
© picture alliance/dpa
Das Orpheum in Dortmund: Wo Prince um ein Kettenhemd feilschte
Ruhr-Nachrichten-Klassiker
Das Orpheum war in den 80er-und 90er-Jahren eine der aufregendsten Diskos Dortmunds. In dem umgebauten Kino tranken Punks Wein zu Reggae-Klängen und feierten Gruftis neben Ärzten. Superstar Prince mietete einmal sogar den ganzen Laden – und machte einem Barmann ein verlockendes Angebot.
Der Parkplatz von Autoteile Unger am Fuß der Dorstfelder Brücke ist ein Unort. Man kommt zu ihm nur widerwillig, wenn der Keilriemen quietscht oder die Klimaanlage nicht funktioniert. Doch dort, wo heute kaputte Autos fluchend abgestellt werden, stand einst eines der Epizentren des Dortmunder Nachtlebens: das Orpheum.
Das Orpheum hatte eine lange Geschichte als Vergnügungstempel. 1911 entstand an der Rheinischen Straße der erste Kino-Neubau Dortmunds, das Orpheum-Residenz-Theater mit 375 Sitzplätzen. Ein prunkvoller Bau, auf dessen Dach eine Pegasus-Statue hervorsprang – ein Blickfang. Das Orpheum überlebte den Zweiten Weltkrieg, wenn auch in einem weit weniger spektakulären Neubau, aber nicht das Kinosterben der Siebziger Jahre.

Die Rheinische Straße in Richtung Innenstadt vor dem Zweiten Weltkrieg. Das Orpheum (links) war 1911 Dortmunds erster Kino-Neubau. Die beiden Türme im Hintergrund gehören zum Geländer der alten Aktienbrauerei. © Archiv Valentin Frank
Cocktails wurden in der Ex-Loge gemixt
Ende 1981 übernahmen Heinz Bremm und Fredi Sürig das leerstehende Kino. In fünf Monaten Eigenarbeit verwandelten die beiden das Orpheum in eine Disko. „Aus dem 2. Parkett wurde das Tanzparkett und in der Loge […] wurden nun Cocktails geschüttelt“, schrieb das Dortmunder Ausgeh-Magazin Nachtzähne. Am 2. März 1982 drehte sich im ehemaligen Kinosaal die erste Platte.
„Ruhr-Nachrichten-Klassiker“
In unserer Reihe „Ruhr-Nachrichten-Klassiker“ stellen wir alte Artikel vor, die wir zeitlos schön finden.„Das Orpheum war besonders“, erinnert sich Gordon Vogel. Der heute 50-Jährige weiß gar nicht mehr, wie viele Abende er als junger Erwachsener im Orpheum verbracht hat – erst als Stammgast, später hinterm Tresen, an der Lichttechnik, an der Garderobe und schließlich als DJ an den Plattentellern. Das Orpheum ist eine Leidenschaft des Software-Entwicklers, er sammelt alte Flyer und Poster, hat sogar einen alten Grundriss des Gebäudes.
Das Orpheum war eine düstere Höhle
Gordon Vogel kann das Orpheum noch genau beschreiben: Wer durch die alten Pendeltüren kam, betrat eine düstere Höhle. An den Wänden hing noch der dunkle Stoff aus Kinosaal-Zeiten, die selbst gezimmerten Theken waren aus schwarz angestrichenem Holz.
Für etwas Licht sorgten schmale Leuchtröhren, die in Wände und die Tresen eingearbeitet waren. Auf dem Gewächshaus-ähnlichen Plexiglasdach über der kleineren der beiden Theken prangten farbige, psychedelische Muster, die der Legende nach herumreisende Hippies gemalt hatten.
Ein Entdecker-Schuppen, keine Maistream-Disko
Schnell machte sich das Orpheum einen Namen in der Nachtszene der Stadt. „Wir wollten keine Mainstream-Disko sein“, sagt Fred Marek, der den Laden als Geschäftsführer 15 Jahre lang leitete. Das Orpheum war ein Entdecker-Schuppen: Hier ging man hin, wenn man neue, überraschende Musik hören wollte.
Die DJs fuhren mehrfach im Monat nach Amsterdam, um die neuesten US-Platten zu kaufen. „Die haben jedes Mal 1000 bis 1200 Mark ausgegeben“, erzählt Marek. Das machten die anderen Diskos zwar auch, doch anstatt der neuesten Scheibe von Madonna oder Prince brachten die Orpheum-DJs die frischen Platten von The Smiths und New Order mit. „Es gab ja noch kein Internet, noch nicht einmal MTV“, erinnert sich Marek an die Anfangsjahre. „Bei uns waren die Lieder also schon Monate zu hören, bevor sie in Deutschland zu Hits wurden.“
Playlist: Ein Best-Of von Orpheum-Liedern, unter anderem zusammengestellt von DJ Gordon
Im Orpheum lief alles bunt gemischt, mal New Wave, mal Punk, mal Rock, oft B-Seiten oder ungewöhnliche Remixe. „Da stand auch schon mal ein Punk mit einem Glas Wein an der Theke und freute sich über ein Reggae-Stück, bevor er zu den Dead Kennedys auf der Tanzfläche abging“, sagt Vogel.
Auch unter Musik-Stars sprach sich herum, dass es da in Dortmund eine interessante Disko gab. Die Toten Hosen feierten gerne mit den Mitgliedern der befreundeten Dortmunder Punkband Clox an der Dorstfelder Brücke, erzählt Vogel, es gibt auch etwas unscharfe Fotos von Dieter Bohlen im Orpheum, und das Musiklabel von Milli Vanilli schmiss sogar einmal eine Goldene-Schallplatten-Party für das Pop-Duo in der Disko. Der englische Popstar Lisa Stansfield feierte bestimmt ein Dutzend Mal inkognito im Orpheum, erzählt Ex-Geschäftsführer Marek.
Prince wollte Cocktail-Mixer dessen Kettenhemd-Weste abkaufen
Seinen größten Auftritt hatte das Orpheum aber 1988. Pop-Superstar Prince war in der Stadt, zum letzten Konzert seiner Deutschland-Tour in der Westfalenhalle. Kurzfristig buchte sein Management das Orpheum zwei Abende hintereinander für zwei Privatfeiern, einmal für seine Roadies, einmal für die Presse.
Schnell sprach sich die Nachricht herum. Die Türsteher hatten ihre liebe Mühe, Hunderte junge Fans davon abzuhalten, das Orpheum zu stürmen. Nur einige Mädchen kamen rein, von den Roadies persönlich ausgesucht, denn drinnen herrschte Frauenmangel. Ihre Freunde blieben draußen.

Der legendäre Coktail-Mixer des Orpheums, „Erdbeer-Dieter“ (rechts). © Archiv Mickey Owens
Am Tresen kam es zu einer denkwürdigen Begegnung zwischen dem US-Star und dem Cocktail-Mixer des Orpheum. Es ist eine von Mareks Lieblingsgeschichten. Hinter der Theke stand damals ein hagerer, großer Mann mit Mick-Jagger-Mimik, den alle wegen seiner roten Haare nur „Erdbeer-Dieter“ nannten.
„Dieter hatte einen ausgefallenen Modegeschmack“, erzählt Marek, „an dem Abend trug er eine Kettenhemd-Weste auf der blanken Brust. Prince fand die Weste so gut, dass er sie unbedingt habe wollte. Er bot Erdbeer-Dieter mehrere Hundert Dollar für sie an, doch Dieter schaute ihn immer nur mit seinem unbewegten Gesicht an und sagte ‚Nein‘.“ Schließlich gab der Star entnervt auf.
Stammgast gibt fast 300 Mark für Liedsuche aus
Noch begehrter als die Mode von Erdbeer-Dieter waren bei den normalen Gästen aber die Mitschnitte der DJ-Sets: Viele brachten eine Kassette mit, ließen sie und 10 Mark beim DJ und holten sie später bespielt wieder ab.
Was für einen Einfluss die Musik auf die Orpheum-Jünger haben konnte, zeigt die Geschichte von Jörg Schwarzkopf. Der Orpheum-Stammgast – damals ein Teenager – hörte auf einem der Mixtapes einen Song, kein Gesang, nur Akustik. „Ich wollte unbedingt dieses Stück haben und habe Gott und die Welt im Orpheum angequatscht, wie das heißen könnte“, erzählt er. Leider war die Kassette in der Zwischenzeit kaputt gegangen, so dass er das Stück niemandem mehr vorspielen konnte.
Also kaufte Schwarzkopf nach jedem Tipp, wie der Song heißen könnte, auf Verdacht die jeweilige Maxi-Single. Als er knapp 300 Mark ohne Erfolg in Platten gesteckt hatte, lief der Song wieder im Orpheum. „So wanderte endlich die richtige Maxi in meine mittlerweile recht stattliche Sammlung: Es war ‚Vicious Pink - To Nowhere‘, eine B-Seite.“
Punks tanzten neben BWL-Studenten, Gruftis neben Ärzten
Drei Tage in der Woche hatte das Orpheum auf, mittwochs, freitags und samstags. Der Laden war meistens voll. „An einem ganz normalen Tag kamen so um die 800 Leute pro Abend, an einem richtig knalligen Tag an die 1200“, sagt Ex-DJ Gordon Vogel. Das Publikum war extrem gemischt: Punks tanzten neben Ärzten, Gruftis neben Prolls.
Sie wurden beschallt von einer mächtigen Soundanlage. Von ihr schwärmt Vogel noch heute: „Das war eine Soundanlage von JBL, die hatte einen glasklaren, brillanten Klang und einen Bass, der so gewaltig war, dass du den Druck im Bauch gespürt hast.“ Um bei der Lautstärke Getränke bestellen zu können, entwickelte sich im Laufe der Zeit sogar eine Orpheum-Zeichensprache.
Probleme mit dem Soundgarden
Seine bombastischen Bässe halfen dem Orpheum auch, sich Anfang der Neunziger Jahre ein Stück weit neu zu erfinden: DJ Mario De-Bellis etablierte den Mittwoch als Techno-Tag, es gab Goa- und Gabba-Partys, die After-Show-Partys der Mayday. „Das hat Spaß gemacht, aber eigentlich war das nicht unsere Musik“, sagt Ex-Geschäftsführer Marek. Nötig geworden war dieser Schwenk durch die Eröffnung des Soundgardens.
Die Disko im Gerichtsviertel war größer und moderner als das Orpheum. Es gab aber noch ein ernsteres Problem. „Die haben unser Konzept kopiert“, sagt Ex-DJ Gordon Vogel. „Es gab das Gerücht, dass die Kassetten bei uns aufnahmen und die dann im Soundgarden abgespielt haben. So haben sie uns die Leute weggeholt.“
Pachtvertrag wurde nicht verlängert
Doch nicht der Soundgarden sorgte für das Ende des Orpheums, sondern die Eigentümer-Gemeinschaft des Grundstücks. 1997 wurde der Pachtvertrag der Disko nicht verlängert, die Besitzer wollten das Grundstück verkaufen. Es wurde Marek für 750.000 Mark angeboten. Zu viel für den Zustand des Hauses. Gordon Vogel sagt dazu: „Die Immobilie war Schrott.“ Durch die unmittelbare Nähe zur Bahnstrecke hatten sich in den Mauern Risse gebildet, auch in das Dach hätte man kräftig investieren müssen. Und so machte das Orpheum für immer zu, später wurde das Gebäude abgerissen, der Parkplatz entstand.
Damit ist die Geschichte des Orpheums jedoch nicht zu Ende: Seine Fans halten das Andenken an den legendären Club lebendig. Es gibt zwei große Nostalgie-Gruppen auf Facebook mit zusammen fast 2000 Mitgliedern. Und seit 2009 huldigen seine Jünger der untergegangenen Disko mehrmals im Jahr auf den Orpheum-Partys im Happy Happy Ding Dong, die Vogel organisiert und auf denen er die alten Lieder spielt. Der Andrang ist so groß, dass er überlegt, in größere Räume umzuziehen.
Das Orpheum lebt weiter.
Dieser Artikel erschient erstmals am 24. April 2018.
1984 geboren, schreibe ich mich seit 2009 durch die verschiedenen Redaktionen von Lensing Media. Seit 2013 bin ich in der Lokalredaktion Dortmund, was meiner Vorliebe zu Schwarzgelb entgegenkommt. Daneben pflege ich meine Schwächen für Stadtgeschichte (einmal Historiker, immer Historiker), schöne Texte und Tresengespräche.
