Sigrid und Joachim Schalla in ihrem Garten im Dortmunder Westen: Vor einem Jahr fiel das Urteil gegen den Mörder ihrer Tochter.

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Familie Schalla nach 3 Jahren Mordprozess: „Das werde ich mir nie verzeihen“

rnErmordete 16-Jährige

Im Jahr 1993 ist Nicole-Denise Schalla getötet worden, vor genau einem Jahr wurde ihr Mörder verurteilt. Die Eltern der Toten erzählen, warum sie an der langen Zeitspanne auch Positives finden.

Dortmund

, 25.01.2022, 04:00 Uhr / Lesedauer: 5 min

Ich weiß nicht, was wir gemacht haben, dass uns das Schicksal so hart trifft. Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir unseren Jungen nicht hätten...“, fängt er an. „Dann wären wir nicht mehr“, sagt sie. „Dann wäre irgendwas nicht mehr so, wie es jetzt ist“, sagt er.

Sigrid und Joachim Schalla sitzen am Küchentisch und sprechen über das Schlimmste, was Eltern passieren kann: den Tod der eigenen Kinder. Und Schallas mussten das nicht nur einmal, sondern gleich zweimal erleben. Janina, die Zweitgeborene, starb im Jahr 2015 mit Mitte 30 an Krebs. Ihre große Schwester Nicole-Denise ist als 16-Jährige im Jahr 1993 ermordet worden.

Sigrid Schalla hält ein Foto in den Händen, das sie mit ihren beiden Töchtern in den 80er-Jahren zeigt.

Sigrid Schalla hält ein Foto in den Händen, das sie mit ihren beiden Töchtern in den 80er-Jahren zeigt. © Kevin Kindel

Bis ins Jahr 2022 hallt der Mordfall nach. Ende Januar ist es zwölf Monate her, dass der Täter verurteilt wurde. Trotzdem blieb er monatelang auf freiem Fuß, nach kurzer Flucht ist er kurz vor Weihnachten in den Niederlanden festgenommen worden und wartet nun noch auf seine Auslieferung nach Deutschland.

Die Wunde, die Janinas Tod 2015 gerissen hat, ist noch frisch. Mutter Sigrid steigen Tränen in die Augen, wenn sie daran denkt. Über „Nici“ sprechen die Eltern aber inzwischen relativ abgeklärt. Schließlich haben sie durch ihren Mordprozess in den vergangenen dreieinhalb Jahren immer wieder öffentlich über sie geredet.

25 Jahre ohne Spur - bis zu einer neuen Analyse

Ein Vierteljahrhundert lang wussten die Eltern zunächst nicht, wer ihre Tochter auf dem abendlichen Heimweg vergewaltigt und erwürgt hat. Neue Analyseverfahren führten dann im Sommer 2018 zur Festnahme von Ralf H. Eine Hautschuppe des verurteilten Gewalttäters ist 25 Jahre zuvor an Nicoles Leiche gefunden worden.

Im Dezember 2018 begann der Prozess gegen ihren Mörder. Und damit eine beispiellose emotionale Achterbahnfahrt. Wobei ein Besuch im Freefall-Tower für den Vergleich passender ist. Ganz langsam wurde die Stimmung an schweren Ketten nach oben gezogen, dann rauschte sie im freien Fall nach unten.

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Immer wieder wurde der Prozess verzögert. Anfang 2020 erkrankte eine Richterin so langfristig, dass alles unter neuer Führung von vorne beginnen musste. Und dann diese Nachricht: Das Oberlandesgericht Hamm meint, die lange Untersuchungshaft sei dem Angeklagten nicht zuzumuten - und entlässt ihn bis auf Weiteres in die Freiheit. Für die Eltern ein Schlag in die Magengrube.

Das Coronavirus sorgte für weitere Verzögerungen, erst im Januar 2021 wurde ein Urteil gesprochen. Mord. Schuldig. Und trotzdem blieb Ralf H. auf freiem Fuß. Er hat Revision eingelegt, damit war das Urteil noch nicht rechtskräftig.

Trotz einer Beschwerde der Dortmunder Staatsanwaltschaft wurde ihm in Hamm weiterhin die Freiheit zugestanden. Der Verurteilte musste nur eine elektronische Fußfessel tragen. Wieder unfassbar für die Eltern.

Im Jahr 2015 musste auch Nicoles Schwester nach einer Krebs-Erkrankung beerdigt werden.

Im Jahr 2015 musste auch Nicoles Schwester Janina nach einer Krebs-Erkrankung beerdigt werden. © Kevin Kindel

Erst Mitte Dezember bestätigte der Bundesgerichtshof dann, dass der Mann aus Castrop-Rauxel derjenige ist, der vor fast 30 Jahren Nicole an der Jungferntal-Grundschule aus dem Bus gefolgt ist. Wenige Schritte von der heimischen Haltestelle entfernt hat er sie überfallen, vergewaltigt, erwürgt und liegen gelassen. Erst am nächsten Morgen ist das Mädchen gefunden worden.

Doch weil sich der Mann nicht in Untersuchungshaft befand, griff das Standardprozedere für weniger schwere Verbrechen: Einen Monat Zeit hatte er, um sich im Gefängnis zu melden. Ralf H. tat das nicht, sondern entledigte sich in Münster seiner Fußfessel, probierte die Flucht.

„Da haben wir bestimmt zu viel Fernsehen geguckt“

„Ich kann doch einem Mörder nicht sagen: ‚In vier Wochen gehst du lebenslänglich ins Gefängnis‘“, sagt Vater Joachim am Küchentisch. „Da haben wir bestimmt zu viel Fernsehen geguckt“, so Mutter Sigrid: „Wir haben gedacht, da fährt die Polizei vor und der wird sofort mitgenommen.“

Erst nach zweitägiger Flucht wurde der Mörder in Enschede gefasst. Immerhin. „Jetzt sitzt er. Mir ist es eigentlich egal, ob in Holland oder hier“, sagt sie.

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Dass „lebenslänglich“ aber nicht zwangsläufig Haft bis zum Tod bedeutet, ist für die Mutter lächerlich: „Betroffene leben ihr ganzes Leben lang damit.“ Deutlich wird das, wenn man die Eltern fragt, warum sie es sich angetan haben, an jedem einzelnen Verhandlungstag im Gerichtssaal Nicoles Mörder gegenüberzusitzen.

„Das war für mich Pflicht meiner Tochter gegenüber“, sagt der Vater. Er habe nicht über Dritte erfahren wollen, was im Saal passiert. Noch fast 30 Jahre nach der Tat plagen ihn schlimme Schuldgefühle. Denn er war mit seiner Frau im Urlaub, als seine Nici ermordet wurde.

Nicole-Denise Schalla wurde 1993 tot aufgefunden. Erst 2018 konnte die Polizei einen Verdächtigen identifizieren.

Nicole-Denise Schalla wurde 1993 tot aufgefunden. Erst 2018 konnte die Polizei einen Verdächtigen identifizieren. © Archiv

Dass eine 16-Jährige schon sehr selbstständig und fast erwachsen ist, lässt Joachim Schalla nicht gelten: „Das ist meine Schuld, wo ich mit leben muss. Ich hab sie zum Reiten gefahren. Ich bin sogar Silvester nachts rumgefahren, wo alles vereist war. Das werde ich mir nie verzeihen.“

„Was wir erlebt haben, damit kann man nie abschließen“, sagt Joachim Schalla mehr als 28 Jahre nach dem Mord. Dem Mutmachspruch „Die Zeit heilt alle Wunden“ kann er nichts abgewinnen: „Das ist nicht so.“

Erstes Treffen: „Ich hab ihn nur angestarrt“

Aber dem Paar hat es geholfen, den Mann vor sich zu sehen, der ihre Tochter umgebracht hat. Wie das erste Treffen im Gerichtssaal war? „Ich hab an nichts gedacht“, sagt Joachim Schalla: „Ich hab ihn nur angestarrt.“ Der Angeklagte ist dem Blick aber monatelang ausgewichen.

Bis er, der bis zum Schluss angab, unschuldig zu sein, dann irgendwann das Wort an die Schallas richtete. „Er hat gesagt, dass ihm das wohl schrecklich leid tut, was wir durchmachen, aber wie schlimm es für ihn als Unschuldiger ist und was er alles erleiden muss“, erinnert sich Mutter Sigrid. „Da bin ich rausgegangen“, sagt Vater Joachim: „Sonst wär ich ihm an die Gurgel gegangen.“

Unverständnis für Richter: „Haben die keine Kinder?“

Das Leben geht für das Ehepaar weiter, wenn auch mit großer Belastung. Kurz vor der Urteilsverkündung erlitt Sigrid Schalla einen Herzinfarkt und musste ins Krankenhaus. Ihr Mann hörte das Mordurteil alleine, die Augen geschlossen und die Hände wie zum Gebet gefaltet.

Wie schafft man es, bei so einer seelischen Tortur nicht komplett zu zerbrechen? „Indem man verantwortungsbewusst ist“, sagt der Vater. Denn Verantwortung haben die beiden für den heute 15-jährigen Pflegesohn, der als Baby zu ihnen kam.

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Das Thema Verantwortung ist es auch, das am meisten Ärger bei Schallas hervorruft, wenn sie über den Mordprozess sprechen. „Dass man solche Urteile fällt, ist für mich nicht tragbar und nicht fassbar“, sagt der Vater. Vor allem die Entlassung des Angeklagten aus der Untersuchungshaft während des Prozesses: „Haben die keine Kinder? Dass die so urteilen...“

„Ich fand es auch vor uns schon furchtbar“, sagt Sigrid Schalla und wischt sich Tränen aus dem Gesicht: „Im Prozess ist ja verlesen worden, was der alles schon getan hat.“ Ralf H. hat auch andere Frauen angegriffen: „Meiner Meinung nach ist der immer viel zu laff bestraft worden.“ Die anderen Frauen hätten Glück gehabt, dass die Taten immer gestört worden sind.

„Dann würde unsere Tochter noch leben“

Fest sei sie davon überzeugt, dass ansonsten schon vorher ein anderes Opfer ums Leben gekommen wäre. „Und dann würde unsere Tochter noch leben“, sagt ihr Mann und atmet tief durch.

„Das sind dann immer so Gedanken, die einen irgendwann mal überkommen“, fügt er hinzu. Aus so einem Loch müsse man dann halt irgendwie wieder rauskommen. Joachim Schalla sagt: „Es muss abgelenkt werden. Sonst geht man wirklich kaputt.“

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Aber geht es dem Paar nach all den seelischen Strapazen jetzt besser als in den Jahren der Ungewissheit, als es noch keinen Verdächtigen gab? „Es ist beruhigender, dass man weiß, jetzt wird da jemand zur Verantwortung gezogen“, sagt Sigrid Schalla. Und durch den Fluchtversuch habe der Täter wahrscheinlich Chancen auf eine frühzeitige Entlassung verspielt.

Mit etwas Abstand zum Prozess kann sie der langen Wartezeit seit dem Tod der Tochter sogar Positives abgewinnen: „Er hat mit Sicherheit da nicht mehr mit gerechnet. Dass er jetzt so aus seinem Leben herausgerissen wird, das gibt mir eine gewisse Genugtuung.“