„Gehen wir in die Groko, gehen wir unter“

Marco Bülow (SPD) im Interview

Hier, sagten sie immer, kannst du einen Besen aufstellen. Wenn er von der SPD ist, wählen sie ihn zum Bürgermeister. In der Zeit, als das ein Gesetz war, wurde Marco Bülow geboren. Jetzt sitzt er auch schon seit 15 Jahren im Bundestag. Bülow gewinnt keine Beliebtheitspreise in seiner Fraktion. Ein Gespräch über die SPD als Titanic, Potenziale und eine notwendige Revolution.

DORTMUND

, 12.02.2018, 17:36 Uhr / Lesedauer: 11 min
„Die SPD ist so groß, die kann nicht sinken, das glauben doch immer noch viele.“ Marco Bülow im Gespräch. Archiv

„Die SPD ist so groß, die kann nicht sinken, das glauben doch immer noch viele.“ Marco Bülow im Gespräch. Archiv © Frank Bock

Durch die Dortmunder Innenstadt lief viele Jahre eine ältere Frau, sie hatte ein Schild dabei. Darauf stand „Jesus“. So lief sie regelmäßig durch die Innenstadt und rief „Das Wichtigste!“. Die Frau ist seit Jahren tot. Ihre Stelle wurde aber erneut besetzt: Von einem älteren kleinen Mann mit kurzen Haaren, der ein Fahrrad durch die Gegend schiebt. Er hat Pappschilder an seinem Fahrrad befestigt, darauf stehen Bibelzitate. Vermutlich stammen sie aus dem Alten Testament, denn der Mann schimpft in einer Tour.

Man kann ihn nicht so gut verstehen, er flucht, meckert und schimpft abgehackt vor sich hin, dann läuft er gehetzt weiter. Diese beiden Menschen, die Frau und der Mann, hatten vermutlich wenig mit Politik zu tun, aber das Bild, das sie zeichnen, passt in die politische Gemengelage: Was das Wichtigste ist, wird unsicher. Aber gemeckert wird immer mehr und immer lauter. Und natürlich auch hier, im Zentrum der Sozialdemokratie.

Die zwei Gebote der Stadt

Der SPD-Unterbezirk Dortmund war mal der größte der Bundesrepublik. Mehr als 25.000 Mitglieder hatten hier 1973 ihre politische Heimat. Dortmund ist die Herzkammer der Sozialdemokratie, das galt als ehernes Gesetz, quasi das erste politische Gebot der Stadt. Das zweite Gebot lautet: Du kannst einen Besen als Kandidaten zur Wahl aufstellen, wenn es der SPD-Kandidat ist, wird er gewählt.

Die SPD im Ruhrgebiet war die Partei der kleinen Leute, der Kümmerer, Kämpfer für Gerechtigkeit im Ortsverein um die Ecke. S wie sozial, das fand hier, wo nicht wichtig war, wo man herkam, sondern wichtig war, wie man anpacken konnte, viele Freunde. Über Arbeit definierte man sich; Arbeiterklasse, darauf war man stolz, Maloche war Völkerverständigung, die SPD war Volkspartei – und die alten Geschichten, denen zufolge der Aufschwung der alten Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem Revier heraus mit Kohle, Stahl und Bier befeuert wurde, haben sie im Ruhrgebiet lange erzählt. Und sich wie an einem Lagerfeuer daran gewärmt.

Der Unterbezirk Dortmund ist immer noch ein wichtiges Pfund, er hat mehr Mitglieder als ganz Sachsen-Anhalt zusammen. Das hört sich mächtig an, relativiert sich aber, wenn man sich die Zahl anschaut: 6.700 Mitglieder in 64 Ortsvereinen.

Damals, als die SPD in Dortmund mehr als 25.000 Mitglieder hatte, wurde Marco Bülow hier geboren. Seit 15 Jahren sitzt er inzwischen im Bundestag. Politisch aktiv ist er viel länger. Zur Politik kam Bülow wegen Tschernobyl. Und wegen Helmut Kohl. Während die einen wegen Kohl zur CDU kamen, kam Bülow wegen Kohl in die SPD. Wenn man für einen Politiker eine passende Comicfigur suchen müsste, wäre Marco Bülow die Uli-Stein-Maus, die ein „Dagegen“-Schild hochhält.

Personalentscheidungen mit kurzen Halbwertzeiten

Das zieht sich durch seine politische Karriere durch. Am Anfang gegen Kohl, als Politiker gegen Lobbyismus oder zum Beispiel das dritte Hilfspaket für Griechenland, aktuell streitet Bülow gegen die Große Koalition. Das rückt mit dem medialen Fokus auf den Juso-Chef Kevin Kühnert zwar in den Hintergrund, ändert aber nichts an der Sache. Zum Interview treffen wir uns am vergangenen Montag, damals verhandeln CDU und SPD noch über ein Koalitionspapier. Über Inhalte ist damals nur wenig, über Personalentscheidungen noch nichts bekannt.

Und die haben ja, wie sich am Freitagnachmittag in der Personalie Martin Schulz zeigte, auch keine lange Halbwertszeit. Dass Schulz vom Außenministerposten zurücktritt, zeigt aber auch, wie nervös die SPD-Spitze im Moment ist.


Herr Bülow, im Moment müsste sich einer wie Sie doch sauwohl in der Politik fühlen, oder?

Sagen wir so: Meine Motivation ist ziemlich stark. Sie ist noch mal stärker geworden. Aber da bin ich ja nicht alleine. Was mir im Moment mit Brexit, AfD und Trump erleben, ist ja, dass Leute sagen: ich muss doch was tun. Die Neueintritte zeigen ja, dass es unheimlich viele Leute gibt, die sagen, jetzt muss ich mal was machen. Es frustriert einiges, aber die Motivation ist auch sehr hoch, so langsam ist es Spitz auf Knopf in einigen Bereichen.

Das heißt?

Ungleichheit manifestiert sich, auch hier in Dortmund. Wir sind unglaublich reich, aber vom Reichtum profitieren nur noch zehn Prozent der Leute. Das beschäftigt mich immer mehr und damit ist auch der Wahlkreis stärker in den Fokus gekommen. Hier bekommt man noch einmal einen ganz anderen Blick auf die Dinge.

Dortmund sieht sich gerne als eine Stadt, die anpackt, die wegschafft, ob Strukturwandel oder Zuwanderungsproblematik. Wenn man am Phoenix-See steht und sich dort die neuen Häuser im Wasser spiegeln, sieht man diese Erzählung in Stein gemauert. Aber das ist nur eine Facette der Stadt. Je nach Statistik ist jeder Vierte in Dortmund von Armut betroffen oder jeder Fünfte davon bedroht. Regelmäßig belegt die Stadt Spitzenplätze in diversen Armutsrankings. Jedes dritte Kind in Dortmund lebt von Hartz IV, vermeldet eine Studie der Bertelsmann-Stiftung. Was für eine Katastrophe. Rund 16.000 Langzeitarbeitslose gibt es in der Stadt. Menschen ohne Perspektive.


Wo steht es denn Spitz auf Knopf, Herr Bülow?

Für zehn Prozent wird fast alles gemacht, ein bisschen wird die Mitte mitgenommen, die untere Hälfte wird völlig vernachlässigt, mit ihr füllt man die Jobs auf. Aufsteigen kann man hier kaum noch. Leistung lohnt sich immer weniger. Und das manifestiert sich. Ich bin da bei dem Soziologen Nachtweih, der sagt: Wir haben keine Aufstiegsgesellschaft mehr, wir werden zu einer Abstiegsgesellschaft.


Natürlich kam in Dortmund etwas nach der Industrie. Aber viel zu wenig, um viele Arbeitsplätze und damit viel Sicherheit zu gewährleisten. Natürlich gibt es neue Arbeitgeber, Elmos etwa, da stellen sie Halbleiter-Chips her. Adesso andererseits, zuständig für IT-Beratungen und -Lösungen, und WILO, internationaler Pumpenhersteller, Vorzeigeunternehmen. Verloren gegangen dagegen sind der Stadt Stahlwerke, Bierbrauereien, Kohle und die dazugehörigen Nebenarbeitsplätze in den verarbeitenden Betrieben, bei den Versorgern und der dazugehörigen Infrastruktur.

Zuletzt erwischte es im Dezember 2015 HSP, das steht für Hoesch-Spundwandprofile, zuletzt waren dort 350 Menschen in Lohn und Brot. Klaus Röhr war bei HSP Betriebsrat, über 25 Jahre im Betrieb, sein Vater war hier, sein Großvater auch, damals hieß das noch Werk Union und hatte über 1000 Mitarbeiter. Heute heißt nur das Viertel noch Union-Viertel. Bei HSP haben sie bis zuletzt breite Spundwände produziert, man braucht die vor allen Dingen beim Hochwasserschutz, in den die Bundesrepublik Milliarden investieren muss, um sich für den Klimawandel zu rüsten. Nur stellt mit der Schließung von HSP kein Unternehmen im Land mehr diese Spundwände her. Wie soll man so etwas erklären? Wäre das nicht die Aufgabe der Politik?


Was passiert im Moment, Herr Bülow?

Die sozialdemokratischen Parteien in Europa gehen im Moment alle unter. Es gibt ein riesiges Vakuum. Die Grünen sind ja eher ein deutsches Phänomen, in Europa sind sie eher schwächer. Sie gehen aber immer mehr Richtung bürgerlich konservatives Milieu, wenn auch mit einem ökologischen Anspruch. Ich kenne ja einige auf der Bundesebene. Wenn wir zum Beispiel über Klimaschutz reden, sind wir uns schnell einig. Aber wenn ich mit ihnen über soziale Situationen in Dortmund rede, können sie damit wenig anfangen. Die Mehrheit der grünen Funktionäre kommen aus gutgelittenen, bürgerlichen Familien, mit einem akademischen Hintergrund. Meine Eltern haben im Gesundheitsbereich und mein Opa bei Hoesch noch richtig malocht. Ich weiß es zu schätzen, dass ich als erster der Familie studieren durfte. Die Linken kämpfen mit strukturkonservativen Strukturen und werden als wirkliche Alternative nur bedingt anerkannt. Es gibt also ganz viel Platz und Luft und entweder gibt es irgendwann eine neue Bewegung, die das füllt – oder irgendeine der Parteien wird sich doch mal erneuern und eine moderne Bewegung. Das sollte die SPD sein, weil ganz viele Menschen Sehnsucht haben nach einer modernen, progressiven und sozialen Partei.

Was sich in Umfragewerten nicht widerspiegelt.

Nein, alle orientieren sich in Richtung Union und damit fällt jeder Aufbruch in sich zusammen. Der Kampf um die wenigen Stimmen in der schwammigen Mitte. Wobei: Was ist die Mitte eigentlich? Wenn die AfD genug Propaganda macht, rückt die Mitte nach rechts. Das, was wir früher innenpolitisch beispielsweise als konservativ empfunden haben, ist jetzt die Mitte. Der Mensch macht das Kreuz nicht mit dem Kopf, sondern mit dem Bauch – und wenn Populisten den Bauch bedienen, dann wird das gerne genommen.

Wir vergessen den Bauch, und das ist das Problem. Und wenn wir jetzt in die Große Koalition gehen sollten, stärken wir die Ränder. Und am Ende konkurriert die SPD mit der AfD darum, wer die zweitstärkste Partei wird. Hätte mir das vor fünf Jahren jemand erzählt, hätte ich gefragt „Bist du bekloppt“? Aber jetzt schließe ich nichts mehr aus.


Nicht jeder, der Angst hat, wird radikal. Aber bestimmt eher anfällig für Lautsprecher. Für die, die einfache Lösungen für komplexe Probleme anbieten. Und sie haben die inzwischen effizienteren Kommunikationskanäle. Früher musste, wer sich öffentlich zu etwas äußern wollte, einen Leserbrief schreiben. Heute reicht, um sich öffentlich zu äußern, ein Internetanschluss. Noch werden Leserbriefe geschrieben. Doch die, die das Gefühl haben, dass sie von niemandem mehr vertreten werden, haben den Stammtisch verlassen und sich Facebook zugewandt. Was ja auch viel einfacher ist, als sich tatsächlich einzubringen. Hier finden sie sich dann schnell in Blasen von Gleichgesinnten wieder, die ihre Meinung be- und verstärken. Andere Gedanken kommen nicht vor. Und letztlich wird dann nur noch von „denen da oben“ und den „Volksverrätern“ und der „Lügenpresse“ schwadroniert. Bei den großen Demos gegen die Rechtsradikalen in den 80er-Jahren stellten die Belegschaften der Stahlwerke regelmäßig die größte und auch körperlich durchaus wehrhafte Einheit. Heute gibt es sie nicht mehr. Demonstrieren, teilnehmen wollen, gestalten, sich einbringen – aus der Zeit gefallene Verben.


In den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts haben wir gelernt, Angst essen Seele auf. Jetzt essen Angst die SPD auf?

Jein. Ein wenig ja, aber Respekt muss man haben. Ich sehe aber immer noch eine unglaubliche Alternative. Ich sehe die Sehnsucht der Menschen, ich sehe, dass wir in einer Zeit sind, die unglaublich wichtig ist. Und wo man ganz viel machen könnte. Das zeigt ja im Kleinen dieses Abbild von Schulz. Da wird jemand Kanzlerkandidat und Parteivorsitzender, der vorher gar nicht groß wahrgenommen wurde. Gut, er hat Europa gemacht und sich gegen Berlusconi gestellt, aber so richtig hat ja keiner mitbekommen, was er wirklich gemacht hat. Vor allen Dingen wurde nicht gesehen, dass er schon seit 20 Jahren im Parteivorstand ist und alles mitgetragen hat. Dann wird er als Messias gefeiert, teilweise sogar völlig überbordend als Gott-Kanzlerkandidat – da gibt es nicht nur innerhalb der SPD einen unheimlichen Hype, sondern die Umfragewerte gehen auf über 30 Prozent. Ich bin seit 15 Jahren im Bundestag und außer in der Anfangszeit haben wir in den letzten Jahren bei sehr stabilen kümmerlichen 24, 25 Prozent gelegen. Dann sind wir noch weiter runtergegangen. Aber über 30 Prozent waren wir ewig nicht. Wobei Grüne und Linke gar nicht groß runtergegangen sind. Und das zeigt doch, dass es da eine unglaubliche Chance, ein Potenzial gibt.

Und wir reden über Angst. Über Angst, dass wir nicht in die Neuwahlen wollen, weil wir eine riesige Sorge haben, da unter 20 Prozent zu landen. Wir reden aber nicht darüber, dass wir, wenn wir nicht in die Große Koalition gehen, zum ersten Mal in einen Wahlkampf gehen könnten, wo die Leute uns abnehmen, dass sie, wenn sie SPD wählen, nicht Merkel wählen. Dass wir damit deutlich zulegen könnten, darüber reden nur wenige in der SPD.

Und davon träumen Sie?

Ich träume davon, dass wir dieses Potenzial heben. Und da bringt es gar nichts, über einzelne Personen zu reden.

Ein kompletter Austausch der Führungsriege?

Nur über Inhalte erreichen wir die Leute nicht. Alles ist verbunden. Wir brauchen eine personelle, strukturelle und inhaltliche Erneuerung. Keine Reparaturen, sondern einen klaren Wandel. Und ich träume davon, dass wir dann nicht 10.000 Neueintritte haben, sondern 100.000 oder 200.000. Und dass das dann keine passiven Mitglieder sind, sondern aktive, die etwas bewegen wollen. Zudem haben wir immer noch gute Leute in der Partei, aber mehr als einige davon sind auf dem Absprung.

Es gab mal eine Partei, die war eine Macht. Zumindest in dieser Stadt herrschte sie unumstößlich, uneingeschränkt. Die Macht zerbröckelt und zerbröselt. Wenn man sich diese Macht als Menschen vorstellt, ist es ein alter Mann, der mit einem Herzinfarkt kaltschweißig an der Wand lehnt. Oder auf dem Boden liegt. Und jetzt kommt Marco Bülow mit einem Defibrillator namens Neustrukturierung vorbei und weiß nicht, ob dieses Gerät funktioniert. Kann man das so sehen, Herr Bülow?

Die Frage ist, wie böse man ein Bild zeichnen will. Einige sprechen von dem Bild der Titanic. Kann man sie noch retten, zumindest noch zum nächsten Hafen bringen und dort wieder flott kriegen oder flüchtet man auf die Rettungsboote, um Hoffnung auf etwas Neues zu haben. Ist es überhaupt möglich, da anzuknüpfen, wo man mal war? Oder ist das Geschichte?

Wer war der Eisberg?

Hm. Ein Fehler ist, deswegen passt das Bild der Titanic, der Glaube an die Unsinkbarkeit. Die SPD ist so groß, die kann nicht sinken, das glauben doch immer noch viele. Auch, dass mit den momentanen 20 Prozent das untere Ende, die Talsohle, erreicht ist. Was leider ein Irrglaube ist. Deswegen hat man den Eisberg nicht sehen wollen. Selbst wenn man ihn gerammt hat, verhält man sich wie die Kapelle auf der Titanic und spielt einfach weiter.

Und der Eisberg? Wer oder was war das?

Das war vieles. Eigene Leute, Fehler, Ignoranz …

… konkret?

Nach Schröder nicht daraus gelernt zu haben, dass man ganz vielen Leuten eine Menge zugemutet hat und nicht neue Maßstäbe gesetzt hat. Man vor lauter Fordern das Fördern unterlassen hat. Und immer wieder darauf reingefallen ist, den Konservativsten zum Kanzlerkandidaten zu machen und es komplett einer kleinen Gruppe zu überlassen, die SPD zu beraten, zu führen.

Und wenn dann mal jemand anderes kommt, Platzeck oder Beck, ob man sie gut findet oder nicht, sie wollten die Parteibasis einbinden und sind gescheitert oder kalt entmachtet worden.

Der Eisberg ist aber auch die gesellschaftliche Entwicklung weg von Parteien und Vereinen. Und dann ist die SPD ja auch der Reparaturbetrieb des Neoliberalismus. Böse könnte man sagen: Wir retten ihn. Wir machen immer ein bisschen was erträglicher, mal ein paar Pflaster drauf, dabei müsste man mal über Grundsätzliches zu reden. Aber der Eisberg sind nicht nur wir.

Sie haben ja einen nicht unerheblichen Vorteil, Sie kann man schlecht entmachten.

Naja, das wurde ja schon versucht. Hat aber nicht funktioniert. Das ist der Vorteil, wenn man einen Wahlkreis hat. Der entscheidet selbst, wen er aufstellt. Hätte ich auf der Landesliste gestanden, wäre ich schon lange weg. Es sind halt viele dicke Bretter zu bohren. Ein dickes Brett, da ist man ja irgendwann auch mal durch. Problematisch wird es halt, wenn, während man bohrt, das nächste dicke Brett darunter angenagelt wird.


Marco Bülow gewinnt in seiner Bundestagsfraktion definitiv keinen Beliebtheitspreis. Wo andere Öl im Getriebe sind, ist er der Sand. Das schadet oben, wo die Preise gemacht werden. Unten, an der Basis, nutzt es. Da ist Bülow satt mehrheitsfähig.


Wie lange wollen Sie noch Bretter bohren, bei denen Sie nicht wissen, wie viele Bretter sich darunter verbergen?

Ich weiß es nicht. Aber ich möchte in vier Jahren in eine Legislatur so rein gehen, als wäre es das letzte Mal. Das hilft mir bei allen Debatten. Es macht mich freier, hält mich von faulen Kompromissen und Abwägungen fern. Es hilft meinem Gestaltungswillen und meinem Gemüt.

Tanze, als ob dir niemand zusieht?

Ja.

Zu welchem Tanz wird jetzt gefordert?

Das weiß ich nicht. Die Ergebnisse der Koalitionsverhandlungen, die üblichen Pflaster, wurden präsentiert. Anfang März gehen die Unterlagen raus, es folgen Diskussionen in üblicher Manier, Regionalkonferenzen folgen. Es wird laufen wie immer. Alles wird hoch und runter diskutiert, nicht gleichgewichtet, sondern mit dem Fokus auf die Befürworter der Großen Koalition. Und dann folgt die Abstimmung.

Wie geht sie aus?

Schwer zu sagen. Was immer unterschätzt wird, es entscheiden ja nicht die aktiven Mitglieder, sondern alle Mitglieder. 80, 85 Prozent von ihnen sind Menschen, die nie irgendwo in einen Ortsverein gehen, bei keiner Diskussion beteiligt sind, die Anne Will gucken und die Bild lesen. Die entscheiden das dann. Wenn wir von 15 Prozent aktiven Mitgliedern ausgehen sind zwei Prozent Funktionärs- oder Mandatsträger. Die sind mehrheitlich für die Große Koalition. 13 Prozent sind mehrheitlich dagegen.

Aber die 85 Prozent, die bleiben, die kann niemand einschätzen. Und diese 85 Prozent haben beim letzten Mal das Panel gekippt. Die Mehrheit wird sich für die Große Koalition entscheiden.

Wollen wir uns jetzt bitte mal schnell auf die Titanic stellen?

Dort geht es dann nur noch in die Rettungsboote. Viele von den jetzt noch Aktiven werden dann vermutlich inaktiv. Die letzte Möglichkeit wäre dann, sich vor den beiden Parteitagen zu organisieren und den Vorstand zu kippen. Eine offene Revolution.

Die wahrscheinlich wenig bringt?

Wahrscheinlich. Aber wenn wir dann weiterschauen, was passiert dann? Dann geht man beim nächsten Wahlkampf ohne die Jusos unter. Es stehen an den Ständen nur noch die Treuesten der Treuen unter dem Slogan „Wir sind das kleinere Übel“. Keiner wird mehr sagen können: Wir treten gegen die Union an. Eine sehr traurige Veranstaltung wäre das. Wenn überhaupt, wird man Motivation nur daraus ziehen können, dass die AfD nicht stärker wird als die SPD.

Als Existenzberechtigung Verhinderung?

Schrecklich, nicht wahr? Das kann doch nicht der einzige Mobilisierungseffekt sein, dass es noch schlimmer kommt. Oder dass die Rechten uns überholen.

Es gibt zwei Chancen: Beim Mitgliedervotum wird „Nein“ gesagt. Oder die Revolte in der Partei.

Was sagen Sie den Leuten in den Ortsverbänden, um sie vom Nein zu überzeugen?

Schaut euch an, wie wir vor vier Jahren gestartet sind. Aus einer viel stärkeren Position. Wir hatten keine Diskussion über die Parteispitze. Wir hatten keine Spaltung der Partei riskiert. Wir hatten den Mindestlohn als Megathema, den wir unbedingt umsetzen wollten und mit dem wir vielen Menschen wirklich mal geholfen haben. Ein Pflaster, aber ein sehr großes. Wir hatten es nicht mit so einer CSU zu tun, die jetzt nahe an die AfD gerückt ist. Wir hatten damals eine viel bessere Position, als wir sie jetzt haben. Und damals haben wir fünf Prozent verloren. Wie soll das diesmal dann gut gehen?

Und wo bleibt das Positive?

Spätestens in vier Jahren, wenn man jetzt nicht mit der Union zusammengeht, kann man einen glaubwürdigen Wahlkampf machen. Nicht nur Pflaster verteilen, sondern eine starke Position haben, weil man es sich schwer gemacht hat. Man darf nicht nur auf das nächste Jahr gucken. Die Große Koalition stärkt die Ränder. Schauen Sie nach Österreich. Das ist hier auch total schnell möglich. Dann kommt da irgend so ein Kurz. Und wir führen es mit herbei, wenn wir es nicht verhindern. Ich habe noch niemanden in der SPD gehört, der sagt: Wir gehen jetzt in die Große Koalition, kommen daraus gestärkt hervor und kandidieren, um dann die stärkste Fraktion im Land zu werden.

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