
Der 21-jährige aus Russland geflüchtete Timon R. in dem Zimmer in Dortmund, in dem er seit einigen Wochen mit seiner Ehefrau lebt. Vor ihm liegen Übungsblätter für einen Deutsch-Kurs. In der Hand hält er eine „Aufstandhose“. Die zugenähten Taschen sollen verhindern, dass Polizisten Demonstrierenden in Russland Drogen unterschieben. © Felix Guth
Geflüchteter Russe in Dortmund: „So lange Putin lebt, kann ich nicht zurück“
Ukraine-Krieg
Der Krieg in der Ukraine zerstört jeden Tag Leben – auch von russischen Staatsbürgern. Ein junges Ehepaar lebt seit Kurzem in Dortmund. Es ist gegen den Krieg – und Opfer davon.
Timon R. (21, Name geändert) sitzt auf der Couch eines Einfamilienhauses in einem ruhigen Dortmunder Stadtteil. Es ist ein Dienstag, ziemlich genau sieben Monate nach Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine.
Timon und seine Ehefrau Ewa (21) stammen aus dem von Wladimir Putin regierten Russland. Timon R. stammt aus der Stadt Ulan-Ude in Burjatien, einer autonomen Republik im Südosten des Landes, nahe der Grenze zur Mongolei. Zum Studieren lebten beide in Moskau.
Das junge Ehepaar war in Russland in Gefahr
Sie kommen aus jenem Land, das gerade die ganze Welt in Gefahr bringt. Es ist das Land, in dem sie selbst in Gefahr waren. Weil sie junge Menschen sind, die ihre Meinung gesagt haben und gegen den Angriffskrieg auf die Straße gegangen sind.
Seit dem 9. September sind er und seine Ehefrau Ewa in Dortmund. Sie teilen sich ein Zimmer im Haus einer russisch-stämmigen Dortmunderin. Ein Bett, ein Schreibtisch, ein paar Schränke. Ewa hat kaum Zeit für das Gespräch, sie lernt für den Deutsch-Kurs, den beide direkt nach ihre Ankunft begonnen haben.
An einer Glastür hängen Postkarten aus Russland – einige wenige Erinnerungen an Verwandte und Freunde, die sie zurücklassen mussten.
„So lange Putin lebt, kann ich nicht zurück“, sagt der 21-Jährige mit ruhiger Stimme auf Russisch. Seine momentane Gastmutter übersetzt das Gespräch. Einzelne Wörter und Sätze sagt er auf Deutsch.
Viele junge Menschen demonstrierten im Februar gegen den Krieg
Als Angehöriger der kulturell, religiös und phänotypisch ostasiatisch geprägten burjatischen Minderheit in diesem Teil Russlands hätten Unterdrückung und Rassismus schon immer zu Erfahrungen in seinem Leben gehört, berichtet R.. Doch mit Kriegsbeginn hat sich sein Leben noch einmal schlagartig verändert.
„Die Haltung vieler Menschen in Burjatien ist, grundsätzlich nicht für Russland in den Krieg zu ziehen. Durch die Geschichte fühlen sie sich selbst wie Sklaven und Menschen zweiter Sorte“, sagt er. Vor allem junge Menschen in ihrem Umfeld seien gegen den Krieg in fast 6000 Kilometer Entfernung.
Zugleich sah er sich konfrontiert mit Menschen, die den Angriff unterstützen. „Viele sehen nur das offizielle Fernsehen und glauben es, wenn dort immer erzählt wird, dass man die Ukrainer bekämpfen müsse.“ Doch selbst diese Leute, so meint er, träfe keine Schuld. „Schuldig sind die, die Entscheidungen treffen.“
Drei Tage nach Beginn der Angriffe nahm Timon in Moskau an einer Demonstration gegen den Einmarsch teil. „Ich bin mitgelaufen, habe kein Plakat gehalten“, sagt er.
Verhaftung nach Teilnahme an Demonstration - danach Schikane
Als er an einer Straße gestanden habe, sei er mit rund 20 weiteren Personen verhaftet worden. 24 Stunden verbrachte er in Gewahrsam, gegen die Zahlung von 15.000 Rubel kam er frei. Damit nahm die Repression durch die Staatsmacht jedoch erst ihren Anfang.
An den folgenden Wochenenden erhielt Timon zu Hause Besuch von Polizisten, erzählt er. Er sei aufgefordert worden, ein Plakat in die Höhe zu halten, auf dem geschrieben stand, dass er gewarnt worden sei, sich nicht negativ über den Staat zu äußern. Polizisten hätten das fotografiert.
Schließlich kam sein Fall im März zur Anklage, weil Teilnehmer der Demonstration gezwungen worden seien, ein Protokoll zu unterschreiben, dass sie Organisatoren gewesen seien.
Nach einer Gesetzesänderung durch den Präsidenten wird das mittlerweile mit einer Haftstrafe belegt. „Ich habe Angst bekommen“, sagt Timon. Zumal an der juristischen Fakultät, an der Ewa studierte, die Söhne und Töchter von Pro-Putin-Führungskräften jeden Kriegsgegner zum Teil mit heimlich gefilmten Videos denunzierten.
Um dem Prozess zu entgehen, versteckte sich das Ehepaar drei Wochen lang im Nachbarland Usbekistan. „Dort haben wir entschieden, dass wir Russland verlassen“, sagt er. Zwar ging das Verfahren in seiner Abwesenheit letztlich ohne Verurteilung über die Geldstrafe hinaus zu Ende.
Als Staatsgegner „registriert“ und Angst vor der Einberufung
Doch als „registrierter“ Staatsgegner ist dem Journalistik-Studenten jegliche Zukunft in Russland verbaut. Bei einer Einreise nach Russland würde ihm sofort die Einberufung in die Armee drohen.
Denn seit seiner Flucht hat sich die Situation verschärft. Burjatien sei wie viele andere autonome Republiken überproportional davon betroffen, dass junge Männer an die Front geschickt werden – und dort ihr Leben verlieren. Nach der Teilmobilmachung gelte das umso mehr.
Mehrfach am Tag sei er in Kontakt mit gleichaltrigen Freunden und Studienkollegen. Der Einberufungsbefehl werde mit der monatlichen Gasabrechnung verschickt, damit er als zugestellt gilt.
Viele versteckten sich oder versuchten, das Land zu verlassen. An der Grenze zur Mongolei sind seit Putins Teilmobilmachung lange Warteschlangen zu sehen.
„Ich mache mir große Sorgen um meine Freunde dort, aber auch um Verwandte, die noch in die Armee eingezogen werden können“, sagt Timon R. Das sei nicht mit der Angst vergleichbar, die er verspürt habe, als er noch in Russland war. Aber es sei belastend, aus der Ferne zuzusehen, wie sich die Gefahr zuspitzt.
Alle Energie ins Deutsch-Lernen - und in die Vorbereitung auf ein Studium
Ihre eigene Zukunft liegt in Dortmund. Deshalb legen die beiden alle verfügbare Energie in das Lernen der deutschen Sprache und in die Chance auf ein Studium.
Sie planen die Anmeldung am Studienkolleg in Bochum, um darüber an einer Hochschule bald neu starten zu können. Mit einem Studentenvisum haben sie vorerst die Möglichkeit, sicher in Deutschland bleiben zu können. Die Restriktionen für die Einreise und Visaerteilung russischer Staatsbürger sind aktuell sehr stark.
Ihre Dortmunder Gastgeberin Katarina F. (Name geändert) ist von der Zielstrebigkeit des jungen Paars beeindruckt. „Sie wollen alles in ihre Zukunft investieren“, sagt sie. Aber darin werde auch ein Schmerz sichtbar, den die Flucht bei ihnen ausgelöst habe. „Sie arbeiten wie Roboter und befassen sich viel mit der Situation zu Hause.“
Eine scheinbare Alltagssituation habe ihr gezeigt, wie sehr sich die Erfahrungen der beiden von denen Gleichaltriger in Deutschland unterscheiden. Und wie privilegiert es sei, dass hier der Krieg vor allem als Problem für die Wirtschaft diskutiert werde.
Andere Erfahrungen als Gleichaltrige in Deutschland
Vor einigen Tagen hätten Timon und Ewa Katarinas Sohn zu einem 20. Geburtstag begleitet. Nach kurzer Zeit seien sie deprimiert wieder nach Hause gekommen. Sie hatten es nicht geschafft, ihre Situation und die Unbeschwertheit ihrer Altersgenossen gleichzeitig auszuhalten. „Wir haben uns wie sehr alte Menschen gefühlt“, sagt Timon R.
Er holt eine blau-graue Jogginghose aus dem Zimmer. Es handelt sich um eine „Aufstandshose“, die ihn seit vielen Monaten begleite, erklärt er. Die Taschen der Hose sind zugenäht.
Das sei in Russland üblich, wenn man auf eine Demonstration gehe. Damit verhindere man, dass die Sicherheitskräfte den Teilnehmern bei einer Festnahme Drogen unterschieben, um später eine härtere Strafe verhängen zu können.
In Sicherheit zu sein, sei das Wichtigste. „Aber wenn es möglich ist, möchten wir vielen anderen dabei helfen, das auch zu schaffen“, sagt er. „Ich wünsche mir, auch wieder positive Nachrichten aus Russland lesen zu können und zu hören, dass die Menschen, die ich kenne, doch nicht in den Krieg müssen“, sagt er.
Dabei nehme er in den Meldungen aus seiner Heimat wahr: Der von Putin verbal definierte Gegner sei mittlerweile nicht mehr nur die Ukraine. Sondern der Westen und die Nato.
Seit 2010 Redakteur in Dortmund, davor im Sport- und Nachrichtengeschäft im gesamten Ruhrgebiet aktiv, Studienabschluss an der Ruhr-Universität Bochum. Ohne Ressortgrenzen immer auf der Suche nach den großen und kleinen Dingen, die Dortmund zu der Stadt machen, die sie ist.
