Am 12. Dezember 2024 um 13.08 Uhr läuft die geübte Szene zum 31. und letzten Mal ab. Die Polizeibeamten Thorsten H., Fabian S., Markus B., Pia B. und Jeannine B. treten in den Gerichtssaal ein, aufgeklappte Aktendeckel vor dem Gesicht. Die Kulisse von Saal 130 im Landgericht erinnert mit den schmuckvollen, bunten Fenstern voller Dortmunder Stadt-Heraldik, den Holzbänken und dem durch eine Holztür abgetrennten Zuschauerbereich an ein Theater aus Shakespeares Zeiten.
Nur, dass das hier kein Spiel ist. In Saal 130 geht es seit einem Jahr um den Tod von Mouhamed Dramé bei einem Polizeieinsatz in der Nordstadt vor fast zweieinhalb Jahren. Und die Frage, welche Verantwortung Thorsten H., Fabian S., Markus B., Pia B. und Jeannine B. dafür tragen.
So lauten die Urteile
Am letzten Prozesstag klicken wieder minutenlang Kameraauslöser, dann ruft Richter Thomas Kelm zur Ruhe. Die Gesichter der Angeklagten sind jetzt zu sehen. „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil“, setzt Kelm an und beginnt zu reden.
Und um 13.15 Uhr ist es vorbei.

Im Prozess gegen fünf Polizistinnen und Polizisten verliest Kelm das Urteil: Alle Angeklagten sind freigesprochen. Das gilt also auch für Thorsten H., Dienstgruppenleiter und für den Einsatz am 8. August 2022 verantwortlich, und Fabian S., aus dessen Maschinenpistole die tödlichen Schüsse auf Mouhamed Dramé fielen.
2.500 Seiten Prozessakten
Fünf Angeklagte, 31 Prozesstage, mehr als 50 Zeuginnen und Zeugen, 2.500 Seiten Prozessakten: Allein diese Zahlen zeigen die Dimension dieser Verhandlung. Das hat das Ausmaß eines Verfahrens gegen die Organisierte Kriminalität, also etwa Rockerbanden oder Drogenkartelle. Nur, dass auf der Anklagebank Polizeibeamte sitzen.
„Es ist etwas Gutes, dass wir diesen Prozess überhaupt geführt haben und dass Angehörige eine Stimme hatten. Denn normalerweise werden solche Abläufe hinter verschlossenen Türen besprochen und kommen nie an die Öffentlichkeit“, sagt Rechtsanwältin Lisa Grüter. Sie vertritt Mouhameds Brüder Sidy und Lassana in der Nebenklage im größten Polizisten-Prozess der Nachkriegszeit.
Widersprüche und Ambivalenzen
Doch bleibt nach zahlreichen Stunden auf harten Bänken und unbequemen Stühlen im Gerichtssaal bei vielen Beteiligten die Erkenntnis: Dieser Fall ist zu groß, als dass alles, was ihn ausmacht, in einem Verfahren erzählt werden könnte.
Es gibt Widersprüche und Ambivalenzen. Es gibt viele Situationen, Begegnungen und Orte der vergangenen zweieinhalb Jahre, an denen das deutlich wird.
Einer der Orte ist der, an dem alles passiert ist. Der Hinterhof der Jugendhilfeeinrichtung St. Elisabeth an der Holsteiner Straße steht für die Tragik dieses Sommertages vor fast zweieinhalb Jahren.
Genau 857 Tage vor dem Urteil treffen Mouhamed Dramés Körper hier fünf Projektile aus einer Polizei-Maschinenpistole des Typs MP 5. Er stirbt kurze Zeit später im Schockraum des Klinikums Nord. Der Zeitpunkt des Todes wird mit 18.02 Uhr angegeben.
Der Tatort 857 Tage danach
Wer kurz vor dem Ende des Prozesses auf dem Weg zum Tatort in die Missundestraße einbiegt, sieht auf einem Stromkasten ein Graffiti. „No Justice, no Peace“, ein Plakat mit dem Gesicht von Mouhamed ist aufgehängt. Am Zaun hängt in Andenken an Mouhamed eine Schieferplatte.
Manchmal kommen Menschen hierher, um noch einmal an Mouhamed zu denken. Unter seinem Konterfei am Zaun stecken vertrocknete Blumen in den Metallstreben. Manches an der Erinnerung an Mouhamed ist etwas verblasst in den vergangenen Monaten. Doch es hat noch eine Kontur.
„Wie ein kleiner Bruder“
„Er ist wie ein kleiner Bruder, den ich nie kennengelernt habe, mit dem ich aber gerne Fußball gespielt und Musik gehört hätte.“ Dieser Satz stammt von William Dountio, einem Dortmunder, den der Fall seit zweieinhalb Jahren intensiv beschäftigt hat – und wahrscheinlich auch nach dem Urteil weiter beschäftigen wird.

Was hier am 8. August 2022 passiert ist, ist im Prozess bis auf Sekunden und Meter genau immer wieder dargestellt worden. Am Ende steht dieses Bild: Eine Minute und 38 Sekunden, nachdem Mouhamed mit einem Messer gegen sich selbst gerichtet auf dem Boden hockend auf die Ansprache der Polizisten nicht reagiert, gibt Einsatzleiter Thorsten H. den Befehl „Einpfeffern. Das volle Programm.“
0,7 Sekunden bis zum Schuss
Durch das Pfefferspray steht Mouhamed – entgegen der Erwartung und Erfahrung des Einsatzleiters – auf, bewegt sich auf die Polizeibeamten zu, das Messer immer noch in der Hand. Zwei Taser-Schüsse bleiben wirkungslos, 0,7 Sekunden später schießt Fabian S. aus der MP5, um seine Kollegen zu schützen, wie er aussagt.
Die Frage, was an dem Aufstehen eine Angriffsbewegung gewesen sein könnte und was nicht, ist eine der zentralsten im Prozess. Letztlich argumentieren das Gericht und auch die Staatsanwaltschaft so:
Es ist erlaubt, einem Irrtum zu unterliegen, auch wenn die Folge davon so dramatisch sein kann wie im Fall von Mouhamed Dramé. Das heißt, obwohl sie mit der Erwartung eines Angriffs wohl falsch lagen, ist es nachvollziehbar, dass sie die Situation in diesem Moment so wahrgenommen haben. Für ihren Irrtum seien sie nicht zu bestrafen.
Die beteiligten Juristen wissen, dass diese rechtliche Konstruktion mit dem Namen Erlaubnistatbestandsirrtum schwierig zu verstehen ist. „Aber es ist Recht und Gesetz“, sagt Oberstaatsanwalt Carsten Dombert in einem Gespräch einige Tage vor dem Urteilsspruch.
Kampf um die Deutungshoheit
Im August 2022 sind all diese Details zum Ablauf noch nicht bekannt. Dennoch beginnt nicht einmal eine Stunde nachdem Mouhameds Tod festgestellt worden ist der Kampf um die Deutung dieses Falles.
Den ersten Schritt geht die Polizei Dortmund mit einer Mitteilung am Abend des 8. August, der das Narrativ „Angriff“ enthält. Wenige Tage danach wiederholt NRW-Innenminister Herbert Reul das in einem Interview. Er wird später selbst „Zweifel“ an der Richtigkeit des Einsatzes einräumen.
Dabei kommen nur nach und nach Informationen zum Einsatz ans Licht. Viel zu langsam für eine emotionalisierte Öffentlichkeit. Es ist die Zeit, die die Verteidiger fast aller Angeklagten in ihren Schlussplädoyers als die Zeit vieler Vorverurteilungen beschreiben.
Zum bizarren Schauspiel entwickelt sich die Beisetzung von Mouhamed Dramés Leichnam. Auf dem Hauptfriedhof ist bereits ein Grab ausgehoben. Erst am Vormittag vor dem Beerdigungstermin am 15. Dezember 2022 kommt die Nachricht, dass der Sarg in den Senegal überführt werden soll. Die leere Grube wirkt als starkes Symbol für die vielen Widersprüche, die Mouhameds Tod auslöst.

Angeklagte im Fokus
Als die Angeklagten am Tag der Entscheidung das Gerichtsgebäude verlassen, endet für sie die womöglich schwierigste Zeit in ihrem Leben. Hinter fünf Polizistinnen und Polizisten, bis auf den Einsatzleiter noch am Anfang ihres Lebensweges, liegen 31 Prozesstage im Fokus.
Bis in tiefe Details ist ihr Leben hier in der Öffentlichkeit ausgebreitet worden. Das reicht in private Chatverläufe hinein und Nachfragen zu Liebesbeziehungen. Es bietet ungefilterte Sicht auf Unterhaltungen zu Beginn der Ermittlungen. Nachrichten enthalten Sätze wie „Die Wichser in Recklinghausen…“, womit die anfangs ermittelnde Polizeibehörde aus der Dortmunder Nachbarschaft gemeint ist.
Berührendes letztes Wort
Diese menschliche Seite wird sichtbar. Das ist bei den Worten des Schützen Fabian S. so, als dieser im April zum ersten Mal öffentlich aussagt. Und kurz danach einen Weg geht, den auch ein erfahrener Staatsanwalt wie Carsten Dombert in dieser Form noch nicht erlebt hat. In Medieninterviews macht er eine Art zweite Aussage. Ungewöhnlich, aber eine legitime Strategie. „Ich verurteile ich nicht. Für ihn geht und ging es sehr viel“, sagt Dombert.
Am vorletzten Prozesstag nimmt die Angeklagte Pia B. das Recht auf das „letzte Wort“ für sich in Anspruch. „Keiner von uns hat das gewollt“, sagt sie und unterbricht, weil ihr die Tränen kommen. „Es tut mir so unfassbar leid für alle Beteiligten.“ Sie schafft etwas, was es in den vielen Prozessstunden zuvor so noch nicht gegeben hatte.
Blick auf Mouhameds Brüder
Für einen kurzen, sehr kurzen Moment wirkt es, als hätten alle im Saal, egal wie sie in der Sache positioniert sind, dieselbe Empfindung. Echtes Bedauern über die Unausweichlichkeit der Dinge an diesem tragischen August-Abends in Dortmund.
B. adressiert ihre Worte auch direkt an Sidy und Lassana, Mouhameds Brüder, die im Saal sitzen. „Dieses persönliche Wort hat den Brüdern etwas bedeutet“, sagt ihre Anwältin Lisa Grüter.
Entwicklung in Dortmund
Die Worte bringen ihnen Mouhamed nicht zurück. Es gibt viele Momente, in denen die beiden unendlich traurig wirken, wenn es um Details oder gar immanente Vorwürfe gegen ihren Bruder geht. Aber es gibt auch eine sichtbare Entwicklung zwischen den beiden sehr entschlossenen, aber zugleich schüchternen Männern aus dem Senegal, die Ende 2023 hier ankommen und zwischen den beiden Männern, die sie knapp ein halbes Jahr später sind.
Vor einem der letzten Verhandlungstage begrüßt Sidy bekannte Gesichter vor dem Gerichtsgebäude, er sagt einige Sätze auf Deutsch. Lassana, der jüngere der beiden, ist sogar schon weiter, er kommuniziert immer mehr auf Deutsch.
Beide haben viele neue Erfahrungen in Deutschland gesammelt. Dazu gehören auch Momente der Freude. Auch, wenn sie beide wünschten, sie hätten nie hierherkommen müssen, weil das bedeuten würde, dass ihr Bruder dann noch leben würde.
Die Urteilsverkündung ist für sie der schwerste aller Momente. Sidy zittert, Lassana weint, dabei folgen sie der Übersetzung des Dolmetschers in ihre Muttersprache Wolof.
Als Richter Thomas Kelm um 14.05 Uhr mit den Worten „Vielen Dank, das war’s“ den Prozess beendet, schallen aus den Kehlen vieler Besucher „Justice for Mouhamed“-Rufe durch den Gerichtssaal. Als nach und nach alle aus dem Raum sind, bleiben Sidy und Lassana noch einen Moment drinnen. Sidy vergräbt das Gesicht in den Händen, Lassana Kopf liegt auf dem Tisch.
Was bleibt von diesem Prozess?
Was bleibt, 857 Tage nach den Schüssen an der Holsteiner Straße und nach dem Ende dieses Prozesses?
Das ganze Land blickt seit dem Vorfall auf Dortmund. Aber niemand zeigt mit dem Finger auf die Stadt. Weil alle das Gefühl haben: Das könnte auch bei uns passiert sein oder noch passieren.
Was die juristische Aufarbeitung von Fällen von Polizeigewalt angeht, ist in Dortmund möglicherweise etwas gelungen, das noch lange Juristen in diesem Land als Lehrmaterial begleiten könnte.
Unabhängig davon wie man persönlich die Urteile deutet: Den Eindruck, dass hier mit großer Sorgfalt und Achtung vor Rechtsgrundsätzen ein komplizierter Fall aufgearbeitet wurde, teilen alle Beteiligten von Verteidigung bis Nebenklage.
Viele Fragen sind angestoßen
Es gibt viele Fragen, die angestoßen sind, die aber stehen bleiben. Struktureller Rassismus, die Situation von unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten, die unzureichende Versorgung mit psychologischer Versorgung: Die Komplexität solcher Themen löst selbst eine Gerichtsverhandlung dieser Größe nicht auf. Das ist auch nicht ihre Aufgabe.
Für die Polizei bleiben Erkenntnisse über ihre Arbeit. Häufig genannt wird, zum Beispiel von Oberstaatsanwalt Carsten Dombert, ein verbesserter Umgang mit Menschen in psychischen Ausnahmesituationen.
Zur Realität dieses neuen Umgangs sagt Astrid Cramer für die Polizeigewerkschaft GdP: „Das einzige, was hinzugekommen ist, sind weitere Schulungen im Umgang, das wird ein bisschen angepasst.“ Das grundsätzliche einsatztaktische Vorgehen wie im Fall Mouhamed Dramé „würde man weiter so empfehlen“.
Weiterhin Bedarf nach „Aufklärung“
Die Zahl der Menschen, die durch Schüsse von Polizisten bei Einsätzen gestorben sind, steigt seit dem Vorfall. 2024 verloren bisher 19 Menschen ihre Leben durch tödliche Polizeischüsse. Das sind acht mehr als im Vorjahr und so viele wie seit 1999 nicht mehr. Das ist nur ein Fakt und ein direkter Zusammenhang zum Fall Dramé nicht erkennbar.
Aber es erklärt, warum etwa der „Solidaritätskreis Mouhamed“, der zu der Demonstration am 14. Dezember aufruft, weiterhin Bedarf an „kritischer Reflexion und Aufklärung“ sieht.
In einem Statement heißt es: „Es kann nicht sein, dass derart folgenreiches Handeln ohne Konsequenzen bleibt. In unseren Forderungen geht es gar nicht um besonders hohe Strafen, sondern um Verantwortungsübernahme und Veränderung.“
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