Der Historiker Dr. Rolf Fischer auf dem früheren Bahnareal an der Treibstraße. Nur eine Bahnhofsuhr und ein alter Schuppen erinnern hier noch an die Vergangenheit als Güterbahnhof.

© Oliver Volmerich

Erste „Höllenfahrt“ für Dortmunder Juden begann vor genau 80 Jahren

rnHolocaust-Gedenken

Mit dem Holocaust-Gedenktag am 27. Januar wird der Befreiung des KZ Auschwitz gedacht. In Dortmund begannen zu diesem Datum vor genau 80 Jahren aber auch die großen Judendeportationen.

Dortmund

, 27.01.2022, 10:23 Uhr / Lesedauer: 4 min

Eine wilde Müllkippe mit alten Möbeln, Baufahrzeuge, Baumaterial und jede Menge Schlamm – es erinnert nicht mehr viel an die Vergangenheit des Areals oberhalb der Treibstraße. Auch Historiker Rolf Fischer muss lange suchen, um noch Spuren aus der Vergangenheit zu finden.

Die alten Gleise, die er vor einigen Jahren noch fotografiert hat, sind inzwischen verschwunden, nur ein alter Schuppen mit Bahnhofsuhr deutet darauf hin, dass hier neben den Gleisen an der westlichen Einfahrt zum Hauptbahnhof einmal Züge gehalten haben.

Eine besondere Rolle spielte der frühere Güterbahnhof nahe der Treibstraße am 27. Januar 1942, also vor genau 80 Jahren. An diesem Tag begann für viele Dortmunderinnen und Dortmunder mit der Fahrt nach Riga eine Reise in Leid und Tod. Es war der Startpunkt für die erste große Deportation aus Dortmund, mit der die Nationalsozialisten die Vernichtung von Jüdinnen und Juden vorantrieben.

„Mit der Deportation nach Riga setzten die Verschleppung und die systematische Ermordung der Dortmunder Juden ein“, erklärt Rolf Fischer, der im Auftrag der Stadt mit dem 2015 erschienenen Gedenkbuch für die Dortmunder Opfer der Shoah ein eindrucksvolles Dokument des Leidens der Dortmunder Juden verfasst hat.

Verfolgung und Exodus

Rund 1200 jüdische Bürgerinnen und Bürger lebten im Januar 1942 noch in Dortmund. Der traurige Rest einer jüdischen Gemeinde, die 1933 noch rund 4600 Mitglieder hatte. Doch bereits kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten starteten Verfolgung und Exodus. Es begann mit dem Boykott jüdischer Geschäfte, Rechtsanwälte und Ärzte und willkürlichen Gewaltexzessen gegen Juden durch Gestapo und SA im Frühjahr 1933.

Mit den Nürnberger Gesetzen vom September 1935 wurden auch in Dortmund Juden aus dem öffentlichen Leben weitgehend ausgeschlossen. 1938 wurde nach einem Beschluss des Dortmunder Rates die prachtvolle Dortmunder Synagoge abgerissen, in der Reichspogromnacht vom 9. November 1938 folgten weitere Gewaltexzesse und Demütigungen.

Zuvor waren in der sogenannten „Polenaktion“ am Ende Oktober 1938 bereits 609 polnischstämmige Jüdinnen und Juden in Dortmund verhaftet und mit dem Zug nach Polen deportiert worden. „Viele von ihnen durften nicht einmal einen Koffer mitnehmen“, berichtet die Historikerin Katharina Wojatzek. Abfahrt des Deportationszuges war auf dem Areal an der Treibstraße nordwestlich des Hauptbahnhofs, das seinerzeit als Güterbahnhof fungierte. So wie auch am 27. Januar 1942.

Vier Tage in einem Saal

Ursprünglich war die erste Deportation von Dortmunder Juden bereits für Ende des Jahres 1941 geplant gewesen, aber aus unbekannten Gründen verschoben worden. Schon im November 1941 waren 500 in Dortmund lebende Jüdinnen und Juden über einen bevorstehenden „Arbeitseinsatz im Osten“ informiert worden.

Die „Reise“ begann für am Ende 332 Dortmunder Jüdinnen und Juden am 23. Januar. Vier Tage lange mussten sie in der Sammelstelle, dem Saal der Gaststätte „Zur Börse“ am Rande des städtischen Viehhofs an der Steinstraße verbringen, „unter erbarmungswürdigen Verhältnissen“, wie Rolf Fischer im Gedenkbuch auf Basis von Zeitzeugen-Berichten schildert.

So sah es am Viehmarkt mit dem Saal „Zur Börse“ an der Steinstraße einmal aus. Das Gelände liegt heute zwischen Musikschule und Dietrich-Keuning-Haus.

So sah es am Viehmarkt mit dem Saal „Zur Börse“ an der Steinstraße einmal aus. Das Gelände liegt heute zwischen Musikschule und Dietrich-Keuning-Haus. © Stadtarchiv

„Die wenigen vorliegenden Aussagen über die Verhältnisse und das Geschehen in der ‚Börse‘ legen nahe, dass es bei keiner anderen Deportation aus Dortmund im Sammellager so gewalttätig und demütigend zuging wie bei der Riga-Deportation“, berichtet Fischer.

Wenige Zeitzeugen-Berichte

Einer der wenigen Zeitzeugen-Berichte stammt von Jeanette Wolff, die den Holocaust überlebte und später Bundestagsabgeordnete für die SPD wurde. „Im Börsensaale lagen wir auf unseren Gepäckstücken auf der Erde, fünf Tage und vier Nächte schikaniert von der Gestapo und ihren Helfern. Das Erste, was wir von den Grausamkeiten der Gestapo zu Gesicht bekamen, war, dass man einen Menschen vor unseren Augen erschoss, weil er in der Nacht einen Schreikrampf bekam“, schildert sie in ihren Erinnerungen.

Eine Gedenktafel am Gebäude der Musikschule an der Steinstraße erinnert an den früheren Standort der Gaststätte „Zur Börse“, die Ausgangspunkt der ersten Judendeportation war.

Eine Gedenktafel am Gebäude der Musikschule an der Steinstraße erinnert an den früheren Standort der Gaststätte „Zur Börse“, die Ausgangspunkt der ersten Judendeportation war. © Oliver Volmerich

Sie berichtet auch vom Start der Deportation: „Am Morgen des 27. Januar 1942 trat ein langer, trauriger Zug unter Bewachung der Gestapo den Weg zum Bahnhof an. Nicht etwa, dass man uns auf den Bahnsteig brachte, wir wurden weit außerhalb der Station in vollkommen verschmutzte, ungeheizte Waggons verladen, auf deren Toiletten der Kot halbmeterdick gefroren war. Wohin wir kamen, wussten wir nicht. Erst als wir im Zuge waren, sickerte langsam durch, dass unser Weg nach Riga in Lettland ging.“

In der Tat wurden die Inhaftierten zu den Gleisanlagen an der Treibstraße geführt. „Dort mussten sie in ungeheizte und arg verschmutzte Personenwagen einsteigen“, erklärt Rolf Fischer. Sie waren an einen Zug angekoppelt, in dem bereits Jüdinnen und Juden aus Gelsenkirchen und Recklinghausen saßen. Insgesamt wurden mit dem bereitgestellten Zug rund 1000 Menschen aus den Regierungsbezirken Münster und Arnsberg transportiert.

Fünf Tage Fahrt in eisiger Kälte

„Drangvolle Enge und unsägliche Zustände herrschten in den Waggons“, berichtet Rolf Fischer, der Quellen und Zeitzeugenberichte ausgewertet hat und von einer „Höllenfahrt“ spricht. Vor allem aber hätten die Menschen während der fünftägigen Fahrt unter der Kälte gelitten.

„Nachts sanken die Temperaturen auf unter -20 Grad, die Toiletten waren ständig zugefroren und auch innen bildeten sich an den Fenstern und Wänden Eisschichten. Einigen erfroren Finger und Zehen. Wenn es tagsüber wärmer wurde, leckten die Leidenden das Schmelzwasser von Fenstern und Wänden, weil es nichts mehr zu trinken gab.“

Am Zielort mussten die Deportierten noch einen Fußmarsch ins Ghetto antreten. Wer dabei zusammenbrach, wurde erschossen. Im Ghetto wurden dann zehn bis zwölf Personen in einem Zimmer eingepfercht. Zwangsarbeit, Gewaltexzesse durch die Bewacher und Hunger bestimmten den Alltag.

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Viele Deportierte wurden von Riga aus später weiter transportiert, einige auch ins Vernichtungslager Auschwitz. Am Ende überlebten wohl nur zwei Dutzend Dortmunder Jüdinnen und Juden die Deportation nach Riga – unter ihnen Jeanette Wolff und ihre Tochter Edith, die später in Berlin lebten.

Deportationen ab Südbahnhof

Der ersten großen Juden-Deportation aus Dortmund am 27. Januar folgten drei weitere. Ausgangspunkt war dabei allerdings der Südbahnhof am Heiligen Weg. Am 30. April 1942 wurden von hier aus 791 Jüdinnen und Juden aus Dortmund und anderen Städten im Regierungsbezirk Arnsberg ins polnische Zamosc deportiert. Sammelpunkt waren Turnhalle und Sportplatz des TSC Eintracht an der Eintrachtstraße.

Die aus der Steinwache gemachte Aufnahme zeigt den Marsch jüdischer Familien von der Sammelstelle „Zur Börse“ an der Steinstraße zum Südbahhnhof am 29. Juli 1942.

Die aus der Steinwache gemachte Aufnahme zeigt den Marsch jüdischer Familien von der Sammelstelle „Zur Börse“ an der Steinstraße zum Südbahnhof am 29. Juli 1942. © Stadtarchiv

„Die Börse“ an der Steinstraße war wiederum Ausgangspunkt für eine Deportation von 324 Jüdinnen und Juden nach Theresienstadt am 29. Juli 1942, die ebenfalls über den Südbahnhof abgewickelt wurde – Abfahrt um 13.27 Uhr, wie ein Bericht der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) vermerkt.

Erinnerungen an Gedenkorten

Eine Gaststätte am Brackeler Hellweg war Sammelpunkt für die letzte große Dortmunder Juden-Deportation am 2. März 1943. Vom Südbahnhof aus ging es direkt nach Auschwitz. Dorthin führte auch eine Deportation von Sinti und Roma aus Dortmund am 9. Mai 1943, die am damaligen Ostbahnhof startete.

An alle diese Orte erinnern Gedenktafeln in der Umgebung – an die ermordeten Sinti und Roma etwa an der Weißenburger Straße, an die Deportationen vom Südbahnhof am Wasserturm am Heiligen Weg und an der Ruhrallee vor dem Gelände des früheren Eintracht-Sportplatzes.

Allein an den Ausgangspunkt der ersten Deportation vor 80 Jahren an der Treibstraße, wo nach Plänen der Stadt ein neues Wohngebiet entstehen soll, findet sich vor Ort bislang keine Erinnerung.

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