Dortmunder darf Cannabis rauchen - aber nicht anbauen

Schmerzpatient vor Gericht

Ein Dortmunder darf als einer von 300 Menschen in Deutschland legal Cannabis konsumieren, weil er Schmerzpatient ist. Doch die Krankenkasse zahlt nicht. Deshalb baut er das Gras selbst an. Er kommt vor Gericht, wird freigesprochen. Dann legt die Staatsanwaltschaft Berufung ein.

DORTMUND

, 07.08.2015, 18:58 Uhr / Lesedauer: 3 min
Legal für ihn: Andreas Wieczorek mit Gras aus der Apotheke, das er mit einer Sondergenehmigung legal mit sich führen darf.

Legal für ihn: Andreas Wieczorek mit Gras aus der Apotheke, das er mit einer Sondergenehmigung legal mit sich führen darf.

Wären die Bandscheiben von Andreas Wieczorek (46) nicht ein Haufen von Verrätern gewesen, die ihn seit 2002 gründlich im Stich gelassen hatten, wäre er heute noch Zweiradmechaniker. Könnte erzählen, was ihn an Motorrädern fasziniert. Das tollste Motorrad ist für ihn heute noch die BMW R25. „Weil man mit der Maschine einen Acker pflügen kann.“ Doch Wieczoreks Bandscheiben sind, was sie sind, und sie sorgten dafür, dass er weder mit einer BMW, einem Trecker, geschweige denn mit Muskelkraft einen Acker pflügen könnte.

Er ist Schmerzpatient, „austherapiert“, wie es heißt.

Seine Krankenakte braucht inzwischen einen eigenen Schrank: Diverse Bandscheibenvorfälle seit 2002 und daher ein Titanimplantat in der Halswirbelsäule. 2005 eine Bauchspeicheldrüsenentzündung, aus der sich ein Krebs entwickelte. Operiert nach der Methode des Arztes Wippel, also großflächig, seitdem Diabetes, Krämpfe im Bauchraum, im Laufe der Jahre hat sich durch die Medikamente eine Gastritis entwickelt. Dann noch die Polyarthrose in beiden Knien, wäre Wieczoreks Körper ein Auto, wäre er ein Montagswagen, der sich nur unter Schmerzen fahren lässt.

Wieczorek landete vor Gericht

Und diese Schmerzen, gegen die nichts half, sorgten also dafür, dass Wieczorek vor Gericht kam. Angeklagt, Drogen herzustellen. Die er zwar nehmen darf, aber sich nicht leisten kann – und sie daher selber anbaute. Einmal im Schrank, einmal in einem Keller in Dortmund.

Gekifft habe er in seiner Jugend schon einmal, nachhaltig beeindruckt hätte ihn das nicht und wäre eine Episode geblieben, sagt er heute, wäre er nicht erkrankt. Gegen die Schmerzen nahm er dies, nahm das, nichts half langfristig ohne Nebenwirkungen, im Gegenteil, er wurde abhängig. Von 10 Tropfen Tramal am Tag 2002 ging es rauf auf 4 mal 90 Tropfen am Tag im Jahr 2004 – Tramal ist ein Schmerzmittel aus der Gruppe der Opioide.

„Schmerzmittel, Schmerzmittel, Übelkeit, Erbrechen, Schmerzmittel“, so sei das damals gewesen. Und gegen die Nebenwirkungen eines Medikamentes habe er drei andere nehmen müssen. Vor der Krebs-Operation 2006 habe er dann Gras ausprobiert. Eine Ärztin hätte ihm das in einem Vier-Augen-Gespräch empfohlen.

„Beim ersten Mal war ich platt, saß breit in der Ecke. Aber dann merkte ich, wie sich die Muskeln entspannten, der Schmerz nachließ, ich konnte dabei zugucken.“

Krankenkasse strich das Medikament

Sein Gras hatte er sich „um die Ecke“ besorgt, das ist illegal und kostet. Beides gefiel ihm nicht. Er erkundigte sich, suchte Ärzte, fand sie, bekam von der Krankenkasse eine Zeit lang ein Cannabis-Öl, es half. Wieczorek ging es gut, dann strich die Krankenkasse 2013 das Medikament nach einer „Wirtschaftlichkeitsprüfung“, es war zu teuer.

2014 bekam Wieczorek eine Ausnahmegenehmigung, sieben Jahre hat das gedauert, er ist seitdem einer von rund 300 Menschen bundesweit, die legal Cannabisprodukte als Medizin konsumieren dürfen. Er darf, kann es sich aber nicht leisten. Wieczorek lebt von 650 Euro Rente, eine 5-Gramm-Dose Marihuana kostet in der Apotheke 80 Euro, Wieczorek braucht am Tag anderthalb bis zwei Gramm.

So fing er an, sein eigenes Gras anzubauen.

Der süßliche Geruch verriet ihn, die Pflanzungen in Schrank und Keller wurden entdeckt und er kam vor Gericht. „Mutig“ fand sein Rechtsanwalt Dr. Michael von Glahn dann das Urteil des Amtsgerichts: Freispruch. Ein „rechtfertigender Notstand“ sei der Anbau von Wieczorek gewesen, urteilte das Gericht in der letzten Woche. In der Verhandlung selber hatte die Staatsanwaltschaft den Freispruch noch unterstützt.

Staatsanwaltschaft legt Berufung ein

Am Dienstag dann die Wende: Jetzt hat die Staatsanwaltschaft Dortmund Berufung eingelegt. Staatsanwalt Henner Kruse: „Wir haben Berufung eingelegt, um eine höchstrichterliche Klärung zu bekommen.“ In seinem Haus gebe es verschiedene Auffassungen zu dem Urteil. Die Fachabteilung für Betäubungsmittel halte das Urteil für falsch.

Die Frage, die das Landgericht jetzt beantworten muss, ist also, ob ein Patient, der ein illegales Mittel, das er mit einer Ausnahmegenehmigung nutzen darf, selber produzieren darf, wenn er es sich nicht leisten kann.

Anwalt von Glahn hofft auf einen erneuten Freispruch. Wieczorek sagt, dass Marihuana eine Alternative ist, die „einzige, die mir hilft“. Beide setzen jetzt auf eine Gesetzesänderung, die vielleicht 2016 kommen kann: Krankenkassen, so der Entwurf, sollen Marihuana auf Rezept dann bezahlen müssen.

In Deutschland gehört der Cannabiswirkstoff Tetrahydrocannabinol (THC) laut Betäubungsmittelgesetz zu den nicht verkehrsfähigen Stoffen. Ohne Genehmigung des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte sind Anbau, Herstellung, Handel, Einfuhr und Besitz strafbar.

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