Ist die Impfskepsis unter Menschen mit Migrationshintergrund höher? Eine Spurensuche.

© Tobias Weckenbrock

„Migranten sollen als Sündenböcke für schleppende Impfungen herhalten“

rnInnenstadt-Nord

Die Zahl der Corona-Infektionen in der Nordstadt ist vergleichsweise hoch. Gleichzeitig gibt es eine Debatte über Impf-Skepsis unter Migranten. Was ist dran? Eine Annäherung an ein schwieriges Thema.

Dortmund

, 05.08.2021, 04:00 Uhr / Lesedauer: 4 min

Seit dem Beginn der Corona-Pandemie sticht ein Stadtteil in Dortmund bei der Anzahl der Infektionsfälle besonders hervor: die Nordstadt. Die Quote von 713,4 bestätigten Corona-Infektionen pro 10.000 Einwohner (Stand 12. Juli) ist die höchste im Dortmunder Stadteilvergleich.

Auch bei der Impfkampagne ist die Nordstadt in den Fokus der Stadt gerückt. Es steht die These im Raum, dass die Impfbereitschaft bei Menschen mit Migrationshintergrund besonders niedrig ist. Gesundheitsminister Jens Spahn hatte Ende April in einem internen Gespräch, das öffentlich geworden ist, geäußert, dass es eine große Herausforderung sei, „bei Migranten für die Impfungen zu werben.“ Aber lässt sich diese These halten?

„Allgemeine Skepsis bei eingewanderten Menschen“

Bei der Stadt Dortmund scheint man die Bedenken des Gesundheitsministers zu teilen. Dr. Frank Renken, Leiter des Dortmunder Gesundheitsamtes, hat die Einschätzung, dass es eine allgemeine Skepsis – besonders bei der Corona-Impfung – gerade bei eingewanderten Menschen und ihren direkten Nachkommen gibt. Sie machen einen Großteil der Bewohner der Nordstadt aus.

„Der Anteil von Migranten ist bei den Impfungen unterrepräsentiert“, sagt Dr. Frank Renken, Leiter des Dortmunder Gesundheitsamtes.

„Der Anteil von Migranten ist bei den Impfungen unterrepräsentiert“, sagt Dr. Frank Renken, Leiter des Dortmunder Gesundheitsamtes. © Stephan Schuetze

So gibt es in dem Stadtteil und auch in Moscheen im Stadtgebiet immer wieder Sonderimpfaktionen. Die erste dieser Aktionen im Juni in der Nordstadt hatte sichtbaren Erfolg: Die Warteschlange für die Impfung ging einmal um den Block, zum Teil warteten die Menschen mehrere Stunden in der prallen Sonne auf „den Piks“.

Nach Beobachtungen unserer Redaktion ließen sich dort aber vor allem viele Studentinnen und Studenten und Anwohnerinnen und Anwohner aus der Nordstadt impfen, die die Stadt eigentlich nicht mit dieser Aktion ansprechen wollte. Der Ansturm wiederholte sich bei den weiteren Aktionen nicht.

Dennoch: Auch die jüngste Impfaktion im Juli stuft die Stadt als erfolgreich ein, da 800 Menschen geimpft worden seien, so Stadtsprecherin Widow. Zum Gesamtbild gehört, dass sich die Aktion zunächst explizit nur an Anwohner aus dem Dortmunder Norden gerichtet hatte. Weil die Resonanz am ersten Tag aber gering war, wurde der Kreis auf ganz Dortmund erweitert.

Bei Sonderimpfaktionen in Moscheen sind zuletzt jeweils knapp 70 Menschen geimpft worden. Am Freitag gibt es eine weitere in einer Moschee in der Nordstadt.

Es fehlen Zahlen

Gesundheitsamts-Leiter Dr. Renken sagt im Gespräch mit unserer Redaktion, dass „der Anteil von Migranten bei den Impfungen unterrepräsentiert“ sei. Zumindest seien das die Erkenntnisse des Impfzentrums und jene nach Auswertung der Sonderimpfaktion. Zudem werde in den Arztpraxen in der Nordstadt vergleichsweise wenig Impfstoff bestellt.

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Wobei Dr. Renken anmerkt, dass dies zwar Indizien seien - dass es aber keine Möglichkeit gebe, die Annahme, dass die Impfquote bei eingewanderten Menschen und ihren Nachkommen geringer ausfalle, mit Zahlen zu belegen. Bei Corona-Impfungen würden die Meldedaten der Menschen nicht erfasst. Weder der Stadt Dortmund noch dem NRW-Gesundheitsministerium liegen zur Impfquote bei Migranten Zahlen vor.

Dilek Şahin findet deshalb, dass man eine Skepsis nicht pauschal so behaupten kann. Sie ist Ärztin im St. Johannes Hospital, impft im Impfzentrum auf Phoenix-West und war an Sonderimpfaktionen in der Nordstadt und in Moscheen in Hörde und Huckarde beteiligt. „Die Leute in der Nordstadt sind keine Querdenker“, sagt sie - sondern viele seien schlicht verunsichert: „Genauso wie die Deutschen auch“. Das große Problem: „Die Aufklärung fehlt in der Nordstadt.“

Dilek Şahin (Mitte) bei der Impfaktion am Fredolino-Freizeitpark im Fredenbaumpark im Juli.

Dilek Şahin (Mitte) bei der Impfaktion am Fredolino-Freizeitpark im Fredenbaumpark im Juli. © Büker

Laut Şahin müsse mehr dafür getan werden, dass die Leute zuverlässig und umfassend informiert werden. Die Debatten über stetig wechselnde Stiko-Empfehlungen, Nebenwirkungen, politische Fehlentscheidungen und anderen Horror-Geschichten über die Corona-Impfungen kämen eben auch bei Dortmunderinnen und Dortmundern mit Migrationshintergrund an.

Informationsweitergabe nach dem Stille-Post-Prinzip

Und sie würden oft auch nach dem Stille-Post-Prinzip weitergedichtet und verbreitet, pflichtet Fatime Şahin ihrer Namensvetterin bei. Die 44-Jährige sitzt als Vertreterin des „Bündnis für Vielfalt und Toleranz“ in der Bezirksvertretung und ist in der Nordstadt-Community gut vernetzt.

Fatime Şahin sitzt in der Bezirksvertretung der Nordstadt. Eine generelle Impfskepsis sieht sie bei Menschen mit Migrationshintergrund nicht.

Fatime Şahin sitzt in der Bezirksvertretung der Nordstadt. Eine generelle Impfskepsis sieht sie bei Menschen mit Migrationshintergrund nicht. © Mustafa Sirin

Ein Problem sei, dass man die Menschen mit Migrationshintergrund zu spät adressiert habe, findet Fatime Şahin. „Im Nachhinein hat sich die Stadt ziemlich angestrengt, aber die Flyer in den verschiedenen Sprachen hätten schon früher verteilt werden müssen. Man wusste doch, dass man irgendwann allen Menschen ein Impfangebot machen kann.“

In der verstrichenen Zeit hätten Zweifel wachsen können, weil sich auch Menschen in der Nordstadt Informationen über andere, auch dubiose Quellen verschafft hätten.

Es sei wie in der deutschen Bevölkerung: „Einige haben Zweifel, einige hatten falsche Information und andere möchten sich nicht impfen lassen.“ Das sei keine Frage des kulturellen Hintergrunds, sagt Fatime Şahin.

„Sündenbock für schleppende Impfkampagne“

„Für mich passt es leider wieder ins Bild, dass Migranten als Sündenböcke für eine schleppende Impfkampagne herhalten sollen. Man stellt uns wieder unter Generalverdacht, indem man uns unterstellt, wir würden die Regeln nicht akzeptieren“, sagt die Bezirksvertreterin. „Im Koran gibt es keinen Abschnitt, in dem steht, man solle sich nicht impfen lassen.“

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Die Ärztin Dilek Şahin kann das Vorurteil, dass strenggläubige Muslime die Corona-Impfung ablehnen, ebenfalls nicht bestätigen: „Grundsätzlich sind muslimische Leute sehr reinlich, sie legen viel Wert auf Gesundheit.“

Ein Problem sei, dass sich die Menschen in den nicht-deutschen Communitys in der Regel nicht über lokale Medien oder auf den Plattformen der Stadtverwaltung informierten – auch wenn die Ärztin die Bemühungen der Stadt grundsätzlich begrüßt, mehrsprachige Informationsmaterialien in Text und Bewegtbild bereitzustellen. Das reiche aber eben nicht aus, findet die Impfärztin.

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Deshalb ist Dilek Şahins Ansatz ein pragmatischerer: „Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, kommt der Berg eben zum Propheten“, scherzt sie - und setzt auf weiteren Zulauf bei den Impfaktionen.

„Mit Pauschal-Aussagen tut man den Menschen unrecht“

Aktuell sei das aber schwierig, glaubt Fatma Michels. Die Gynäkologin war an den Impfaktionen in der Nordstadt als impfende Ärztin und Initiatorin beteiligt. Sie sieht ganz pragmatische Probleme: „In den Sommerferien erreicht man fast niemanden mehr. Viele Menschen besuchen ihre Verwandten in ihren Heimatländern.“

Das sei eine Erklärung, warum man aktuell weniger Menschen mit Migrationshintergrund über Sonderimpfaktionen adressieren könne. Eine breite Impfskepsis könne sie unter Menschen mit Migrationshintergrund nicht feststellen, sagt auch diese Ärztin. „Damit tut man den Menschen unrecht.“

Die Gynäkologin Fatma Michels beteiligt sich an Sonderimpfaktionen, die gezielt Menschen mit Migrationshintergrund ansprechen sollen.

Die Gynäkologin Fatma Michels beteiligt sich an Sonderimpfaktionen, die gezielt Menschen mit Migrationshintergrund ansprechen sollen. © privat

Die Menschen, seien froh, dass es für sie nun die Möglichkeit gebe, sich leicht zugänglich impfen zu lassen. „Viele, die ich bei den Impfaktionen angetroffen habe, sagten, sie hätten schon eine Infektion hinter sich und wollten keinesfalls erneut erkranken.“ Lange sei es für sie aufgrund der Knappheit der Impftermine und auch sprachlichen Hürden schlicht zu schwierig gewesen.

Ärzte und Ärztinnen, die wie sie türkische Wurzeln haben, seien ein Faktor, Hürden abzubauen und Vertrauen zu schaffen. Diese Erfahrungen hat auch Dilek Şahin gemacht. „Wir können gezielt auf die Leute zugehen, Ängste nehmen und Fragen beantworten – und das auch in der Muttersprache.“

Nächste Sonder-Impfaktion

In den Räumen der Ahmet Yesevi Camii Moschee zu Dortmund (Münsterstraße 158, 44145 Dortmund) gibt es am Freitag (6.8) zum dritten Mal eine Sonderimpfaktion in einer Dortmunder Moschee. Durchgeführt wird die Aktion von der Ärztin Dilek Sahin gemeinsam mit dem Impfzentrum Dortmund und der KVWL. Von 10 bis 17 Uhr kann sich jede impfwillige Person ab 16 Jahren mit dem Impfstoff von Biontech beziehungsweise ab 18 Jahren mit dem Impfstoff von Johnson & Johnson impfen lassen. Es wird um Anmeldung gebeten. Anmelden können sich alle Interessierten telefonisch unter 0176-74724988. Mitzubringen sind ein Personalausweis und gegebenenfalls ein Impfpass – sofern vorhanden. Falls ein Impfpass nicht vorhanden sein sollte, wird eine Impfbescheinigung ausgestellt. Die Moschee liegt in der Nähe der U-Bahn-Haltestelle Lortzingstraße.