„Reißt ab den Judentempel!“ Das Schicksal der Dortmunder Synagoge – NSDAP-Chef vor Gericht

© Stadtarchiv Dortmund/Grafik Verena Hasken

„Reißt ab den Judentempel!“ Das Schicksal der Dortmunder Synagoge – NSDAP-Chef vor Gericht

rn9. November

Die Dortmunder Synagoge fiel den Nazis schon kurz vor den Novemberpogromen 1938 zum Opfer. Verantwortlich war Dortmunds oberster Nazi Friedrich Hesseldieck. All seine Taten bleiben ungesühnt.

Dortmund

, 09.11.2022, 05:24 Uhr / Lesedauer: 10 min

Friedrich Hesseldieck ist von 1936 bis 1940 Dortmunds oberster Nazi. Er sät den Judenhass und sorgt für den Abriss der Synagoge. Den Gerichtssaal verlässt er nach dem Krieg als freier Mann.

Zum Jahrestag der Novemberpogrome am 9. November 1938 veröffentlichen wir diesen Artikel aus dem Jahr 2018 noch einmal.

Hesseldiecks Verhaftung im Jahr 1949

Flucht- und Verdunkelungsgefahr. Kriminalbeamte nehmen Friedrich Hesseldieck am 13. September 1949 auf seiner Arbeitsstelle in den Leitz-Werken im hessischen Wetzlar fest und bringen ihn in die Untersuchungshaftanstalt nach Dortmund. In die Stadt, in der er seit 1925 gelebt und viele Jahre als Prokurist für die VEW gearbeitet, wo er einst der NSDAP beigetreten ist und es vom Ortsgruppenführer bis zum Kreisleiter geschafft hat.

Dass ihn die Vergangenheit noch einmal einholt, kommt für den 56-Jährigen überraschend, nachdem er bereits 1948 für seine Zeit im Braunen Haus in München zu sechs Monaten Haft verurteilt worden war, weil er „dem politischen Führerkorps der NSDAP in Kenntnis seines verbrecherischen Charakters angehört hatte“. Als Hauptamtsleiter in der Partei-Kanzlei war Hesseldieck zuletzt Hitlers Sekretär Martin Bormann persönlich unterstellt.

Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Jetzt wird er wieder angeklagt. Diesmal geht es um Erpressung. Und um Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Dem zweifachen Familienvater wird vorgeworfen, der Jüdischen Religionsgemeinde Groß-Dortmund 1938 mit der Ausrottung gedroht und so den Verkauf der Synagoge zu einem Spottpreis erzwungen zu haben. Leo Jonas und Dr. Louis Koppel, damals Vertreter der Gemeinde, die sich vor dem Holocaust ins Ausland retten konnten, hatten ihren Peiniger 1946 angezeigt.

Friedrich Hesseldieck in seiner Zeit als ehrenamtlicher NSDAP-Kreisleiter in Dortmund.

Friedrich Hesseldieck in seiner Zeit als ehrenamtlicher NSDAP-Kreisleiter in Dortmund. © Stadtarchiv Dortmund

Hesseldieck, ein Mann mit markantem Gesicht, spitzer Nase und Seitenscheitel. Von der Gauleitung wird er 1936 als überzeugter Nazi, weltanschaulich gefestigt, zuverlässig und vor allem als guter Propagandist beurteilt. Zwölf Jahre später ist alles anders. Der Krieg und das untergegangene Reich haben Hesseldieck altern lassen.

Seine privilegierte Stellung hat er verloren, schlägt sich als Hilfsarbeiter durch; ein Sohn gilt an der Front als vermisst. Zugesetzt haben ihm auch die 15 Monate im Internierungslager Staumühle in seiner ostwestfälischen Heimat. In Staumühle sitzen damals Kriegsverbrecher wie Alfried Krupp und der Auschwitz-Arzt Eduard Wirths ein. Das alles bleibt nicht ohne Spuren. Hesseldieck ist krank, leidet an einer Magen-Darm-Störung und Herzmuskelinsuffizienz.

Trägt Hesseldieck die Hauptverantwortung?

Spuren einer kranken Zeit zieren auch die Dortmunder Innenstadt, die im Zweiten Weltkrieg in Schutt und Asche gelegt worden ist. Das Untersuchungsgefängnis Lübecker Hof befindet sich nur wenige Hundert Meter von der Reinoldikirche entfernt. Vom einstigen Wahrzeichen der Stadt, dem Gotteshaus mit der barocken Haube, stehen seit den schweren Bombenangriffen auf Dortmund nur noch die Außenmauern.

Während die Reinoldikirche in den nächsten Jahren wieder aufgebaut werden wird, ist ein anderes Wahrzeichen für immer verloren. Die Synagoge am Hiltropwall wurde nicht durch alliierte Bomben zerstört, sondern 1938 von der Stadt abgerissen. In Friedenszeiten, die für die jüdische Gemeinde in Dortmund alles andere als friedlich waren. Trägt Hesseldieck dafür die Hauptverantwortung?

Die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft Dortmund im Landesarchiv Münster zeugen von einem wahren Justizkrimi. Drei Bände mit insgesamt rund 1000 Dokumenten geben Einblick in das dunkelste Kapitel der Dortmunder Stadtgeschichte. Nüchterne Verträge und Protokolle; Zeitungsartikel, die Hesseldiecks rassistische Hetze wiedergeben; Zeugenaussagen, die den ehemaligen Kreisleiter schwer belasten. Eine Beweislage wie diese hätte in der NS-Zeit wohl jeden Regimekritiker an den Galgen gebracht.

Friedrich Hesseldieck (ganz links) und Dr. Hans Pagenkopf bei der Prozesseröffnung auf der Anklagebank im Dortmunder Landgericht. Vor den beiden sitzen ihre Rechtsanwälte. Gegen Pagenkopf wurde das Verfahren wenig später eingestellt. Hesseldieck musste auf seinen Urteilsspruch noch drei Jahre lang warten.

Friedrich Hesseldieck (ganz links) und Dr. Hans Pagenkopf bei der Prozesseröffnung auf der Anklagebank im Dortmunder Landgericht. Vor den beiden sitzen ihre Rechtsanwälte. Gegen Pagenkopf wurde das Verfahren wenig später eingestellt. Hesseldieck musste auf seinen Urteilsspruch noch drei Jahre lang warten. © Stadtarchiv Dortmund

Geht es nach der Staatsanwaltschaft, soll ein am 19. September 1938 geführtes Gespräch im Besprechungsraum des Dortmunder Stadthauses den ehemaligen Kreisleiter für Jahre ins Gefängnis bringen. Hesseldieck als Dortmunds oberster Nazi bestellt damals Vertreter der Jüdischen Gemeinde ein. Auch Dortmunds Bürgermeister und Liegenschaftsdezernent Dr. Hans Pagenkopf nimmt an der Sitzung teil.

Während es im Juli noch um den Verkauf eines an die Synagoge angrenzenden Rasenstreifen gegangen war, um den Hiltropwall zu verbreitern, verlangt die Stadt nun das ganze Grundstück. Für eine neue Konzerthalle oder einen Parkplatz. Vor allem aber soll ein Luftschutzbunker für die Bevölkerung gebaut werden. Vorgeschobene Gründe - mit einem realen Kern. Dortmund soll Bochum als Gauhauptstadt ablösen. Pläne für eine nationalsozialistische Musterstadt, die Hesseldieck in die Karten spielen, um die Synagoge aus dem Herzen der Innenstadt verschwinden zu lassen.

Voller Angst stimmt der Gemeinde-Vorstand dem Verkauf zu

Pagenkopf und er wollen den Verkauf der Synagoge für 170.000 Reichsmark besiegeln. Ein Spottpreis. Grundstück und Gebäude werden damals vom Finanzamt Dortmund-Süd auf das Fünffache geschätzt. Als Leo Jonas, Vorsteher der jüdischen Gemeinde, und Dr. Louis Koppel als Vorsitzender des Repräsentanten-Kollegiums im Rathaus den Verkauf ablehnen, reagiert Hesseldieck mit deutlichen Drohungen, wie Koppel später aussagt.

Wenn die Gemeinde nicht zustimme, sei es ihm ein Leichtes, die Zahl der Gemeindemitglieder innerhalb weniger Wochen von 2600 auf 600 herunterzubringen. Die Drohung sitzt. Voller Angst stimmen die jüdischen Vertreter noch am selben Tag dem Verkauf zu. Jede Weigerung wäre nur eine leere Geste, für die man nicht den Tod eines einzigen Menschen verantworten könne, sagt Rabbiner Dr. Moritz David damals.

Hören Sie hier die Erinnerungen von Dr. Louis Koppel, Vorsitzender des Repräsentanten-Kollegiums der Jüdischen Gemeinde Groß-Dortmund, 5. November 1946 (nachgesprochen):

Vor dem Dortmunder Schwurgericht weist der Angeklagte Hesseldieck die Erpressungsvorwürfe weit von sich. Er habe er an der Sitzung im Stadthaus lediglich als „stiller Beobachter“ teilgenommen und Pagenkopf als Bürgermeister das Wort überlassen. Denn nicht aus rassistischen, sondern aus städtebaulichen Gründen sei die Synagoge damals abgerissen worden.

Über den „reibungslosen Verlauf der Besprechung“ sei er damals „erstaunt und beglückt“ gewesen – und er geniert sich nicht einmal, die Verhandlungen mit den jüdischen Vertretern als „charmant“ zu bezeichnen. Der damals mitangeklagte Pagenkopf, gegen den das Verfahren aber bald eingestellt wird, bestätigt in der Beweisaufnahme, dass die Unterredung ohne Drohung stattgefunden habe.

Hören Sie hier die Zeugenaussage von Rabbiner Dr. Moritz David, 1. August 1950 (nachgesprochen):

Ohne politischen Hintergrund? Das Protokoll einer Sitzung von Dortmunder Vertretern mit dem Ruhrsiedlungsverband vom 1. September 1938 beweist das Gegenteil. Darin spricht Hesseldieck von „politischer Notwendigkeit“, der „Synagogenbau an dieser Stelle der Innenstadt“ sei für die NS-Bewegung untragbar. Und für Hesseldieck besonders unerträglich: Die NSDAP-Kreisleitung an der Hansastraße liegt direkt gegenüber dem jüdischen Gotteshaus. Den täglichen Anblick will er sich künftig ersparen.

DIe NSDAP-Kreisleitung an der Hansastraße stand direkt gegenüber der Synagoge - ein Dorn in den Augen der Nazis.

DIe NSDAP-Kreisleitung an der Hansastraße stand direkt gegenüber der Synagoge - ein Dorn in den Augen der Nazis. © Stadtarchiv Dortmund

Fakt ist: Zum damaligen Zeitpunkt haben es die Nazis überall im Reich auf die jüdischen Gotteshäuser abgesehen. Bereits im Juni 1938 wurde die Münchner Synagoge abgerissen, kurz darauf folgten Nürnberg und Kaiserslautern. Jetzt ist Dortmund an der Reihe, ein prachtvoller neugotischer Bau, der mit 1300 Plätzen zu den größten und schönsten Synagogen im Reich zählt. „Eine Zierde der Stadt für ewige Zeiten“, schwärmte Bürgermeister Wilhelm Schmieding einst bei der Einweihung im Juni 1900. Doch schon nach 38 Jahren sind ihre Tage gezählt.

Seite an Seite mit Rudolf Heß

Und Hesseldieck selbst ist es, der die „Beseitigung des Judentempels“ ankündigt – in einer Rede, die er nach seiner Rückkehr vom Reichsparteitag in Nürnberg am 13. September noch auf dem Bahnhofsvorplatz hält. Dort habe er für den Synagogen-Abriss die „ausdrückliche Ermächtigung vom Stellvertreter des Führers“ Rudolf Heß bekommen, betont er. Die Redakteure der Westfälischen Landeszeitung Rote Erde als NSDAP-Organ klatschen ihm Beifall.

Persönliche Differenzen mit Hitlers Sekretär Martin Bormann

Hesseldieck kennt Rudolf Heß spätestens seit dessen Besuch 1936 in Dortmund. Damals stellte der Kreisleiter die Pläne für die Rudolf-Hess-Siedlung in Renninghausen vor. Das Grundstück dafür hatte die Katholische Kirche unter Androhung von Enteignung an die Stadt abgetreten. Dafür sorgte Hesseldieck. Als dieser später „für seine Verdienste“ von Dortmunds Oberbürgermeister Willi Banike 1941 die Stadtplakette in Gold verliehen bekam, stand sein Einsatz für das nationalsozialistische Wohnungsbauprogramm im Zentrum der Laudatio. Er habe sich bei seinem Schaffen immer nur von der nationalsozialistischen Idee leiten lassen, betonte Hesseldieck.

Rudolf Hess, Kreisleiter Friedrich Hesseldieck und Gauleiter Josef Wagner (2.,3. und 4. von links) 1936 an einem Modell der geplanten Rudolf-Hess-Siedlung im Alten Rathaus in Dortmund.

Rudolf Hess, Kreisleiter Friedrich Hesseldieck und Gauleiter Josef Wagner (2.,3. und 4. von links) 1936 an einem Modell der geplanten Rudolf-Hess-Siedlung im Alten Rathaus in Dortmund. © Archiv Hombrucher Geschichtsverein

Seiner Regimetreue und der Bekanntschaft zu Heß ist es zu verdanken, dass Hesseldieck im Mai 1940 bei der „Dienststelle Stellvertreter des Führers“ zum Reichsamtsleiter aufsteigt. Die Zusammenarbeit mit Heß aber währt nicht lange. Nur wenige Tage später bricht dieser zu seinem Flug ohne Wiederkehr nach Großbritannien auf. Aufgrund persönlicher Differenzen mit seinem neuen Vorgesetzten Martin Bormann scheidet Hesseldieck 1943 aus der Dienststelle aus. Später übernimmt er das Amt des Oberbürgermeisters in Bochum, flüchtet kurz vor Einmarsch der Amerikaner ins Siegerland und wird nach dem Krieg in seiner ostwestfälischen Heimat festgenommen und interniert.

Hesseldieck stellt sich als „der gute Nazi“ dar

Was Rüstungsminister Albert Speer in den Nürnberger Prozessen gelungen ist, versucht Hesseldieck im Kleinen auch in Dortmund. Er räumt zwar anders als Hitlers Architekt keine individuelle Schuld ein, versucht sich aber als guter Nazi zu positionieren. Hesseldieck bringt Zeugen heran, die ihm bescheinigen, dass er ein distanziertes Verhältnis zur Gauleitung besaß, dass er gar Regimegegner gewesen sei und Juden vor Repressalien bewahrt habe.

Als der Dortmunder Edmund Jeenicke 1938 aus Ärger über den Inhalt ein SA-Plakat von einer Hauswand riss, soll Hesseldieck ihn vor schwerer Strafe geschützt und aus der Gestapo-Haft befreit haben. Freifrau Erna von Reiswitz sagt aus, Hesseldieck habe sich gegen die Verhaftung des jüdischen Werkleiter ihres Vaters, Dr. Felix Goldmann, „in aufopferungsvoller Art und Weise eingesetzt, obwohl bekannt war, dass Hitler alles verzeihen konnte, nur nicht das Eintreten für einen Juden“. In Dortmund soll Hesseldieck auch „die Unterbringung einer angeblich geistesgestörten Frau in einem Irrenhaus und ihre Sterilisierung verhindert“ haben.

Und auch im Fall der Dortmunder Synagoge gibt sich der Angeklagte Hesseldieck als Gönner. Persönlich habe er dafür gesorgt, dass der Jüdischen Gemeinde „die kulturellen Einrichtungen und Gegenstände der Synagoge gesichert wurden“.

Lebensgefahr in der Synagoge

Die Realität beschreiben die wenigen Überlebenden kurz nach dem Krieg ganz anders. Josef Silberberg ist damals Hausmeister und wird vom Gemeindevorstand beauftragt, innerhalb einer Woche die wertvolle Innenausstattung der Synagoge auszubauen und sicherzustellen. Hesseldiecks Wort, wenn es jemals existiert hat, ist keinen Pfifferling wert.

Schon am ersten Tag steht die SA in der Synagoge und ordnet noch für den selben Abend die Räumung an. Gegen Mittag dann marschiert eine Horde junger Nazis mit Werkzeugen ein, löst Kronleuchter und andere Beleuchtungskörper unfachmännisch von der Decke und schleudert sie ohne Rücksicht auf Silberberg und seine Helfer zu Boden. Eine lebensgefährliche Situation, in der es kaum möglich ist, das gesamte Inventar zu retten.

Die SA konfisziert die Kaufsumme

Die wenigen geretteten Gegenstände werden schließlich im Pferdestall eines jüdischen Eigentümers in Dorstfeld untergebracht. Die Orgel wird an die katholische Gertrudis-Kirchengemeinde in der Nordstadt verkauft.

Und die Demütigungen nehmen kein Ende: Silberberg wird von der Gestapo für eine Aussage vorgeladen. Man habe in einem Nebenraum der Synagoge staatsfeindliche Schriften gefunden. „Es handelte sich dabei um verstaubte Zeitungen und Zeitschriften, die den offenbar frischen Stempel trugen: ‚Eigentum der Jüdischen Religionsgemeinde Dortmund‘“. Silberberg ahnt, „dass sie von der Gestapo nur als Belastungsmaterial hineingeschleppt worden waren.“ Unter diesem Vorwand fällt der noch kurz zuvor vereinbarte Kaufpreis von 170.000 Reichsmark dem Staat zu. Koppel und andere Gemeindevertreter müssen die Konfiszierung per Unterschrift bestätigen. „Wir haben dann ohne ein Wort unterschrieben.“ Juden sind in Hesseldiecks Dortmund wie in ganz Hitler-Deutschland entrechtet.

Die jüdische Synagoge in den Händen der Nazis. Das will der Kreisleiter in der Öffentlichkeit feiern.

„Reißt ab den Judentempel!“, soll Friedrich Hesseldieck am 21. September vor 300 NS-Anhängern auf den Stufen der Synagoge gerufen haben.

„Reißt ab den Judentempel!“, soll Friedrich Hesseldieck am 21. September vor 300 NS-Anhängern auf den Stufen der Synagoge gerufen haben. © Stadtarchiv Dortmund

Der Dortmunder Louis Uhl wird am 21. September 1938 aufgeregt von seiner Frau zum Fenster gerufen. Gegenüber der Kaufmanns-Wohnung am Hiltropwall gehe etwas Unheimliches vor. Es ist kurz nach 18 Uhr – und hoch oben auf der Synagoge macht sich jemand an der Kuppel zu schaffen. Rund um das altehrwürdige Gebäude stehen mehrere Hundert Menschen. Viele in Uniform. Hitlerjungen, SA-Männer, Volksgenossen.

Auf der Treppe vor dem Portal des Gebäudes steht Kreisleiter Hesseldieck, in stattlicher Uniform, judenfeindlich und entschlossen. Louis Uhl hört ihn hetzen: „Reißt ab den Judentempel!“ Kurz darauf fällt die Weltkugel mit dem Davidstern vom Kuppeldach. Die Menge jubelt. Hitlerjungen stimmen ein antisemitisches Lied an. Einige von ihnen stürmen in die Synagoge.

Hören Sie hier die Zeugenaussage des Dortmunder Kaufmanns Hans Kamler, 18. August 1948 (nachgesprochen):

Uhl sieht, wie nach kurzer Zeit einige Eindringlinge herauskommen, die Hände voller Zylinder und Papiere. „Die Zylinder traten sie vor sich hin, während sie die Papiere vor sich in die Luft warfen.“ Innen wird das noch vorhandene Inventar - Bücher, Kopfbedeckungen und Talare - auf den Boden geworfen, Hetzparolen werden mit Kreide an die Wände geschrieben.

Vor Gericht wird Friedrich Hesseldieck aussagen, den Angriff auf die Synagoge habe er nicht beabsichtigt. Augenzeugen sehen das anders: „Der Inhalt seiner Rede war darauf gerichtet, die Zerstörung gutzuheißen und vorzubereiten“, gibt der Kaufmann Hans Kamler kurz nach dem Krieg zu Protokoll. Und auch Louis Uhl ist sich damals sicher, dass die Hetzrede „eindeutig zur Beschädigung der Synagoge beigetragen“ hat.

Hören Sie hier die Zeugenaussage von Heinrich Hollenstein, ehemaliger Schutzpolizist, 20. Dezember 1947 (nachgesprochen):

Der eigentliche Abbruch der Synagoge beginnt am 3. Oktober. Gut zwei Wochen später werden das Gewölbe und die Betondecken des Gebäudes gesprengt – was die Westfälische Landeszeitung Rote Erde genüsslich im Bild dokumentiert. „In wenigen Tagen wird der ehemalige Judentempel, der sicherlich das Stadtbild Dortmunds nicht verschönert hat, vom Erdboden verschwinden“, heißt es im Text. Tatsächlich sind die Überreste der Synagoge bis auf die Bodenfundamente bis Ende Dezember abgebrochen und abgeräumt. Zuvor hatten NS-Schergen in der Pogromnacht vom 9. November noch ihre Wut an der Ruine ausgelassen, indem sie sie mit Benzin übergossen und anzündeten.

Dass Essener Unternehmen Altwert wurde 1938 mit dem Abriss der Synagoge beauftragt.

Dass Essener Unternehmen Altwert wurde 1938 mit dem Abriss der Synagoge beauftragt. © Stadtarchiv Dortmund

Die Aussagen von Louis Uhl und Hans Kamler sorgen erst dafür, dass die Ermittlungen gegen Friedrich Hesseldieck von der Staatsanwaltschaft Dortmund 1948 wieder aufgenommen werden. Die beiden Augenzeugen waren von der Jüdischen Religionsgemeinde Groß-Dortmund aufgespürt und ihre Aussagen einer Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens beigefügt worden.

Die Gemeinde – zu diesem Zeitpunkt von einst 2600 Mitgliedern vor dem Holocaust auf 50 Mitglieder dezimiert – will den Hauptverantwortlichen der Dortmunder NSDAP zu Zeiten der Reichspogromnacht vor Gericht sehen. In Dortmund wie im ganzen Reich ist die Nacht vom 9. auf den 10. November der Tag, an dem der Antisemitismus und Rassismus staatsoffiziell werden. Sie bereitet den Weg zum größten Völkermord in der Geschichte der Menschheit. Allein aus Dortmund werden danach 1965 Männer, Frauen und Kinder jüdischen Glaubens deportiert und in den Konzentrationslagern ermordet.

Das Schwurgericht zweifelt die Aussagen der Zeugen an

Zeugen beschreiben Hesseldieck in diesem Prozess als Hetzer, Antisemiten und politischen Einheizer. Bei der Urteilsfindung vor Gericht im November 1953 spielen diese Aussagen keine Rolle mehr.

Die Britische Militärregierung entzog den deutschen Gerichten zwischenzeitlich die Aburteilung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Darunter fällt auch die Verfolgung der Zivilbevölkerung aufgrund von rassistischen, politischen und religiösen Motiven. Für eine Verurteilung geht es allein noch um die Frage, ob Hesseldieck den Verkauf der Synagoge mit einer Drohung erzwungen hat.

„Keine individuelle Schuld des Angeklagten“

Und das Schwurgericht unter Führung von Landgerichtsdirektor Dr. Helmut Wienand zweifelt die Aussagen der beiden Hauptbelastungszeugen Koppel und Jonas an. Weil Details ihrer Angaben zum zentralen Gespräch am 19. September 1938 nachweislich nicht richtig sind. Unter anderem gibt Koppel an, Hesseldieck sei zu besagter Sitzung in SA-Uniform erschienen. Das erwies sich als falsch. Sie hatten die Besprechung in ihren Erinnerungen in den August 1938 vorverlegt.

Dazu fand das Gericht gute Gründe dafür, anzunehmen, dass anders als behauptet in besagter Sitzung noch nicht über den Verkaufspreis gesprochen worden sein konnte. Alles Kleinigkeiten, die jedoch nach Auffassung des Gerichts auch die zentrale Aussage der beiden Belastungszeugen in Zweifel ziehen. Es sei nicht auszuschließen, dass die Drohung Hesseldiecks „erst später bei einer anderen Gelegenheit geäußert wurde“ und mit dem Verkauf der Synagoge selbst nichts zu tun habe.

„In der Besprechung selbst brachte er – davon ist das Gericht überzeugt – seine Forderung in einer Weise vor, die kaum einen Widerspruch duldete.“ Für eine Drohung im Sinne des §253 Strafgesetzbuch reiche das Verhalten des Angeklagten nicht aus, sondern stelle lediglich einen Ausfluss der damaligen politischen Situation dar und könne als ein „allgemein von der Parteileitung auf die Angehörigen der jüdischen Rasse ausgeübter politischer Druck angesehen werden, nicht aber als eine darüber hinausgehende individuelle Schuld des Angeklagten“.

Hesseldieck lebt ein langes Leben

Am Ende steht der Freispruch für Friedrich Hesseldieck. Er verlässt als freier Mann das Landgericht in Dortmund. Er profitiert vor Gericht von der Rechtstaatlichkeit eines Systems, das er spätestens mit dem Eintritt in die NSDAP 1931 abgelehnt hatte. Er zieht 1962 nach Niederhöchstadt bei Eschborn. Ihm gelingt es, als Kaufmann Fuß zu fassen und zu kleinem Wohlstand zu kommen. Anders als den vielen gefallenen und ermordeten Menschen in der NS-Zeit ist ihm ein langes Leben beschieden. 1991 stirbt er im Alter von 98 Jahren.

Der Angeklagte Hesseldieck aus der Feder des Gerichtszeichners einer Tageszeitung.

Der Angeklagte Hesseldieck aus der Feder des Gerichtszeichners einer Tageszeitung. © Stadtarchiv Dortmund

Die Prozessakten aus dem Landesarchiv hinterlassen ein zwiespältiges Bild von Friedrich Hesseldieck. Auf der einen Seite belegen zahlreiche Zeugenaussagen und Dokumente, dass er in seiner Dortmunder Zeit der öffentliche Hetzer und Antreiber des Antisemitismus in Dortmund war. Auf der anderen Seite will er nach 1945 nichts mehr davon gewusst, sich - im Gegenteil - sogar für Verfolgte eingesetzt haben. Wie also ist die politische und moralische Schuld von Hesseldieck zu bewerten?

„Hesseldieck war ein Organisator der Gewalt“

„Die von Hitler bestätigten NSDAP-Kreisleiter“, sagt der Historiker Daniel Ristau, der sich mit deren Rolle im Kontext der Novemberpogrome in Sachsen beschäftigt, „nahmen bei der Vermittlung und Umsetzung der nationalsozialistischen Ideologie im lokalen Raum eine Schlüsselrolle ein.“ Die gelte auch für die antisemitische Hetze des Regimes die Juden.

So seien die Kreisleiter etwa bei der Durchführung der Novemberpogrome in vielen Fällen als Organisatoren von Gewalt und Zerstörung in Erscheinung getreten. „Nicht anders war es mit Hesseldieck in Dortmund, wie die Quellen zeigen. Dass er nach Kriegsende seine Schuld möglichst kleinzureden versuchte, um der Strafverfolgung zu entgehen, hatte er mit vielen anderen NS-Tätern und -Belasteten gemein“, betont Ristau.

Dabei habe Hesseldieck von der Grundstimmung in dieser Phase der bundesdeutschen und alliierten Vergangenheitspolitik profitiert: „Einerseits ging es darum, ehemalige Nationalsozialisten wieder in Staat und Gesellschaft zu integrieren; andererseits gab es aber auch allgemein den Wunsch, angesichts von wirtschaftlichem Wiederaufstieg und Westintegration einen Schlussstrich unter die Strafverfolgung zu ziehen.“

Drei Jahre nach dem Freispruch für Hesseldieck wird in Dortmund die Holzhofstraße in Geschwister-Scholl-Straße umbenannt. Hier hatte Friedrich Hesseldieck während seiner Zeit als Kreisleiter gewohnt.

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Die Dortmunder Synagoge in Bildern

28.10.2018

Wiedergutmachung

800.000 Mark Entschädigung

1952 macht die Jüdische Gemeinde Wiedergutmachungsansprüche gegen die Stadt Dortmund geltend. Ihr werden im Teil eines Vergleichs für den Verlust der Synagoge 800.000 DM zugesprochen. Das Geld nutzt die Jewish Trust Corporation für den Wiederaufbau der Gemeinde Dortmund und von Gemeinden in Nordwestdeutschland.