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Dortmunds erste Diskos: Als Howard Carpendale für den „König der Brückstraße“ sang
Ruhr-Nachrichten-Klassiker
Wer nach dem Krieg in Dortmund tanzen gehen wollte, musste in spießige Tanzsäle. Dann revolutionierten in den 1960ern die ersten Diskos das Nachtleben. Ein Streifzug durch eine wilde Zeit.
Dortmund war in den frühen 1960er-Jahren beileibe keine schöne Stadt: Der Zweite Weltkrieg hatte zahlreiche Narben im Stadtbild hinterlassen. Wo die Ruinen bereits beseitigt worden waren, hatte man schnell hässliche 50er-Jahre-Zweckbauten hochgezogen. Dank der Schwerindustrie hing über der Stadt oft ein leichter Gestank. Es war die Wirtschaftswunder-Maloche-Zeit. Nach Feierabend wurden die Sorgen in den zahlreichen Kneipen ertränkt.
„Ruhr-Nachrichten-Klassiker“
In unserer Reihe „Ruhr-Nachrichten-Klassiker“ stellen wir alte Artikel vor, die wir zeitlos schön finden.Im Nachtleben herrschte noch Zucht und Ordnung: Wer ausgehen und feiern wollte, ging in die Tanzsäle. In Läden wie dem Ambassador (dem heutigen Village), dem Corso oder der Ostwallschänke spielten Kapellen, man tanzte in Anzug oder Kleid klassische Paartänze, bis die Band nach ein paar Liedern eine Pause machte. Dann ging es zurück an Tische mit Nummern, wo man sich mit Wahlscheiben-Telefonen gegenseitig anrufen konnte. Nicht wenige der Gäste hatten eine Anstandsdame dabei.
„Wir parierten nicht mehr so wie früher“
Doch die Gesellschaft war im Umbruch: Die erste Generation, die den Krieg nicht oder nur unbewusst erlebt hatte, hielt nicht mehr viel von den züchtigen Abendveranstaltungen in den Tanzsälen. „Wir parierten nicht mehr so wie früher“, erinnert sich Elke Wichert, die damals aufwuchs. „Wenn wir ausgingen, zogen wir uns Mini-Röcke an, malten uns schwarze Balken über die Augen und klebten uns verlängerte Wimpern an.“ Die Jugend hat keine Lust mehr auf Foxtrott, „wir tanzten lieber alleine rum“, sagt Wichert.

In Tanzsälen wie dem Ambassador tanzte man im Anzug und Kleid klassische Paartänze. Das wollten in den 1960ern immer weniger junge Menschen. © Archiv Kornbrennerei Krämer
Passend zum Zeitgeist machte 1964 die erste Disko Dortmunds auf: das Metronom am Schwanenwall. Im Gegensatz zu den Tanzsälen kam hier die Musik vom DJ hinterm Plattenspieler. Pausen waren passé, es gab durchgängig Beschallung. „Die Einrichtung war vom Feinsten“, erzählt Ruud van Laar, „viel Holz, viele Sitznischen, eine Mischung aus Western-Saloon und englischem Pub“.
Der heute 75-jährige van Laar war Stammgast im Metronom – jedoch nur halb privat: „Ich hab da den Gigolo gegeben“, sagt er. „Unter den Gästen waren viele Autoverkäufer, damals waren das richtig reiche Leute. Doch die wollten lieber in Ruhe was trinken als mit ihren Freundinnen oder Frauen zu tanzen. Das habe ich dann übernommen.“ Als „Lohn“ gaben ihm die Autoverkäufer einen Drink nach dem anderen aus. „Ich hatte also den Vorteil, kostenlos besoffen und gleichzeitig beliebt bei den schönen Frauen zu sein.“ Van Laar lernte im Metronom seine erste Ehefrau kennen.
Spaghetti für 2,50 Mark, die Luden gaben Colas aus
Wolfgang Bläs, Jahrgang 1945, der damals ein junger Sparkassen-Angestellter war, machte mit seinen Kollegen ab und zu nach Feierabend Station im Metronom, auf eine geteilte Flasche Weinbrand: „Um uns tobte das Leben, überall tanzten die Leute. Es war immer gute Stimmung, viel ungezwungener als in den Tanzsälen.“ Das Metronom kam so gut an, dass sehr schnell die nächsten Diskos aufmachten. Bald hatte Dortmund eine blühende Nachtleben-Szene.
Ein Samstagabend begann für viele Dortmunder häufig im Forum an der Kampstraße, einem der ersten Italiener Dortmunds, in den Arkaden neben Musik Jellinghaus. „Da gab es Spaghetti für 2,50 Mark, das war damals noch etwas Besonderes“, erinnert sich Elke Wichert.
Das Publikum war extrem gemischt, neben normalem Ausgehvolk hingen im Forum auch die Luden des Brückstraßenviertels herum. „Die waren in Ordnung“, sagt Wichert über die Zuhälter. „Manchmal gaben die einem eine Cola aus.“ Danach schaute sie an den zahlreichen Kinos der Brückstraße vorbei und ging in einen der neuen Filme.
So gegen 22 Uhr machte sich Wichert mit ihrer Gruppe dann auf die klassische „Rundreise“: so lange durch die Kneipen und Diskos der City ziehen, bis man Freunde traf. Etwa ins Derby, ein kleiner, dunkler Laden schräg gegenüber vom Metronom am Schwanenwall, dessen Fenster von innen verkleidet waren und auf dessen Tanzfläche höchstens vier Schreibtische gepasst hätten, schätzt Wichert.
Dann weiter ins Early Bird an der Ecke Ostwall / Kaiserstraße, eine Kellerdisko. „Bei der Klofrau konntest du alles kaufen, von Kondomen bis Haarspray“, erinnert sich Wichert. Und natürlich in den Birds Club, eine düstere Höhle mit Schwarzlicht im ersten Stock neben Lütgenau am Ostenhellweg, die erste Disko in Dortmund, in der Soul gespielt wurde – übrigens von Ruud van Laar, der seit 1967 als DJ arbeitete und den Laden zwischenzeitlich betrieb.
Der „König der Brückstraße“ stieg mit dem Riverboat dick ins Disko-Geschäft ein
Ein weiterer Star der Dortmunder Disko-Szene der späten 1960er-Jahre war das Riverboat im Brückstraßenviertel. An der Ludwigstraße war der selbst ernannte „König der Brückstraße“, der Niederländer Wil Rohde, dick ins Disko-Geschäft eingestiegen. An die Fassade ließ er ein stilisiertes halbes Schiff nageln, die Einrichtung „war vom Feinsten, das kannten die Dortmunder so noch nicht“, sagt Ruud van Laar.
Im Riverboat traten Costa Cordalis, Peter Maffay und Howard Carpendale auf. Wenn es keine Konzerte gab, liefen Schlager und Frank Sinatra. Draußen verkaufte Rohde laut van Laar die ersten Pommes Dortmunds. Die Schlangen vor seinen Imbisswagen, die auf einer Brache an der Ecke Wall / Kuckelke standen, waren manchmal mehrere hundert Meter lang, besonders wenn die Vorstellungen in den nahen Kinos der Brückstraße zeitgleich endeten.
Im Ria‘s Saloon saßen die Gäste auf Kuhfellen
Das Party-Dreieck mit dem Metronom und dem Riverboat machte Ria’s Saloon an der Geschwister-Scholl-Straße komplett. Hier arbeitete Heidemarie Heimann als Bardame. „Eigentlich war ich ein Jeans-Mädchen, doch für die Arbeit musste ich mir einen schicken schwarzen Fummel kaufen“, erinnert sie sich.
Generell ging es edel zu in der im Western-Stil gehaltenen Disko: Die Gäste saßen auf Stühlen mit Kuhfellen, Kellner in Hemd und Weste und mit Fliege waren im Laden unterwegs. Heimann war für eine Ecke des großen Tresens zuständig. Sie nahm nur Bestellungen auf, für die Getränke war der Barkeeper zuständig.

Ria‘s Saloon war eine der ersten Diskos in Dortmund. Später zog in ihre Räume die Kult-Disko Keller ein. © Archiv Kornbrennerei Krämer
„Das war schon ein irrer Personalaufwand“, sagt Heimann, die später unter anderem die Kneipen Theaterklause und Gänsemarkt in der City betrieb und immer noch in der Gastronomie arbeitet. Das alles hatte seinen Preis: „Einen Abend in den Diskos konnte sich nicht jeder leisten“, meint Elke Wichert.
Um im Konkurrenzkampf der Diskos mit dem Riverboat mitzuhalten, gab es auch in Ria‘s Saloon häufig Konzerte, unter anderem von den Lords, den sogenannten „Deutschen Beatles“. Auch Rock-Gigant Mick Jagger war einmal zu Gast.
Ria`s Saloon markierte für viele Nachtschwärmer die nördliche Grenze der Partyzone in der Innenstadt. Schon damals hatte die Nordstadt einen gewissen Ruf. „Die Nordstadt war Milieu“, erinnert sich Ruud van Laar. „Die Münsterstraße galt schon als No-Go-Area, bevor der erste Gastarbeiter oder Migrant da hinzog.“
Es gab Jugendbanden wie die Stollenpark-Boys und den James-Dean-Fanclub, denen man besser nicht über den Weg lief, Luden und Kleinkriminelle soffen in halbseidenen Kneipen. „Unsere Eltern haben es uns verboten, die Bahnlinie nach Norden zu überqueren“, sagt auch Elke Wichert.
In der Pille wurden oben kommunistische Bücher verkauft, unten ein Weltrekord aufgestellt
Stattdessen traf sich die Szene Ende der 1960er-Jahre gerne in der Pille am Brüderweg – eine Mischung aus Disko, Buchhandlung, Klamottenladen, Teestube und Bistro, benannt nach der damals noch relativ neuen Antibabypille. Tagsüber wurden oben unter der Hand kommunistische Bücher verkauft, während nachts unten getanzt wurde.
1969 sei in der Pille sogar ein Weltrekord aufgestellt worden, sagen van Laar und Heimann: Drei Tage und Nächte feierten dort 1969 einige Paare durch, wobei man das am Ende nicht mehr wirklich Tanzen nennen konnte, meint Heimann, die zu der Zeit in der Pille arbeitete. Auf der anderen Straßenseite des Brüderwegs wartete die Annette-Bar auf Gäste, besonders auf weibliche. „Die wurde damals von einem Perser betrieben“, erzählt Heimann. „Vorne hat er eine kleine Bar gehabt und hinten seine Teppiche verkauft, vor allem aber Mädels vernascht.“
Wenn die Ehefrau den Grünkohl in die Kneipe bringt
Die Nachtszene dieser Disko-Anfangsjahre war in ständiger Bewegung. Vieles bei Dortmunds ersten Diskos war noch improvisiert, überall ploppten neue Läden auf und machten alte zu – auch in den Stadtteilen, wo es die Blaue Grotte in Kirchhörde, das Old Daddy in Brechten und noch viele andere Tanzlokale gab.
„Für mich waren die 1960er die schönste Zeit“, sagt Ex-Partygänger Wolfgang Bläs. „Die Ausgehszene war sehr vielfältig, es war für jeden etwas dabei.“ Bläs war oft durchgängig von Freitag- bis Sonntagabend unterwegs. „Meine damalige Frau hat mir Sonntagsmittags den Teller Grünkohl in die Kneipe gebracht, weil ich da mit Freunden Karten gespielt habe.“
Ein halbes Jahrhundert später ist die Zeit über die Pioniere der Dortmunder Disko-Szene hinweggegangen. Keine der ersten Diskos Dortmunds gibt es noch. Da, wo früher das Riverboat war, ist heute der Künstlereingang des Konzerthauses, im Gebäude des Metronom, das später auch noch andere Discos wie die Suite 23 beherbergte, arbeiten heute Rechtsanwälte.
Am längsten wurde am Standort von Ria’s Saloon getanzt: Sein letzter Nachfolger, der Keller, schloss 2015. Seitdem steht die Disko-Legende leer.
Dieser Artikel erschien erstmals am 8. Dezember 2018.
„Legenden des Dortmunder Nachtlebens“
- Dortmunds Nachtszene hat in den vergangenen Jahrzehnten etliche Diskos kommen und gehen gesehen. In dieser Serie stellen wir legendäre Läden vor, die ihre Gäste besonders geprägt haben.
- Dieser Artikel beruht auf Zeitzeugen-Berichten. Doch da die Ereignisse in ihm mehr als ein halbes Jahrhundert zurückliegen und Erinnerungen manchmal trügen, kann es sein, dass das eine oder andere Detail verzerrt wird. Wir waren jedoch bemüht, alle Aussagen durch eine zweite Quelle zu bestätigen.
1984 geboren, schreibe ich mich seit 2009 durch die verschiedenen Redaktionen von Lensing Media. Seit 2013 bin ich in der Lokalredaktion Dortmund, was meiner Vorliebe zu Schwarzgelb entgegenkommt. Daneben pflege ich meine Schwächen für Stadtgeschichte (einmal Historiker, immer Historiker), schöne Texte und Tresengespräche.
