan im Innenohr einen Anstoß wahrnehmen und dem Gehirn melden kann. Karosserie, Lenker, Gas- und Bremspedal und anderen Bauteile übertragen die Energie ebenfalls ins Innere, so dass Oberschenkel, Rücken und Hände den Aufprall zu spüren bekommen.

Polizeisprecher Sven Schönberg rät Unfallverursachern dazu, zu ihrem Fahrfehler zu stehen. Denn: „Auch Haftstrafen sind möglich.“ Eine Besonderheit gilt bei Unfällen mit Kindern und Jugendlichen. Bei Unfällen mit ihnen sind Beteiligte verpflichtet, die Polizei zu verständigen. Selbst wenn ein Kind sagt: „Mir geht es gut. Es ist nichts passiert.“ Sven Schönberg: „Adrenalin, Schock, Angst – das alles kann dazu führen, das ein Kind seine Verletzungen nicht spürt. Also auf jeden Fall 110 und 112 wählen.“

Die Dekra analysiert Unfälle nicht nur. Unfälle will sie auch verhindern. Welche Rolle in Zukunft die Digitaltechnik in Fahrzeugen spielt, erklärt Michael Lerch in diesem Video:

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Sensoren warnen Autofahrer vor einer Gefahr

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