„Fachkräftemangel hat Einzug gehalten“ Dortmunds neue Schuldezernentin vor schweren Aufgaben

„Kinder in Dortmund sollen über sich hinauswachsen“
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„Tafelbilder“ auf Papier mit Gedanken zu verschiedenen Bildungsthemen zieren das Büro von Schuldezernentin Monika Nienaber-Willaredt. „Ich bin immer noch mit Leib und Seele Lehrerin“, erklärt die 56-Jährige. Das kommt ihr jetzt mit Sicherheit auch in ihrem neuen Job zugute.

Seit gut 100 Tagen ist Monika Nienaber-Willaredt, die zuletzt im Schuldezernat der Bezirksregierung Arnsberg gearbeitet hat, Dezernentin für Schule und Jugend der Stadt Dortmund. Wir zogen mit ihr eine erste Bilanz.

Wir waren neulich beim Projekt Essen und Lernen in der Nordstadt. Dort werden Kinder betreut, die keinen Kita- oder OGS-Platz oder sogar noch keinen Schulplatz zugewiesen bekommen haben. Gerade in der Nordstadt scheint es immer noch große Probleme bei der Versorgung in Sachen Schule zu geben.

Die Nordstadt stellt in der Tat ein Brennglas dar: Sie ist ein dynamisches Quartier, in dem viele Problemlagen konzentriert auftreten. Die Zuwanderung von schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen stellt das gesamtstädtische Schulsystem vor eine große Herausforderung.

Allein im Schuljahr 2021/22 mussten in gesamten Stadtgebiet 2.911 zugewanderte Kinder zusätzlich mit einem Schulplatz versorgt werden – hinzukommen regulär die circa 5.600 Schulanfängerinnen und Schulanfänger

Das ist nochmal ein halber Jahrgang obendrauf.

Ja, genau. Im aktuell laufenden Schuljahr, in dem wir nicht einmal das erste Halbjahr absolviert haben, sind bereits 698 schulpflichtige Kinder neu in Dortmund sesshaft geworden. Jeden Monat kommen um die 100 Kinder und Jugendliche neu hinzu.

Allerdings haben wir bei der Zuweisung von Schulplätzen große Fortschritte gemacht. Zu Beginn des Schuljahres standen noch ca. 1.200 Kinder auf der Warteliste, jetzt sind es 384 – davon 161 Grundschulkinder.

Ein Großteil der Schülerinnen und Schüler kamen in diesem Jahr aus der Ukraine zu uns. Mittlerweile hat sich das Bild verändert. Der Anteil der ukrainischen Kinder, die zu uns kommen, macht nur noch etwa ein Fünftel aus. Aktuell kommt ein großer Anteil an spanischen Kindern und Jugendlichen nach Dortmund. Dazu kommen weiterhin Kinder aus Syrien, Rumänien und Bulgarien, ein Teil aus Somalia, Afghanistan, der Türkei, Polen und anderen Ländern.

Schon vor dem Ukraine-Krieg sind etwa 1.000 Kinder und Jugendlich pro Jahr nach Dortmund zugewandert. Migration und Integration sind für die Stadt zur wichtigen Daueraufgabe geworden. Dabei sehe ich die Zuwanderung auch als Chance, langfristig dem Fachkräftemangel zu begegnen.

Wie sind die Schulen darauf eingestellt?

Unsere Schulen haben im Moment so gut wie keine freien Kapazitäten mehr. Deshalb haben wir an drei zusätzlichen Bildungsstandorten Klassen für neu zugewanderte Jugendliche der Sekundarstufe I eingerichtet. Im Heinrich-Schmitz-Bildungszentrum am Westpark lernen seit den Herbstferien 120 Schülerinnen und Schüler, die zwei Gymnasien als Stammschulen zugeordnet sind. Nach den Weihnachtsferien geht es an der ehemaligen Frenzelschule in Hörde mit bis zu 300 Kindern und Jugendlichen weiter und im April starten weitere Klassen in der ehemaligen Hauptschule Wickede, die zuletzt von der Max-Wittmann-Schule genutzt wurde.

Interessant in dem Kontext ist, dass die ukrainischen Kinder überall im Stadtgebiet ankommen, weil viele von ihnen privat untergebracht werden. Fast alle anderen Geflüchteten leben in der Nordstadt.

Das Problem ist, dass die Grundschulkinder nicht so mobil sein können. Wir müssen sie zum Schulbesuch entweder mit Bussen in andere Stadtteile fahren oder in der Nordstadt unterbringen. Daher gibt es dort auch noch eine Warteliste. Für einige der Kinder und Jugendliche haben wir als Übergangslösung sogenannte Brückenangebote eingerichtet.

Bildungsgerechtigkeit als Ziel: Schuldezernentin Monika Nienaber-Willaredt vor einem ihrer „Tafelbilder“.
Bildungsgerechtigkeit als Ziel: Schuldezernentin Monika Nienaber-Willaredt vor einem ihrer „Tafelbilder“. © Gaby Kolle

Wie kann und soll denn die Integration der Kinder funktionieren?

Wir sorgen dafür, dass an den zusätzlichen Standorten ganz viel Begegnung stattfindet und die Kinder und Jugendlichen nicht unter sich bleiben. Wir entwickeln mit den Stammschulen pädagogische Konzepte, die auch die Eltern einbeziehen.

Ein großer Bereich stellt natürlich die Deutschförderung dar, teilweise auch mit studentischer Unterstützung. Nachmittags erhalten die Kinder und Jugendlichen Angebote aus dem Programm „Angekommen“. Die Jugendlichen erkunden zusammen mit ihren Patinnen und Paten - das sind die Mitschülerinnen und Mitschüler aus den Stammschulen - die Stadt als ihr neues Lebensumfeld.

Ähnliche Probleme gibt es bei der Kita-Betreuung. Auch da sind die Plätze in der Nordstadt besonders knapp...

Bei den Drei- bis Sechsjährigen lag die Versorgungsquote zum Stichtag 31.12.21 in der Nordstadt bei 92,6 Prozent – stadtweit sind es 95 Prozent, im U3-Bereich stadtweit bei 37,7 Prozent und in der Nordstadt bei 30,1 Prozent. Da müssen wir auch weiter stark ausbauen, sowohl aus einer Perspektive der Vereinbarkeit von Familie und Beruf als auch der frühen Förderung von Kindern. Dazu gehören neben Themen wie Bewegung oder Musik auch die Sprachförderung.

Kinder aus Familien, die zugewandert sind, tauchen in der Kita in das sogenannte „Sprachbad“ ein und lernen nicht nur ihre Muttersprache, sondern durch die sprachlichen Vorbilder auch die deutsche Sprache. Je früher, desto schneller und besser – da ist sich die Wissenschaft einig. Aber auch alle anderen Kinder profitieren von einer auf Mehrsprachigkeit ausgerichteten Kita.

In vielen Ländern ist es nicht üblich, Kinder im frühen Alter außerhalb der Familie betreuen zu lassen. Deshalb ist es wichtig, Eltern gezielt anzusprechen und sie über unsere Angebote zu informieren.

Trotz Knappheit wirbt man also dann für den Kita-Besuch?

Genau. Wir wollen Kita und Schule zu Lebens- und Lernorten für die gesamte Familie machen. Wir möchten vernetzte Angebote schaffen. So könnten, während der Betreuungszeit in der Kita, Eltern dort direkt auch einen Sprachkurs besuchen oder sich über Erziehungsfragen austauschen.

Solche Angebote gibt es in verschiedenen Kitas schon, viele Einrichtungen sind inzwischen geförderte Familienzentren. Dieses Prinzip soll auch auf die Grundschulen übertragen werden. Sechs Schulen nehmen bereits als Familien-Grundschul-Zentren an einem Modellversuch des Landes teil. Der Einbezug der Familien soll dort auch ein Schwerpunkt der Offenen Ganztagsschule (OGS) sein.

Kita und Schule sollen zu Lern- und Lebensorten werden, wünscht sich Monika Nienaber-Willaredt.
Kita und Schule sollen zu Lern- und Lebensorten werden, wünscht sich Monika Nienaber-Willaredt. © Gaby Kolle

Das wäre das nächste Thema. Auch da muss ja noch ausgebaut werden, weil die Nachfrage größer als das Angebot ist...

Richtig. Ab dem Schuljahr 2026/27 haben alle Eltern von Erstklässlerinnen und Erstklässlern einen Rechtsanspruch auf einen Platz im Offenen Ganztag. Diesen Anspruch müssen und wollen wir umsetzen. Auch hier geht es um Teilhabe und Bildungsgerechtigkeit sowie die Möglichkeit zur Vereinbarung von Familie und Beruf.

Da ist die OGS eine ganz entscheidende Schnittstelle zur Lebenswelt der Familien. Wir können in Dortmund schon eine gut ausgebaute Landschaft vorweisen, auch wenn wir noch nicht in der Lage sind, jedem Kind einen Ganztagsplatz anbieten zu können.

Oft gibt es Platzprobleme an den Schulen.

Auch in diesem Handlungsfeld müssen wir sehr flexibel und kreativ denken, um für alle Kinder ein Angebot zu schaffen. Natürlich bauen und planen wir weitere Gebäude. Neubauten nehmen jedoch viel Zeit in Anspruch und nicht jeder Standort verfügt über freie Flächen.

Gemeinsam mit den Schulen vor Ort suchen wir derzeit nach flexiblen Lösungen und arbeiten an Modellen, die vorhandenen Räume sowohl für den Unterricht als auch für die Nachmittagsangebote multifunktional zu nutzen. Da gibt es bereits zukunftsweisende Konzepte, die wir auf den Prüfstand stellen.

Die Träger fragen auch nach der Qualität…

Auch für mich fängt alles bei der Qualitätsdiskussion an. Da geht es ums Bauen, aber auch um das Fachpersonal. OGS-Qualität zeichnet sich dadurch aus, dass wir allen Kindern einen Lebensort bieten, an dem sie sich hervorragend entfalten können. Dazu gehört die Entwicklung von Kopf, Herz und Hand.

Dies gelingt, wenn die OGS mit der Schule, aber auch mit den Bildungspartnern vor Ort eng zusammenarbeitet – immer mit der gemeinsamen Perspektive, die das Kind in den Mittelpunkt stellt. Wir haben ein Modell, den sogenannten Kindercampus, entwickelt, den wir an zwei Standorten, der Stifts-Grundschule in Hörde und der Westhausen-Grundschule in Westerfilde, erproben werden. Vor Ort wollen wir uns mit allen lokalen Bildungspartnern vernetzen und Musik, Kultur und Sport, aber auch die Jugendhilfe in den Ganztag holen. Dabei muss nicht immer alles in den Schulgebäuden stattfinden, sondern das ganze Quartier muss erlebbar werden.

Darüber hinaus ist eine Servicestelle Bildungspartnerschaften als Schnittstelle zwischen Verwaltung, FABIDO, Jugendhilfe, Schule und den Bildungseinrichtungen geplant. Dortmund ist eine Stadt mit vielen hochwertigen Angeboten. Wir brauchen eine übersichtliche Plattform, um diese auch allen zugänglich zu machen.

Für Qualität in der OGS braucht es aber vor allem auch qualifiziertes Personal.

Ich möchte die Träger dabei unterstützen, qualifiziertes Personal zu gewinnen. Dabei werden wir auch neue Wege der Personalakquise und Personalqualifizierung gehen, denn auch in Dortmund hat der Fachkräftemangel Einzug gehalten.

Was steht inhaltlich im Mittelpunkt?

Die neuesten Studien zeigen, dass es immer noch einen hohen Anteil an Kindern gibt, der am Ende der vierten Klasse die Kernkompetenzen Lesen, Schreiben, Rechnen nicht ausreichend beherrschen. Hier gilt: Es gibt eine Verbindung zwischen Bildungserfolg und der sozialen Herkunft. Damit dürfen wir uns als Gesellschaft nicht mehr abfinden. Da müssen wir zum Nutzen der gesamten Stadtgesellschaft beherzt noch aktiver werden.

Häufig sind die Kinder noch nicht dazu in der Lage, die Basalkompetenzen zu erwerben, weil sie keine Chance hatten, grundlegende Fähigkeiten zu erlernen, um sich auf das Lernen in der Schule einlassen zu können. Da geht es um Sprachkompetenz und Motorik, aber auch um gesundes Essen und passende Kleidung sowie um verlässliche soziale Bindung. Mein Part ist es, Bedingungen zu schaffen, die es ermöglichen, dass die Kinder sich für das Lernen öffnen können.

Vieles klingt so, als könnten Sie im Moment nur Lücken stopfen. Aber man hört auch den Willen heraus, aus der Not eine Tugend machen zu wollen. Macht Not auch erfinderisch?

Wir müssen ja mit den Herausforderungen umgehen. Wir stehen als Gesellschaft vor großen Aufgaben. Da können wir nicht nach Plan A vorgehen, sondern suchen flexibel und kreativ nach Lösungen. Wichtig ist, dass wir die Kinder, Jugendlichen und Familien nicht verlieren, sondern sie einladen und motivieren, am Leben in Dortmund zu partizipieren. Das ist mein Ziel.

Monika Nienaber-Willaredt sieht Entspannung im Jugendhilfe-Bereich.
Monika Nienaber-Willaredt sieht Entspannung im Jugendhilfe-Bereich. © Gaby Kolle

Sie sind auch zuständig für das Jugendamt. Es gibt etwa in Köln Proteste, weil Personal in der Jugendhilfe fehlt. Wie sieht es aktuell in Dortmund aus?

Es gab auch in Dortmund massive Probleme in den Jugendhilfe-Diensten. Danach wurde ein sogenannter 25-Punkte-Plan auf den Weg gebracht, um die Welle derjenigen, die uns verlassen haben, zu brechen. Es wurden verschiedene Qualifizierungsmodelle entwickelt. Ich habe vor zwei Wochen die Teilpersonalversammlung der Jugendhilfe-Dienste besucht und viele zuversichtliche Kolleginnen und Kollegen der Jugendhilfe getroffen.

Eine erzählte, dass sie seit drei Jahren dabei sei. Damals seien sie zu viert gewesen, jetzt seien sie elf. Das sind ganz neue Verhältnisse. Und wir gehen davon aus, dass wir Ende des zweiten Quartals 2023 voll besetzt sind. Diese Erfahrungen können wir auch in anderen Bereichen zur Personalgewinnung nutzen.

Wie hat sich denn die Zahl der Jugendhilfe-Fälle entwickelt? Gab es da durch Corona einen Anstieg?

Aufgrund der Corona-Pandemie sind die erfassten Fälle sogar zunächst eher zurückgegangen. Bei den erzieherischen Hilfen hat in der Zeit vieles aus nachvollziehbaren Gründen gar nicht stattfinden können. Jetzt beginnen sich die Zahlen langsam wieder einzupendeln.

Wie sehen Sie die Verzahnung von Schul- und Jugendbereich?

Für mich liegt der Reiz meiner Aufgabe darin, Menschen von minus neun – also schon mit der Schwangerschaft – bis zu dem Zeitpunkt, zu dem sie in den Beruf gehen, zu begleiten. Da ist jede Lebensphase gleichermaßen bedeutsam. Mir kommt es dabei darauf an, dass die Übergänge kind- und jugend- und familiengerecht gestaltet werden. All dies gelingt nur in der vernetzen Zusammenarbeit der vielen Akteurinnen und Akteure.

Ich wünsche mir, dass wir in der Zusammenarbeit immer wieder den Blick auf die Potenziale der Kinder und Jugendlichen richten. Sie können so viel mehr, als uns bewusst ist! Das gilt für alle Kinder und Jugendliche in ganz Dortmund. Ich stehe an der Seite von Oberbürgermeister Westphal. Unser Ziel ist es, dass in Dortmund alle Kinder über sich hinauswachsen sollen.

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