
Andreas und Natalia Deller sind in Sorge um die Tochter und den Schwiegersohn, die sich in Russland kritisch über Putin und seinen Angriffskrieg auf die Ukraine geäußert haben. © Gaby Kolle
Angst vor Putin: Dortmunder kämpfen verzweifelt um Einreise ihrer Kinder
Ukraine-Krieg
Seit dem brutalen Angriff Putins auf die Ukraine kämpft ein Dortmunder Ehepaar darum, die bedrohte Tochter und den Schwiegersohn aus Russland zu sich zu holen – und sieht sich von der Stadt behindert.
Dick ist die Mappe mit dem Schriftverkehr auf dem Küchentisch, vollgepfropft mit Hilfsgesuchen an das Auswärtige Amt, die Dortmunder Ausländerbehörde, an Oberbürgermeister Thomas Westphal und an Dortmunder Bundestagsabgeordnete.
Verfasst haben sie der Dortmunder Andreas Deller (61) und seine russische Frau Natalia (51). Sie versuchen verzweifelt, die Tochter von Natalia Deller und deren Ehemann vor dem Gefängnis beziehungsweise vor dem Einzug ins russische Militär zu bewahren – und laufen bisher vor eine Wand.
Die Dellers sind seit fünf Jahren verheiratet. Natalias Tochter (31) und deren Ehemann (33) leben im Süden Russlands, im Gebiet von Wolgograd. Weil sie sich dort unter Freunden und in der Familie sowie auf Facebook kritisch über Putin und seinen mörderischen Krieg geäußert haben, hat man ihnen gedroht, sie an den russischen Inlandsgeheimdienst FSB zu verraten. Deshalb werden auch an dieser Stelle ihre Namen nicht genannt.
Hasserfüllte Atmosphäre
Außerdem sei der Schwiegersohn von der „verdeckten Mobilisierung“ in Russland bedroht und könne jederzeit in den Krieg gegen die Ukraine geschickt werden, sagt Andreas Deller: „Wir wollen die beiden zu uns nach Dortmund holen, um sie zu schützen.“
„Beide hatten gute Arbeit in Russland, eine Wohnung und Familie. Sie hatten Pläne für ihr Leben. Alles änderte sich mit dem Kriegsausbruch am 24. Februar“, sagt Natalia Deller. Der Krieg habe alte Freundschaften und auch Familien zerstört und sorge bei der Arbeit für eine hasserfüllte Atmosphäre. Tochter und Schwiegersohn seien zu Außenseitern geworden. „Meine Tochter hat jetzt Angst, etwas zu sagen.“
Natalia Deller hatte gehofft, ihre Tochter mit Mann bereits dieses Jahr zu Ostern in Dortmund wiederzusehen. Die Schokohasen, die sie für sie gekauft hatte, stehen noch unangetastet auf dem Schrank im Wohnzimmer.
Verpflichtungserklärung abgegeben
Das Auswärtige Amt hatte den Dellers im März geraten, ein Visum zum Zweck der Familienzusammenführung in einem besonderen Härtefall zu beantragen. Dazu haben Dellers beim Dortmunder Ausländeramt eine obligatorische, sogenannte Verpflichtungserklärung abgegeben. Darin haben sie nachgewiesen, dass sie alle Voraussetzungen erfüllen, um das russische Ehepaar aufzunehmen. Die Stadt Dortmund hat das mit Amtsstempel und Unterschrift dokumentiert.
Danach verfügen die Dellers über genug Wohnraum, und sie könnten – und wollen auch – alle Kosten tragen, die mit dem Aufenthalt in Dortmund verbunden wären. Deller: „Der Stadt Dortmund und der Bundesrepublik Deutschland würden keinerlei Kosten entstehen.“
Im April haben dann Tochter und Schwiegersohn den Visumsantrag mit allen nötigen Dokumenten bei der Visastelle der Deutschen Botschaft in Moskau gestellt – und erhielten einen Monat später einen Ablehnungsbescheid. „Wir waren schockiert“, sagt Andreas Deller.
Kein begründeter Härtefall
Die Begründung für die Ablehnung ist für Andreas und Natalia Deller nicht nachvollziehbar. Sie lautet: „Die aktuelle Situation in Russland begründet als solche keine außergewöhnliche Härte.“ Im Übrigen habe das Ausländeramt in Dortmund „die erforderliche Zustimmung zur Visaerteilung verweigert“, schrieb ihnen das Auswärtige Amt.

Die Schokohasen waren zu Ostern für Tochter und Schwiegersohn bestimmt, aber noch immer warten Andreas und Natalia Deller darauf, die beiden in Dortmund in die Arme schließen zu können. © Kolle
„Es wurde ignoriert, dass unsere Kinder sehr persönlich und konkret bedroht sind“, kritisiert Deller auch in einem Brief an OB Westphal. Die Ausländerbehörde in Dortmund behaupte, die Deutsche Botschaft allein sei für die Ablehnungsentscheidung zuständig. Die Botschaft wiederum schreibe, die Zustimmung Dortmunds sei für die Visaerteilung erforderlich. Deller: „Die Ämter schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu. Wenn unsere Tochter und unser Schwiegersohn erst im Gefängnis sitzen, wird es zu spät sein.“
Tochter und Schwiegersohn seien hoch qualifizierte Fachkräfte – er Elektroingenieur und Leiter eines Windparks, sie Computer-Spezialistin. „Man hört doch immer wieder, dass solche Fachkräfte gebraucht werden“, sagt Andreas Deller.
Ausländeramt trifft nicht die endgültige Entscheidung
Die Dellers halten die Ablehnung auch deshalb für unverständlich, weil laut Medienberichten seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs in der Ukraine etwa 10.000 Russinnen und Russen ein Visum für Deutschland bekommen haben, davon 5530 nationale Visa, die einen längeren Aufenthalt ermöglichen. Die Stadt Dortmund hat nach eigener Aussage seit Putins Angriff auf die Ukraine am 24. Februar keinen weiteren Aufnahme-Antrag von russischen Staatsbürgern erhalten.
Die Dellers glauben, dass die Stadt Dortmund das Visum in ihrem Fall aktiv verhindert; denn das Ausländeramt habe sich unter anderem geweigert, die vom Auswärtigen Amt vorgeschlagene Vorabzustimmung zur Erteilung des Visums direkt mit der Verpflichtungserklärung zusammen auszustellen, was das ganze Verfahren verkürzt hätte.
Die Stadt erklärt dazu auf Anfrage, die örtlichen Ausländerbehörden würden im Rahmen von Visa-Verfahren lediglich beteiligt, die endgültige Entscheidung in Visa-Verfahren obliege und verantworte stets die zuständige deutsche Auslandsvertretung.
Stadt: Kein individueller Einzelfall
Die Erteilung eines Visums zur Familienzusammenführung setze eine besondere Härte beziehungsweise Betreuungsbedürftigkeit voraus, so die Stadt weiter. Entweder müsse der im Bundesgebiet lebende oder der nachzugswillige Familienangehörige auf die familiäre Lebenshilfe angewiesen sein, die sich nur im Bundesgebiet erbringen lasse. Hierbei müsse es sich um individuelle Einzelfälle handeln.
Die Deutsche Botschaft habe bei Übersendung der Anträge bereits auf den Umstand hingewiesen, dass diese besondere Härte im Fall des russischen Ehepaars nicht gegeben sei. „Die Ausländerbehörde hat die Anträge dann – nach nochmaliger Rücksprache mit der Deutschen Botschaft – abgelehnt“, so die Stadt.
Von den Dortmunder Bundestagsabgeordneten, die die Dellers angeschrieben haben, hat sich nur Jens Peick (SPD) zurückgemeldet und für ihr Anliegen eingesetzt, hatte aber ebenfalls keine guten Nachrichten. Auch wenn er den Unmut über die Ablehnung verstehen könne, sei sie wohl zu Recht und nach den gültigen Kriterien erfolgt, so Peick nach Rücksprache mit den zuständigen Fachreferenten im Bundestag.
Visumserteilung zur Erwerbstätigkeit
Die Familienzusammenführung sei als Aufnahmegrund nicht anwendbar, weil Natalia Dellers Tochter bereits volljährig und verheiratet sei und nach den bestehenden Regelungen keine der Kriterien für einen Härtefall erfüllt seien.
Tochter und Schwiegersohn gehörten auch nicht zu der Gruppe von Menschen wie Oppositionelle und Journalisten, die aufgrund ihres Einsatzes für Menschenrechte und gegen den Krieg besonders gefährdet seien und denen deshalb im Einzelfall ein Einreiserecht gewährt werden könne. Vielleicht aber komme für die russischen Fachkräfte die Visumserteilung zur Erwerbstätigkeit infrage, schlägt Peick vor.
Dieser Weg sei möglicherweise zielführender beziehungsweise erfolgversprechender, teilt auch die Stadtverwaltung auf Anfrage mit – sofern im Visa-Verfahren entsprechende Nachweise über die Qualifikation erbracht würden.
Remonstrationsverfahren beantragt
Auch diesen Versuch hat die Familie schon unternommen. Der Schwiegersohn schreibt Bewerbungen aus Russland, Andreas Deller für ihn in Dortmund. Bisher ohne Erfolg.
Gleichzeitig haben Tochter und Schwiegersohn ein sogenanntes Remonstrationsverfahren beantragt. Dieses eröffnet die erneute Prüfung durch die Deutsche Botschaft und die Ausländerbehörde.
Natalia Deller hat schon fast die Hoffnung aufgegeben, ihre Tochter mit Ehemann bald in Dortmund in die Arme schließen zu können. Doch vom Dortmunder Ausländeramt kommt jetzt ein Satz, der die Hoffnung wieder keimen lässt: „Möglicherweise wird in den kommenden Wochen eine Regelung zu Einreisen und Aufenthalten von russischen Staatsangehörigen im Kontext des Ukraine-Konfliktes seitens des BMI (Bundesinnenministerium, Anm. der Redaktion) getroffen.“
Stellvertretende Leiterin der Dortmunder Stadtredaktion - Seit April 1983 Redakteurin in der Dortmunder Stadtredaktion der Ruhr Nachrichten. Dort zuständig unter anderem für Kommunalpolitik. 1981 Magisterabschluss an der Universität Bochum (Anglistik, Amerikanistik, Romanistik).
