Inzidenz 200 als „das neue 50“? – Spahns Plan hat für Dortmund einen Haken

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Kann man in der nächsten Corona-Welle mehr Neuinfektionen hinnehmen? „200 ist das neue 50“, sagt Minister Spahn. Der Leiter des Dortmunder Gesundheitsamtes sieht Probleme - und zwar ganz praktische.

Dortmund

, 30.07.2021, 04:00 Uhr / Lesedauer: 3 min

Für Dortmund meldet das Robert-Koch-Institut (RKI) am Mittwoch (28.7.) eine 7-Tage-Inzidenz von 18,2. Tendenz steigend. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn sagte in der Woche zuvor mit Blick auf eine vierte Welle „200 ist das neue 50“.

Der Minister meinte damit, dass wegen des Impffortschritts neue Corona-Beschränkungen erst bei höheren Inzidenzen greifen sollten als in den zurückliegenden Infektionswellen; denn mit der Impfquote gingen weniger Krankenhauseinweisungen einher, die das Gesundheitssystem belasten würden.

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Aktuell seien 75 Prozent der über 60-Jährigen vollständig geimpft, drei Viertel also geschützt, ein Viertel nicht. Also drohe die Überlastung analog zur früheren Annahme nun erst ab dem Wert von 200, bei dem dann wieder strengere Corona-Maßnahmen nötig seien, so Spahn.

Eine andere Rechnung vor Ort

Den Überlegungen des Ministers kann der Leiter des Dortmunder Gesundheitsamtes, Dr. Frank Renken, durchaus etwas abgewinnen, aber für die Auswirkungen der Gesundheitsbehörde vor Ort macht er eine andere Rechnung auf.

„Die Aussage zur Neubewertung der aktuellen Inzidenzen ist im Grundsatz nachvollziehbar“, stellt Renken fest. Wenn es bei hohen Inzidenzen vergleichsweise nicht mehr zu einer hohen Sterblichkeit oder einer Überlastung des medizinischen Versorgungssystems komme, sollte die Inzidenzhöhe als Parameter für erneute einschränkende Maßnahmen angepasst werden, so der Amtsleiter. „Das wird auch seitens der Gesundheitsämter so gesehen und nachvollzogen.“

Allerdings hätte eine Neueinschätzung der 7-Tage-Inzidenz für das Gesundheitsamt einen Haken; denn höhere Fallzahlen führten in den Ämtern weiterhin zu einem höheren Arbeitsaufkommen, merkt Renken an: „Jeder neu auftretende Infektionsfall zieht mindestens ein gleich bleibendes Arbeitsaufkommen im Bereich ,Containment‘ seitens des Gesundheitsamtes nach sich – unabhängig von der Schwere der Krankheitsverläufe.“

Mehr relevante Kontakte

Unter Containment versteht man die Kontaktnachverfolgung bei jedem Infizierten, um mögliche Ansteckungen rechtzeitig zu erkennen und Betroffene in Quarantäne zu nehmen.

Grundsätzlich sei sogar von einer erheblichen Zunahme des Arbeitsvolumens in den Ämtern auszugehen, meint Renken. „Es werden immer mehr Jüngere mit deutlich mehr Sozialkontakten betroffen sein. Wenn die Kontaktbeschränkungen aufgehoben sind oder nur noch in Teilen gelten, führt das zu einer höheren Anzahl relevanter Kontakte der meisten Infizierten, und die Umgebungsuntersuchungen werden immer größere Umfänge annehmen.“

Für den Leiter des Dortmunder Gesundheitsamtes, Dr. Frank Renken, müssten für eine Neubewertung der 7-Tage-Inzidenz zwei Voraussetzungen erfüllt sein.

Für den Leiter des Dortmunder Gesundheitsamtes, Dr. Frank Renken, müssten für eine Neubewertung der 7-Tage-Inzidenz zwei Voraussetzungen erfüllt sein. © Schütze

Wenn es also politisches Ziel sei, höhere 7-Tagesinzidenzen zu akzeptieren, ohne im bisherigen Umfang den Menschen kontaktreduzierende Maßnahmen verpflichtend vorzugeben, müsse auch das Containment angepasst werden, fordert der Amtsleiter.

Zwei Voraussetzungen

Die Hälfte der Menschen in Deutschland ist voll geimpft. Doch diese Impfquote sei nicht ausreichend, um auch nur annähernd einen Herdenschutz zu bewirken, erläutert Renken und warnt, in dieser Situation könne sich die vorherrschende Delta-Variante sehr schnell ausbreiten. Deshalb müsste eine Erhöhung der Schwellenwerte für die 7-Tagesinzidenzen an zwei wesentliche Voraussetzungen geknüpft werden, fordert der Mediziner.

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Dazu zähle die Anpassung der geltenden Arbeitsanweisungen und Empfehlungen für die Gesundheitsämter. Untrennbar damit verbunden sei als zweite Bedingung ein angepasstes Vorgehen bei Infektionsfällen in Gemeinschaftseinrichtungen. Der Gesundheitsamtschef denkt dabei vor allem an Schulen und Kitas.

Renken: „Es wäre nicht hinnehmbar, dass wir hohe Infektionszahlen akzeptieren, gleichzeitig aber die Kinder in Kitas oder Schulklassen immer wieder gruppenweise in Quarantäne müssen, weil Infektionsfälle viel häufiger werden würden.“

Anderes Vorgehen bei Kitas und Schulen

Das Recht auf Bildung der Kinder und Jugendlichen werde seit 18 Monaten immer wieder massiv eingeschränkt. „Da gerade bei Kindern die Infektionen mit SARS-CoV-2 oft asymptomatisch und in der Regel milde verlaufen, würde es bedeuten, dass wir in Bezug auf die Gemeinschaftseinrichtungen unser Vorgehen ganz neu festlegen müssen“, sagt Renken. Zu prüfen wäre zum Beispiel, ob nur noch für positiv Getestete dann eine Quarantäne angeordnet werden könne.

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Ohne entsprechende Anpassungen würde eine schnelle Zunahme der durch die Delta-Variante verursachten Infektionen sehr problematisch werden und zu einer Überlastung des Gesundheitsamtes führen, fürchtet der Leiter. Auch wenn man in Dortmund vorbereitet sei, „schnell wieder deutlich mehr Mitarbeitende aus verschiedenen Bereichen der Verwaltung in das Gesundheitsamt zu holen“, müsse eine Lösung auf Bundes- und Landesebene her.