
Michail Gorbatschow sprach am 15. Juni 1989 auf der Westfalenhütte vor 7000 Hoesch-Arbeitern in Dortmund. © Foto: Dieter Menne
Ein historischer Tag: Als „Gorbi“ nach Dortmund kam
Zum Tod von Michail Gorbatschow
Mit der Nachricht vom Tod des früheren sowjetischen Staatschefs Michail Gorbatschow werden bei vielen Dortmunderinnen und Dortmundern Erinnerungen wach - an einen historischen Tag im Juni 1989.
Nicht nur bei den Alt-Hoeschianern in Dortmund war die Nachricht vom Tod des früheren sowjetischen Staatsschefs Michail Gorbatschow am Mittwoch Tagesgespräch. Denn sie haben eine ganz besondere Beziehung zu „Gorbi“.
„Sein Tod berührt uns sehr, weil wir wissen, was für ein bedeutender Staatsmann verloren gegangen ist“, sagte der frühere Hoesch-Betriebsrats-Chef Werner Nass am Mittwoch (31.8.) im Gespräch mit unserer Redaktion.
Werner Nass hatte Gorbatschow, den Mann, der mit Glasnost und Perestroika die Welt veränderte, 1989 nach Dortmund geholt. Gemeinsam mit Betriebsräten anderer Stahlunternehmen aus dem Ruhrgebiet hatte er einen Briefwechsel mit der sowjetischen Staatsführung begonnen. Nass sprach von „Diplomatie von unten“.
Einladung nach Dortmund
Beim Staatsbesuch von Kanzler Helmut Kohl in Moskau gehörte Nass 1988 der deutschen Delegation an. Er nutzte die Gelegenheit und lud Gorbatschow persönlich nach Dortmund ein. „Anfangs bin ich belächelt worden, weil viele das für verrückt hielten, dass ich als Arbeiter den zweitmächtigsten Mann der Welt einlade“, blickt Werner Nass zurück.
Doch am 15. Juni 1989 erlebten Hoesch und Dortmund einen historischen Tag als Gorbatschow im Rahmen eines Staatsbesuchs in Deutschland tatsächlich auf die Westfalenhütte kam - zu den Arbeitern. Mit einem Zug kam er am eigens aufgehübschten Bahnhof Kirchderne an. Mit einer schwarzen Limousine ging es von da aus aufs Werksgelände.
Tausende Dortmunderinnen und Dortmunder waren auf den Beinen. „Sie wollten den Mann sehen, der die Welt veränderte hatte und noch mehr verändern sollte“, berichtete ein Augenzeuge. „Nicht nur Dortmund und Kirchderne, ganz Deutschland war damals im ‚Gorbi‘-Fieber.“

Werner Nass (r.), der Hoesch-Betriebsratsvorsitzende, und der damalige Hoesch-Vorstands-Chef Detlev-Carsten Rohwededer (l.) mit dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow auf der Westfalenhütte. © ThyssenKrupp Steel Europe Fotografie
In der Werkshalle wurde Gorbatschow dann von 8000 Hoeschianern wie ein Pop-Star mit „Gorbi, Gorbi“-Sprechchören gefeiert. Ein Höhepunkt: Werner Nass schlug Gorbatschow für den Friedensnobelpreis vor. Er sollte ihn ein Jahr später tatsächlich bekommen.
Der 15. Juni 1989 war, wie der damalige Oberbürgermeister Günter Samtlebe sagte, ein „epochaler Tag für die Hoesch-Belegschaft und für Dortmund“. Unterm Strich dauerte die Stippvisite des Gastes aus Moskau gerade mal 80 Minuten. Dann war „Gorbi“ wieder weg. Aber er hat auch in Dortmund Spuren hinterlassen.
In Russland verhasst
„Er hatte die Vision, ein gemeinsames Haus Europa zu schaffen“, erklärt Werner Nass. Dieses Ideal scheint mit Blick auf den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine nun gescheitert. Und Nass weiß, dass die Lebensleistung Gorbatschow in West und Ost sehr unterschiedlich beurteilt wird.
Werner Nass war nach 1989 regelmäßig in Russland. „Wir haben da viele knallharte Diskussionen geführt“, erinnert sich der 83-Jährige. „Bei den Russen war Gorbatschow verhasst, hier in Deutschland wurde er geliebt“, bilanziert Nass.
Oliver Volmerich, Jahrgang 1966, Ur-Dortmunder, Bergmannssohn, Diplom-Journalist, Buchautor und seit 1994 Redakteur in der Stadtredaktion Dortmund der Ruhr Nachrichten. Hier kümmert er sich vor allem um Kommunalpolitik, Stadtplanung, Stadtgeschichte und vieles andere, was die Stadt bewegt.
