Man spürte den Atem der Geschichte, als Michail Gorbatschow am 15. Juni 1989 Hoesch besuchte. Unser Autor war „Zaungast“. Jetzt sprach er mit dem Mann, der den Coup damals eingefädelt hatte.

Kirchderne

, 14.06.2019, 18:12 Uhr / Lesedauer: 3 min

Es war ein kleiner Bahnhof für einen großen Staatsmann. Dabei war an dem Tag, als Michail Gorbatschow mit einem Sonderzug in Kirchderne ankam, die Bahnstation schon ordentlich herausgeputzt worden. Es war genau vor 30 Jahren, als der Mantel der Weltgeschichte den Karrenberg umhüllte. „Auf der Seite des Bahnhofs, auf der Gorbatschow ausstieg, war in den Wochen vorher alles renoviert worden“, erinnert sich der damalige Betriebsrats-Chef der Hoeschianer, Werner Nass. Er hatte den Riesencoup mit Gorbatschow eingefädelt. Beim Staatsbesuch von Kanzler Helmut Kohl in Moskau gehörte er 1988 der deutschen Delegation an. Er nutzte die Gelegenheit und lud Gorbatschow persönlich nach Dortmund ein. „Anfangs bin ich belächelt worden, weil viele das für utopisch hielten“, sagt Werner Nass (79).

An einem Bilderbuch-Vormittag mit dem Rad unterwegs

An jenem 15. Juni 1989, einem Donnerstag, war ich dabei. Schon am Morgen war es warm und sommerlich. Wie der sowjetische Staatschef an diesem Bilderbuch-Vormittag in Kirchderne aus dem Zug in seine schwere und schwarze russische Limousine umstieg, konnte ich nicht sehen. Dabei war ich schon früh auf mein Rennrad gestiegen. Für mich als gebürtigen Derner war das auf jeden Fall ein historischer Tag. Ich wollte den Mann sehen, der die Welt schon veränderte hatte und noch mehr verändern sollte. Nicht nur Dortmund und Kirchderne, ganz Deutschland war damals im „Gorbi“-Fieber.

Nach links und rechts waren der Karrenberg und die Rüschebrinkstraße weiträumig abgesperrt. Mit dem Fahrrad allerdings war ich, wie erhofft, flexibel und in der Lage, Gorbi ein Stück vorauszueilen, um irgendwo einen Blick zu erhaschen.

Als Michail Gorbatschow freundlich winkte hing in der Halle der Conti-Glühe ein Transparent mit der Aufschrift "Die Hoesch-Arbeiter grüßen Generalsekretär Gorbatschow". Das stand dort in deutscher und kyrillischer Schrift.

Als Michail Gorbatschow freundlich winkte hing in der Halle der Conti-Glühe ein Transparent mit der Aufschrift "Die Hoesch-Arbeiter grüßen Generalsekretär Gorbatschow". Das stand dort in deutscher und kyrillischer Schrift. © Menne (Archiv)

Wo es möglich war, standen die Menschen Im Karrenberg zwar dicht gedrängt, aber unaufgeregt und geordnet. Das Gorbi-Fieber von damals war nicht vergleichbar mit dem Kreischalarm, der heute in der Thier-Galerie beim Besuch sogenannter Youtube-Stars herrscht.

Im Karrenberg standen die Menschen Spalier

Michail Gorbatschow war bei dem Staatsbesuch in Deutschland 58 Jahre alt. Ich war 25 und Geschichtsstudent. Glasnost und Perestroika sind bis heute die beiden einzigen russischen Vokabeln geblieben, die ich beherrsche. Transparenz und Wandel bestimmten unter Gorbis Führung das Sowjetreich. Für meine Generation des Kalten Kriegs, die bis dato nur das kantholzig-finstere Gesicht von Leonid Breschnew kannte, war der liebenswerte Kreml-Chef Michail Gorbatschow wie ein Außerirdischer. Gibt es den wirklich?

Im Karrenberg standen die Menschen Spalier, ich mit meinem Fahrrad mittendrin. Von Weitem näherte sich irgendwann vor 12 Uhr die von Sicherheitskräften eskortierte Limousine auf ihrem Weg zu den Arbeitern auf der Westfalenhütte. Warum der Staatsgast überhaupt diesen Weg nahm, wusste ich seinerzeit nicht. „Das hatte Sicherheitsgründe“, erklärt Werner Nass: „Vom Hauptbahnhof war der Weg zu weit, die Sicherheitsaufwendungen wären zu groß gewesen. Vom Bahnhof in Kirchderne bis zur Werkshalle waren es dagegen nur zwei Kilometer.“ Der Konvoi mit Gorbis Wagen fuhr also über den Karrenberg - nicht eilig, nicht gehetzt, sondern in anständigem Tempo. Trotzdem waren es natürlich nur wenige Sekunden, in denen „Gorbi“ an mir vorbeifuhr. Er winkte hinter der Fensterscheibe vom Rücksitz freundlich der Menge zu.

Von 8500 Hoeschianern wie ein Pop-Star gefeiert

Zack, da war der große Moment vorbei. Aber, ich hatte ihn gesehen. Es gab ihn wirklich. Und im Kopf hatte ich den ganzen Tag lang den Satz meines Geschichtslehrers am damaligen Einstein-Gymnasium. „Die deutsche Frage ist eine russische Frage“, hatte er uns Operprimanern Anfang der Achtziger eingeimpft. Wenn also, dann doch wohl jetzt mit Gorbatschow, konnte der Fall der Berliner Mauer wahr werden!

Ankunft auf der Westfalenhütte: Empfangen wurde "Gorbi" von Hoesch-Chef Detlev Rohwedder (l.) und dem Betriebsratsvorsitzenden Werner Nass (r.). Rechts im Hintergrund ist Willy Brandt zu sehen.

Ankunft auf der Westfalenhütte: Empfangen wurde "Gorbi" von Hoesch-Chef Detlev Rohwedder (l.) und dem Betriebsratsvorsitzenden Werner Nass (r.). Rechts im Hintergrund ist Willy Brandt zu sehen. © ThyssenKrupp Steel Europe (A)

Diesen Wunsch hatte wohl auch Werner Nass, als er in seiner Begrüßungsrede den von 8500 Hoeschianern auf der Westfalenhütte wie einen Pop-Star gefeierten und mit „Gorbi, Gorbi“-Sprechchören umjubelten Sowjet-Führer spontan für den Friedensnobelpreis vorschlug. „Man hatte mir gesagt, ich dürfe über alles reden, nur nicht über fünf Minuten“, sagt Nass. Tatsächlich bekam Gorbatschow im Jahr darauf den Friedensnobelpreis, aber Werner Nass auch eine Rüge vom Friedensnobelpreis-Komitee. „Die Preisträger dürfen nur von großen Persönlichkeiten vorgeschlagen werden. Damit sind keine Betriebsräte gemeint“, erzählt er heute noch gerne mit einem Schmunzeln.

Stippvisite dauerte gerade mal 80 Minuten

Der 15. Juni 1989 war, wie der damalige Oberbürgermeister Günter Samtlebe sagte, ein „epochaler Tag für die Hoesch-Belegschaft und für Dortmund“. Unterm Strich dauerte die Stippvisite des Gastes aus Moskau gerade mal 80 Minuten. Dann war „Gorbi“ wieder weg. Bei Werner Nass weckt der Tag nur schöne Erinnerungen. Bis heute pflegt er viele persönliche Kontakte nach Russland und besucht das Land regelmäßig. Seine „Gorbi“-Begeisterung wird dort allerdings wenig geteilt: „Was wehtut ist: So beliebt Gorbatschow im Westen war und ist, so verhasst ist er in seiner Heimat.“

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