
© Archiv Fischer/Grafik Scholten
Dortmunder Juden im Holocaust ermordet: Vergessene Briefe erzählen Familiengeschichte
Holocaust-Gedenktag
Wie viele Dortmunder im KZ Auschwitz starben, das vor 75 Jahren befreit wurde, ist unbekannt. Historische Briefe helfen jetzt, den Weg einer jüdischen Familie aus Dortmund nachzuzeicnhnen.
Fast 2000 Namen jüdischer Bürgerinnen und Bürger aus Dortmund, die der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft zum Opfer fielen, umfasst das 2015 erschienene Gedenkbuch für die Dortmunder Opfer der Shoah, das Rolf Fischer im Auftrag des Stadtarchivs zusammengestellt hat - als eindrucksvolle Mahnung an die Schrecken der NS-Zeit. Viele persönliche Schicksale konnte Fischer in dem Buch nachzeichnen.
Nachfahren suchen Kontakt
Und es ließe sich fortsetzen. Denn die Flut an Material über die Schicksale Dortmunder Juden reißt nicht ab. „In den letzten Jahren erreichen immer häufiger E-Mails die Stadt Dortmund, das Stadtarchiv und auch mich persönlich, in denen Nachfahren von ehemaligen Dortmunder jüdischen Familien Kontakt zur Heimatstadt ihrer Großeltern suchen“, berichtet Rolf Fischer.
„Es sind meist die Kinder jener, die seinerzeit selbst als Kinder und Jugendliche der Verfolgung entkommen sind. Zuweilen geht es um die geplante Verlegung von Stolpersteinen, zuweilen um die Suche nach Dokumenten, Fotos, Grabsteinen oder anderen Spuren der Familiengeschichte.“
Fischer, der sich als Historiker seit mehr als 20 Jahren mit der Geschichte der Dortmunder Juden beschäftigt, versucht zu helfen, wo er kann. Er durchforstet Archive, Adressbücher und historische Zeitungen. „Meistens werde ich fündig, und selbst die kleinsten Funde werden dankbar zur Kenntnis genommen“, berichtet Fischer.
Brief-Fund auf dem Dachboden
Im August 2019 erreichte eine Mail aus Israel das Stadtarchiv, das sie an Fischer weiterleitete. „Die Enkelin von Siegfried und Hertha Dannenbaum, die seit den 1920er-Jahren und bis zu ihrer Deportation 1942 in der Brückstraße 44 lebten, fragte nach der Möglichkeit, für ihre Großeltern Stolpersteine verlegen zu lassen“, berichtet Fischer. Und sie berichtete, dass sie Briefe von ihren Großeltern an ihren eigenen, 1936 nach Palästina geflohenen Vater Rudolf/Reuben besitze.
Eine Nachricht, die Fischer aufhorchen ließ. Er nahm Kontakt mit der Enkelin auf und erfuhr von der Geschichte, die hinter den Briefen steckt. Denn sie hatte nach dem Tod ihrer Eltern auf dem Dachboden einen Koffer mit über hundert Briefen und Ansichtskarten aus Dortmund gefunden.
Regelmäßig hatten die Eltern ihrem Sohn von 1936 bis 1941 nach Palästina geschrieben, erfuhr Fischer, der Kopien der Briefe geschickt bekam. „Schon die ersten 40 Briefe, alle in der schönen und klaren Handschrift der Mutter verfasst, machten deutlich, dass es sich – schon aufgrund der Dichte der Briefe – um eine wertvolle Quelle für die Geschichte der Juden in Dortmund handelt“, stellt Fischer fest.
Leidensweg nacherzählt
Anlässlich des Holocaust-Gedenktags am Montag, 27. Januar, hat der Historiker für unsere Redaktion aufgeschrieben, was die Briefe über den Leidensweg der Familien Dannenbaum aus Dortmund erzählen:
„Über 100 Briefe und eine Reihe Ansichtskarten aus Dortmund schrieben Hertha und Siegfried Dannenbaum zwischen März 1936 und April 1940 ihrem Sohn Rudolf, der als 16-Jähriger der antijüdischen Verfolgung durch das NS-Regime entkommen war und seither in Palästina lebte.
Von steter Sorge um den geliebten Sohn sind die Briefe geprägt und von großer Freude, wenn gute Nachrichten aus Erez Israel (Land Israels) kommen. Sehnlichst erwarten die Eltern die Post. Wenn endlich ein Brief eintrifft, ist die Freude groß. Liegen Fotos bei, werden sie wieder und wieder mit der Lupe betrachtet und ans Herz gedrückt.

Im Haus Brückstraße 44 (rechts) lebte die Familie Dannenbaum. © RN-Archiv
Aus dem mit Hakenkreuzfahnen geschmückten Dortmund sowie von der Not und Bedrängung, die die jüdischen Bürgerinnen und Bürger der Stadt erleiden, berichten die Eltern dem Sohn nur sehr zurückhaltend. Schwierig genug ist seine Situation, da soll er sich nicht auch noch Sorgen um die Eltern machen. Zudem müssen sie damit rechnen, dass die Briefe von Behörden geöffnet werden.
Nachrichten zwischen den Zeilen
So kann vieles nur zwischen den Zeilen mitgeteilt werden. Wörter wie „Überfall“ oder „Deportation“ werden bewusst nicht benutzt. So schreibt Hertha Dannenbaum drei Wochen nach den Überfällen und Zerstörungen im Zuge der Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 ihrem Sohn, dass gottlob „alle gesund sind“, und gibt ihm damit zu verstehen, dass die Familie in der „Kristallnacht“ zumindest von körperlichen Übergriffen verschont geblieben ist.
Die Rückkehr des Vaters aus dem KZ Sachsenhausen, wohin er mit über 300 anderen Dortmunder jüdischen Männern am 12. November 1938 verschleppt worden war und wo er brutale Misshandlungen erlitten hatte, fasst sie in die Worte, dass der Vater endlich wieder zuhause ist, nachdem er „drei Wochen unfreiwillig von uns weg war“.

Die prachtvolle Synagoge am Hiltropwall/Ecke Hansastraße - dort, wo heute das Opernhaus steht - war Zentrum des jüdischen Lebens in Dortmund. Bis 1938 der Abriss von den Nationalsozialisten erzwungen wurde. © Stadtarchiv
Nach dem Novemberpogrom 1938, der auch die letzten Hoffnungen der Juden auf eine wie immer geartete Zukunft in ihrem Heimatland zerstörte, beherrschte nurmehr ein Thema die noch in Deutschland lebenden Juden und auch den Briefwechsel der Familie Dannenbaum: einen Weg zu finden, aus Deutschland herauszukommen.
„Hauptsache raus“
„Egal wohin, Hauptsache raus“, schreiben sie ihrem Sohn und bitten ihn, nach Möglichkeiten zu suchen, dass sie zu ihm nach Palästina ausreisen können. Noch dringlicher ist für die Eltern jedoch, Rudolfs jüngeren Bruder Max in Sicherheit zu bringen. Nach zermürbendem Kampf gegen Bürokratie und Schikanen gelingt es ihnen schließlich: Max entkommt nach Dänemark.
In den Briefen der Dannenbaums aus den Jahren 1938-40 spiegeln sich auf drastische Weise die verzweifelten Versuche aller Mitglieder der großen Familie, Aufnahmeländer zu finden. Rudolfs Lieblingstante Rosa Dannenbaum, die den Briefen der Eltern an den Sohn häufig einige Zeilen hinzufügt, flieht nach Belgien, ein anderer Familienzweig findet Aufnahme in Argentinien.
Ausreise verboten
Siegfried und Hertha Dannenbaum finden keinen Ausweg mehr. Im Herbst 1941 wird Juden die Ausreise verboten, zudem müssen sie nun in der Öffentlichkeit den „Judenstern“ tragen. Wohnen dürfen sie nur noch in „Judenhäusern“, die ebenfalls neben der Eingangstür mit einem Stern gekennzeichnet sein müssen.
Erste Deportationslisten werden erstellt. Normaler Briefverkehr ist im dritten Jahre des Krieges nicht mehr möglich. Als letztes Lebenszeichen erreicht den Sohn in Palästina im August 1941 ein Telegramm der Eltern, das über das Rote Kreuz versandt wurde.

Eine über das Internationale Rote Kreuz vermittelte Nachricht ist eines der letzten Lebenszeichen von Siegfried Dannenbaum. © Volmerich, Oliver
Als auch in Dortmund im Januar 1942 die Deportationen in Ghettos und Lager in Osteuropa einsetzen, leben noch 1200 Jüdinnen und Juden in der Stadt. Rudolfs Eltern werden mit der zweiten großen Deportation aus Dortmund am 30. April 1942 ins Ghetto von Zamosc, ins besetzte Polen, verschleppt. Von dieser Deportation kehrte niemand zurück.

Eines der wenigen Zeugnisse der Deportationen in Dortmund: Die aus der Steinwache gemachte Aufnahme zeigt den Marsch jüdischer Familien in Richtung Südbahnhof am 29. Juli 1942. © Stadtarchiv
Hinweise auf Todesdatum und Todesort der Opfer liegen in fast allen Fällen bis heute nicht vor. „Tante Rosa“, die von Belgien weiter nach Frankreich geflohen war, fällt den Nazis nach der deutschen Besetzung Westeuropas im Sommer 1940 wieder in die Hände. Am 10. August 1942 wird sie vom französischen Sammellager in Drancy aus nach Auschwitz deportiert und dort ermordet.
Traurige Gewissheit
Schon wenige Tage nach Kriegsende treten die beiden entkommenen Söhne in Briefkontakt. Max schreibt aus Dänemark seinem Bruder in Palästina, dass er noch nichts über das Schicksal der Eltern in Erfahrung bringen konnte.
Doch bald wird aus der bösen Ahnung Gewissheit: Hertha und Siegfried Dannenbaum, Rosa Dannenbaum und eine Reihe anderer Familienmitglieder sind im Zuge des Holocaust ermordet worden.
Eine Dortmunder jüdische Familie von Hunderten, die bis 1933 ein gut integrierter Teil der Stadtgesellschaft waren und die dann dem rassistischen Wahn und der Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten, ihrer Helfer und Sympathisanten zum Opfer fielen.

Das Haus Brückstraße 44, in dem die Familie Dannenbaum lebte, ist heute Teil des Brück-Centers (r.). © Oliver Volmerich
Max Dannenbaum besuchte 1947 Dortmund und suchte auch das ehemalige Zuhause der Familie in der Brückstraße 44 auf. Was er fand waren Trümmer – auch das die Folge von zwölf Jahren Naziherrschaft.“