Was soll mit den Drogenabhängigen und Obdachlosen in der City passieren? Wie gehen andere Städte mit dem Thema um? Was macht Dortmund gut, was muss noch besser werden? Für diese Fragen ist Dr. Tim Lukas ein guter Gesprächspartner.
Der Soziologe und Kriminologe forscht seit über einem Jahrzehnt zu urbaner Sicherheit an der Schnittstelle von Stadtentwicklung, Kriminalgeografie und Krisenmanagement. Der 49-Jährige leitet an der Universität Wuppertal die Forschungsgruppe „Räumliche Kontexte von Risiko und Sicherheit“.
Herr Dr. Lukas, seit Jahren wird in Dortmund über den richtigen Umgang mit der Drogen- und Obdachlosenszene in der Innenstadt gestritten. Wie erleben Sie als Wissenschaftler die Debatte?
Die Stadt steckt in einem Dilemma: In der Innenstadt gibt es zum Teil wirklich erhebliche Probleme aufgrund des veränderten Drogenkonsums, Stichwort: Crack. Wir haben dort auch eine Zunahme der Obdachlosigkeit wegen der Krise auf dem Wohnungsmarkt.
Zugleich scheinen aber auch die Toleranzschwellen gegenüber abweichendem Verhalten immer geringer zu werden - und der Ruf nach immer mehr Sicherheitsmaßnahmen bei Störungen im öffentlichen Raum immer lauter.

Aber ist das wirklich ein Dilemma? Kann man nicht einfach dem Wunsch nach mehr Kontrollen nachkommen und so die offene Drogen- und Wohnungslosenszene in der Innenstadt auflösen?
Dies führt nur dazu, dass die Szenen verdrängt und für die Straßensozialarbeit weniger gut erreichbar werden. Auch die Sicherheitsbehörden können sie so weniger gut kontrollieren. Beschwerden konzentrieren sich dann an anderen Orten, weil der Drogenkonsum beispielsweise in Hauseingängen oder Tiefgaragen stattfindet. Das alles ist nicht zielführend.
Besonders problematisch aber sind die Folgen für die betroffenen Angehörigen der Straßenszenen. Wir haben uns in zwei kleineren Forschungsprojekten mit den Angsträumen obdachloser und drogennutzender Menschen in Düsseldorf und Köln beschäftigt. Im Ergebnis zeigte sich, dass Kriminalisierung und Kontrolle ein hohes Maß an Unsicherheit erzeugen – und dies bei Menschen, deren Lebensumstände ohnehin durch existentielle Ängste geprägt sind.
Das Dilemma für die Stadt ist also, den Stimmen, die nach mehr Sicherheit und Kontrollen rufen, gerecht zu werden, ohne Maßnahmen durchzuführen, die vielleicht nicht sinnvoll sind und auch nicht immer finanzierbar sind. Das ist ein schwieriger Weg und schmaler Grat.
Nun ist die Drogenszene nicht nur in Dortmund ein Thema. In welchen Städten gibt es noch Diskussionen?
Eine große Debatte gibt es zum Beispiel am Kölner Neumarkt. Da hat man 2022 einen Konsumraum eingerichtet. Anwohner und Einzelhändler fürchten dort eine Sogwirkung, obwohl die wissenschaftlich so nicht belegt ist. Sie wollen, dass die Einrichtung wegkommt. In Düsseldorf-Flingern, wo ich wohne, gab es zuletzt eine Petition gegen ein neues Suchthilfezentrum, es wird über eine Klage nachgedacht.
Sehen Sie Parallelen zwischen den Diskussionen?
Definitiv. Eine Gemeinsamkeit ist sicherlich, dass die Arbeit der Suchthilfe unisono anerkannt ist und Drogenkonsumräume inzwischen in weiten Teilen der Gesellschaft als Teil der Lösung des Drogenproblems akzeptiert werden.
Wenn es aber um die Verortung dieser Einrichtungen im Stadtgebiet geht, entstehen Konflikte, die man als „NIMBY“-Konflikte bezeichnen kann [Abkürzung für „Not in my backyard“, auf Deutsch: „Nicht in meinem Hinterhof“, Anmerkung der Redaktion]: „Alles schön und gut, aber nicht in meiner Nachbarschaft.“ Nachbarschaft lässt sich dabei nicht nur auf das Wohnumfeld beziehen, sondern auch als Nähe zu Einzelhandel und Gastronomie oder zu Schulen verstehen.
Gibt es denn in Dortmund auch Besonderheiten?
Die Vehemenz der Debatte, die in Dortmund die Menschen zu einer Demonstration auf die Straße getrieben hat, ist sicherlich beachtlich [rund 1000 Schüler und ihre Eltern demonstrierten Ende 2024 gegen eine Verlegung des Drogenkonsumraums an die Küpferstraße nahe dem Stadthaus, in das Umfeld dreier Schulen, Anmerkung der Redaktion].
Wie bewerten Sie den Umgang der Stadt und der sozialen Akteure mit der offenen Drogen- und Wohnungslosenszene? Macht Dortmund da etwas besser oder schlechter als andere Großstädte?
Bundesweite Beachtung findet die Arbeit des eingerichteten Sonderstabs „Ordnung und Stadtleben“, in dem verschiedene Ämter und Behörden, aber auch die sozialen Träger zusammenarbeiten. Die Bearbeitung eines sozialen Problems in den Strukturen eines Stabes, den man andernorts nur als Krisenstab für die Bewältigung von Großschadenslagen nutzt, kenne ich aus keiner anderen Stadt.
Das kann einer der Wege sein aus dem Dilemma, dass Maßnahmen nicht immer finanzierbar sind, weil man im Sonderstab auf die kombinierten Ressourcen aller Beteiligten zurückgreifen kann. Außerdem ermöglicht er eine sehr enge Zusammenarbeit und eine sehr, sehr schnelle Handlungsfähigkeit. Das gefällt mir.
Gibt es denn auch Ideen anderer deutscher Städte, die aus Ihrer Sicht auch was für Dortmund wären?
In München gibt es zum Beispiel das „Allparteiliche Konfliktmanagement“ (AKIM). Das ist eine Stabsstelle des Münchner Wohnungsamts, die versucht, als neutrale Instanz Konflikte im öffentlichen Raum durch Gespräche vor Ort mit allen Beteiligten zu lösen. Diese Idee könnte man auch für Dortmund adaptieren.
Gehen Städte unterschiedlich mit sozialen Problemen im öffentlichen Raum um?
Ja, meines Erachtens gibt es in den Städten unterschiedliche Kontrollkulturen. Während man in Köln eine Politik des Laissez-Faire zu pflegen scheint, geht man beispielsweise in Düsseldorf oder auch in Dortmund eher ordnungspolitisch gegen solche Probleme vor.
Also mehr Kontrollen?
Ja. Ordnungspolitisch greift man zum harten Besen, sozusagen. Wobei natürlich auch sozialpolitisch viel gemacht wird. Im Englischen spricht man von der „Iron Fist in the velvet Glove“, der eisernen Faust im Samthandschuh.
Zuletzt hat die Stadt eine neue Freifläche vor dem Drogenkonsumraum eingerichtet, auf der sich die Drogenszene treffen kann, wenn sie nicht gerade im Konsumraum Drogen nimmt. Ist das ein Beispiel für solche sozialpolitischen Anstrengungen?
Genau. Es ist auch ein Beispiel, wie man gute Lösungen aus anderen Städten übernehmen kann. Städte wie Bremen, Münster oder Wuppertal haben in den vergangenen Jahren bereits Erfahrungen mit solchen „Akzeptanzflächen“ oder „Szenetreffpunkten“ sammeln können.
Die Erfahrungen zeigen, dass diese Orte dazu beitragen, den Druck von den etablierten Szenetreffpunkten zu nehmen. Wichtig ist aber auch, dass die Zuständigkeiten für diese Flächen klar geregelt sind und es ein Konzept dafür gibt, welche Verhaltensweisen auf diesen Akzeptanzflächen tatsächlich akzeptiert werden – und welche eben nicht. Die Stadt Dortmund hat das sehr klar kommuniziert und aus den Fehlern anderer Städte gelernt.
Welche Fehler haben andere Städte denn gemacht?
Genau wie jetzt in Dortmund gibt es in Bremen offene Überseecontainer als Unterstände. Aber in Bremen standen sich die Container gegenüber. Eine Gruppe eignete sich diesen Raum an und hing die Lücke zwischen den Containern mit Decken und Folie ab. Die hatte sich mehr oder weniger verschanzt, da traute sich nur noch die Polizei rein. Im Winter hatten die dann dort Gaskartuschen, um einen Ofen zu betreiben. Das war wirklich brandgefährlich.
Die Anlage in Dortmund ist sehr viel offener gestaltet, die Container stehen nebeneinander. Das ist ziemlich gut gemacht.
Was bräuchte es aus Ihrer Sicht, um das Problem zu lösen, das die Stadtgesellschaft mit Drogenabhängigen und Wohnungslosen hat?
Wenn wir nochmals auf die neue Freifläche zurückkommen: Es wird vermutlich nicht ausreichen, nur eine Fläche zu entwickeln. Die Szene der Menschen mit dem Lebensmittelpunkt auf der Straße ist nicht so homogen, wie manche sich das vielleicht vorstellen. Insofern wird man nicht umhinkommen, dezentral auch weitere Orte zu entwickeln.
Genau solche Orte für die Drogenszene werden ja derzeit in Dortmund gesucht. Aber wie dezentral sollen sie liegen? Diese Frage ist ja einer der zentralen Streitpunkte in der aktuellen Debatte. Was ist Ihre Meinung: Eher in die Innenstadt oder eher raus aus dem Zentrum?
Das kann man nicht prinzipiell sagen, da gibt es kein allgemeingültiges Rezept. In Bremen hat die Stadt ihre „Akzeptanzflächen“ nicht nur am Bahnhof entwickelt, sondern auch in Gröpelingen und Vegesack. Das sind zwei Stadtteile, von denen man weiß, dass dort Szene-Angehörige wohnen. Also ich würde immer dahin gehen, wo die Szene ist und sich aufhält beziehungsweise lebt.
Aber zusätzliche Orte für die Szene alleine werden das Problem nicht lösen.
Was braucht es denn noch?
Letztlich müssen wir als Gesellschaft unsere Toleranz gegenüber abweichendem Verhalten in städtischen Räumen fördern. Städte sind immer Orte der Begegnung mit Abweichung, mit dem Fremden. Das muss man aushalten, denn wenn wir das abschaffen, dann schaffen wir die Stadt als solches ab.