Viele Dortmunder Kinder kämpfen mit Corona-Folgen Was Elif und anderen Schülern helfen soll

Kinder in der Krise – und wie sie wieder herauskommen
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Dieser Schultag im Dezember an der Libellen-Grundschule beginnt an der frischen Luft. Er führt die Burgholzstraße entlang über eine Querstraße bis zu einem Schild. Kleingärtnerverein Hansa steht darauf.

Über geschotterte Wege geht es an Gartentörchen und Fahnenmasten vorbei, dann hinten links. Hier hat die Klasse 3a , die „Bienen-Klasse“, heute Unterricht. Einen Tag pro Woche, seit September. Das hat einen Grund.

Lockdown, Distanzunterricht, Homeschooling: Was in den Jahren 2020 und 2021 mit dem Schulsystem und damit Tausenden Dortmunder Kindern passiert ist, wird erst jetzt richtig sichtbar.

Besonders bei Grundschülern machen sich zwei verlorene Jahre bemerkbar. Inhaltliche Rückstände in den Fächern Deutsch und Mathematik sind zuletzt in einer von der Kultusministerkonferenz vorgestellten Studie beschrieben worden.

Hochbeete und Gartenzaun

Die Schulen, ein einziger Ort von Defiziten und voller Kinder, die nicht mitkommen? Das wirkt an diesem kalten, klaren Wintermorgen im Kleingarten im Dortmunder Norden nicht so.

Assia trägt eine dicke Winterjacke und eine Bommel-Mütze auf dem Kopf. „Das ist Mangold, hier haben wir Salat, da vorne im Gewächshaus sind die Möhren“, sagt die Achtjährige.

Erst ist sie noch etwas schüchtern, dann wird sie mit jeder Gemüsesorte selbstbewusster. Schließlich haben sie und die anderen in ihrer Klasse jede Pflanze selbst mit großgezogen.

Im hinteren Teil des Gartens stehen sieben Kinder mit Pinseln über Zaunlatten, die sie bunt gestalten. „Ich bin fertig“, ruft Mario (9), bringt dann den Pinsel zum Auswaschen, legt alles an den vorgesehenen Platz zurück.

Kinder aus der Libellen-Grundschule in der Dortmunder Nordstadt in einem Kleingarten, den sie seit Beginn des Schuljahres selbst pflegen. Im Hintergrund: Denise Marquardt vom Verein Querwaldein, die das Projekt betreut.
Kinder aus der Libellen-Grundschule in der Dortmunder Nordstadt in einem Kleingarten, den sie seit Beginn des Schuljahres selbst pflegen. Im Hintergrund: Denise Marquardt vom Verein Querwaldein, die das Projekt betreut. © Felix Guth

Keine Lehrer und nur Vornamen

Alles läuft sehr geregelt ab, es liegt eine gewisse Ruhe in den Handlungen der Kinder.

Vor den Herbstferien seien die Kinder zu Projektleiterin Denise Marquardt gekommen und hätten aufgelistet, was sie sich an Aufgaben im Garten machen wollen. Ein kleiner Schritt, aber durchschlagend im Vergleich mit der Situation nach den Lockdowns.

Die Kinder sprechen die Erwachsenen, die hier sind, nur mit Vornamen an. Sie heißen Denise, Lukas und Joel, eine Umwelt-Pädagogin vom Verein Querwaldein und zwei angehende Sozialarbeiter.

„Machen wir später noch Feuer?“, fragt ein Junge. „Mal sehen“, sagt Denise.

Die Drittklässler der Libellen-Grundschule in Dortmund sprechen über ihren Tag zwischen Garten und Mathe-Förderstunde.
Die Drittklässler der Libellen-Grundschule in Dortmund sprechen über ihren Tag zwischen Garten und Mathe-Förderstunde. © Felix Guth

Im Norden der Stadt war der Digitalunterricht auf Distanz aus unterschiedlichen Gründen ein größeres Problem als anderswo in der Stadt.

Technische Ausstattung, beengter Wohnraum, Verlust von Strukturen, dazu bei manchen ein anderes Verständnis von Bildung – all das hat die Situation gerade dort erschwert, wo schon vor Corona die ungünstigsten Bedingungen für Bildung herrschten.

Kinder „wie eingefroren“

Christiane Mika, Leiterin der Libellen-Grundschule, erinnert sich an die ersten Schultage nach der Wiedereröffnung der Schulen im Frühjahr 2021. „Die Kinder waren wie eingefroren, saßen da völlig leer. Sie waren nur noch gewohnt, zu konsumieren“, sagt die Schulleiterin.

Die kindliche Entwicklung sei beeinträchtigt gewesen, Lerninhalte blieben nicht haften. „Es ist nicht nur Lernarbeit, sondern auch psychologische Arbeit“, sagt Christiane Mika.

Drittklässlerin Assia mit Christiane Mika, Rektorin der Libellen-Grundschule, im Kleingarten in einer Anlage an der Burgholzstraße in der Dortmunder Nordstadt.
Drittklässlerin Assia mit Christiane Mika, Rektorin der Libellen-Grundschule, vor einem Hochbeet im Kleingarten in einer Anlage an der Burgholzstraße in der Dortmunder Nordstadt. © Felix Guth

Feuer im Unterricht

Während die eine Hälfte der „Bienen-Klasse“ pinselt und gärtnert, sitzt die andere in der Schule über dem regulären Unterrichtsstoff - Mathe statt Mangold.

Zum Ende des Schultages kommen alle Kinder zusammen und sprechen über Fotos aus dem Garten und das Erlebte. Selbst diejenigen, die sich sonst nicht viel zu sprechen trauen, schildern in der Runde ihre Beobachtungen.

Und ja: Die Garten-Gruppe hat noch Feuer gemacht, wie zu riechen ist.

Zehn von 24 Kindern in dieser Klasse sprechen wenig oder gar kein Deutsch, rund die Hälfte hat sonderpädagogischen Förderbedarf. Es gibt, so berichtet eine Lehrerin, Kinder, die rechnen dem Alter entsprechend bis 1000. Andere erst bis 20.

Schülerinnen und Schüler der Brukterer-Grundschule im Stadtteil Lanstrop: Hier soll ein ganzjähriges kunstpädagogisches Konzept helfen, durch die Corona-Pandemie entstandene Lernrückstände aufzuholen.
Schülerinnen und Schüler der Brukterer-Grundschule im Stadtteil Lanstrop: Hier soll ein ganzjähriges kunstpädagogisches Konzept helfen, durch die Corona-Pandemie entstandene Lernrückstände aufzuholen. © Felix Guth

Szenenwechsel an die Brukterer-Grundschule im Stadtteil Lanstrop. Der Kontrast zwischen dem ländlichen Ortsteil am Stadtrand von Dortmund und der Nordstadt könnte kaum größer sein. Doch auch hier sitzen Kinder in den Klassen, denen die beiden Corona-Jahre fehlen.

„Es gibt immer noch Aufholbedarf“, sagt Michaela Krafft, Rektorin der Brukterer-Grundschule.

Einige von ihnen sitzen in der Jugendfreizeitstätte Lanstrop um einen Tisch herum und arbeiten an Weihnachtskarten. Ein Achtjähriger steht auf und geht zu einer Auswahl an Winter-Bildern. Mit Klebe-Sternchen wählt er aus, welches ihm am besten gefällt.

Wilder Schultag mit Plan

„Schule zu Hause hat keinen Spaß gemacht. Mit anderen zusammen macht es mehr Spaß“, sagt der Junge. Er hat gerade wenig Zeit.

Die anderen haben sich in der Pause schon in den Bewegungsraum verzogen. Tür zu, Licht aus, drinnen rumpelt es. „Uns ist ein Bild runtergefallen“, ruft ein Junge, der den Kopf kurz durch die Tür gesteckt.

Wirkt wild für einen Schultag. Zugleich fällt hier, ähnlich wie in der Nordstadt, auf, dass die Gruppe in sich ruht.

Schulleiterin Michaela Krafft sagt: „Vor allem das Arbeiten in den kleinen Gruppen macht sich bemerkbar und öffnet neue Möglichkeiten.“ Die Rückmeldungen von Eltern seien positiv. „Viele sagen: So stellen sie sich Lernen vor.“

Das Team der Jugendfreizeitstätte Lanstrop um Leiterin Conny Bothe (3.v.l.) arbeitet eng mit der Brukterer-Grundschule zusammen, die von Michaela Krafft (2.v.r.) geleitet wird.
Das Team der Jugendfreizeitstätte Lanstrop um Leiterin Conny Bothe (3.v.l.) arbeitet eng mit der Brukterer-Grundschule zusammen, die von Michaela Krafft (2.v.r.) geleitet wird. © Felix Guth

Zugleich berichten alle Beteiligten auch von Eltern, die erst davon überzeugt werden mussten, dass ein Schultag mit Kunst oder im Kleingarten genauso viel wert ist, wie ein Tag mit Schulaufgaben. „Manche wollen auch mehr Arbeitsblätter“, sagt Christiane Mika von der Libellen-Grundschule.

Eltern brauchen Motivation

Dr. Aysun Aydemir hat als Vorsitzende des Dortmunder Türkischen Elternvereins Kontakt zu vielen Eltern aus der Dortmunder Nordstadt. Sie sieht, dass für solche Extra-Projekte oftmals „Überzeugungsarbeit“ zu leisten sei. „Die Vertrauensbasis zwischen Eltern und Schule ist sehr wichtig.“

Man müsse Eltern motivieren und „ihnen klarmachen, worauf es ankommt.“ Aydemir sagt: „Der Dortmunder Norden hat sein Image. Aber man sieht auch: Wenn man in Bildung investiert, können Kinder richtig schnell Deutsch lernen.“

Viele Eltern sprechen nach wie vor ungern offen über die Probleme, die durch die Pandemie und ihre Folgen ausgelöst worden sind. Eine Mutter sagt gegenüber dieser Redaktion: „Es ist schwieriger geworden, als der Druck in den Schulen wieder losging und sich alles andere auch wieder geöffnet hat.“

Was bringt das neue Lernen?

Was bleibt an Erkenntnissen nach einem Schultag im Kleingarten und im Kunstprojekt? Einerseits diese: Den Kindern tut diese Abwechslung vom standardisierten Lernen sichtlich gut.

So könnte man zu dem Schluss kommen: Jeder Dortmunder Schule würde ein solches Konzept vermutlich helfen. Was aber vor allem eine Geldfrage sein dürfte, denn Kosten und Personalaufwand für „Lernen neu denken“ sind nicht unerheblich.

Zugleich können auch gut funktionierende Hilfen wie diese den Blick darauf nicht verschleiern, dass einige Dinge Realität sind. An Standorten wie der Libellen- oder Nordmarkt-Grundschule bleibt mindestens ein Drittel der Kinder fünf Jahre in der Grundschule. Die Quote der Gymnasial-Empfehlungen liegt ebenfalls bei 30 Prozent oder weniger.

Helfen die bisherigen Methoden?

Die bisherigen Methoden mit Noten, strengem Lehrplan und gegliedertem System in der weiterführenden Schule, das macht Libellen-Grundschul-Rektorin Christiane Mika deutlich, hält sie allein für nicht ausreichend, das zu schaffen. Es brauche neue Wege.

„Jetzt extra viel in sie reinzupressen können wir uns sparen, weil es nicht klappt. Kinder brauchen ganz viel Aufmunterung. Wir sollten nicht defizitär auf sie blicken, sondern auch die Fähigkeiten sehen, die oft keine Anerkennung in der Gesellschaft finden.“

  • Außer an der Nordmarkt-, Libellen-, und Brukterer-Grundschule läuft „Lernen neu denken“ an der Diesterweg-Grundschule und die Buschei-Grundschule ist auch mit dabei. Weitere kommen in Kürze hinzu.
  • Das zu einem erheblichen Teil durch Spenden, unter anderem von der Dortmund-Stiftung, finanzierte Bildungspaket setzt bei allen Schulen dort an, wo sie Hilfe brauchen und bereits eigene Möglichkeiten haben.
  • Koordiniert wird das Projekt über das Regionale Bildungsbüro, den Verein Stadtteil-Schule und das Jugendamt der Stadt Dortmund.

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