
Helmuth Rathjen geießt den Ruhestand in seinem Haus in Groppenbruch. In einer alten Asbach-Kiste bewahrt er die vielen Erinnerungen an die Diskothek Bonanza auf. © Uwe von Schirp
Legendäre Dortmunder Diskothek: Peter Maffay blieb auf Spesen sitzen
Geschichte und Anekdoten
The Sweet, Middle of the Road und Eruption auf der Bühne. Bata Ilic und die Schalker Mannschaft als Gäste. Eine Dortmunder Diskothek schrieb Geschichte und Anekdoten. Ihr Besitzer erinnert sich.
Auf dem Tisch steht eine Kiste aus Kunstleder – eine Asbach-Geschenkbox. Hunderte Fotos, Zeitungsartikel, Eintrittskarten liegen darin. Sie bergen Schätze. Sie erzählen Geschichten. Sie sind Geschichte. Und Erinnerungen.
1985 schließt ein legendärer Ort seine Türen: Helmuth Rathjen beendet die Ära seiner Diskothek Bonanza. 18 Jahre lang war sie ein Mekka für Musikliebhaber und „Tanzwütige“ aus Nette, Dortmund, halb Deutschland und den Nachbarstaaten. 1,5 Millionen Besucher sind in dieser Zeit gekommen.
37 Jahre später sitzt der mittlerweile 80-jährige Helmuth Rathjen am Wohnzimmertisch in seinem Haus in Dortmund-Groppenbruch und erzählt. „Es war einfach eine super Zeit“, schwärmt Rathjen. „Höhepunkte waren im Grunde alles.“
Über 18 Jahre ist „Bonanza Dancing“ eine Institution. „Bei uns war es ein anderes Feeling“, sagt Rathjen. „Ob Bands oder Besucher, sie waren bei uns zu Hause.“ Die Mischung aus Top-Interpreten der internationalen Musikszene und der Club-Atmosphäre sorgen für den Ruf. Wenn die Stars nicht auf der Bühne stehen, sind sie im Publikum: ganz normale Gäste, meist anonym – wie die Teenager und Twens aus den nahen Bergarbeiter- und Großwohnsiedlungen auch.
Großvater als Referenz für die Pacht
Helmuth Rathjen: Geboren in Hamburg, aufgewachsen in Niedersachen, kommt mit 15 Jahren nach Dortmund, macht eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker und schließt die Kaufmannsgehilfenprüfung an. „Als Kind wollte ich Lokomotivführer oder Fernfahrer werden“, erzählt er.

18 Jahre lang war Bonanza Dancing eine angesagte Adresse in der Diskothekenszene. © Archiv Bonanza
Letzterer Wunsch erfüllt sich. Mittlerweile selbstständiger Fuhrunternehmer, fährt Rathjen regelmäßig durch Bochum-Gerthe. Dort ist die Diskothek Carrée, eine ehemalige Scheune. „Die war immer rappelvoll“, erzählt er. Das Initial für einen eigenen Tanzschuppen.
Der Kraftfahrer streut seine Idee und bekommt den Hinweis auf die Gaststätte Wiemann an der Mengeder Straße in Nette. Die Zeit der Tanzsäle mit Cover-Bands geht Ende der 1960er-Jahre ihrem Ende zu. Wer der gerade 26-Jährige denn sei, will Inhaberin Friedchen Wiemann wissen. „Ich sah noch aus wie ein kleiner Junge“, sagt Rathjen und grinst.
Die Referenz ist sein Großvater. Theodor Holtrop, Milchhändler aus Huckarde, hat manches Mal Pferd und Wagen vor der Tür festgemacht und ist auf das eine Bier und den anderen Schnaps bei Wiemann eingekehrt. Das reicht: Am 1. Februar 1967 ist Helmuth Rathjen Pächter. „Beim Umbau hatten wir freie Hand“, berichtet er. Aus Wiemanns Tanzsaal wird in wenigen Wochen die Bonanza – in der Western-Optik der damals beliebten gleichnamigen Fernsehserie.
DJ Rathjen fehlen die Worte
Zur Eröffnung am 7. April legt Charly auf, der zuvor DJ bei Radio Caroline in London, dann im Carrée war. „Unglaublich, schon am ersten Tag stand eine Schlange vor der Tür“, sagt Rathjen. Mittwochs, Freitags, Samstags und Sonntags öffnet fortan der Tanzschuppen im ländlich-beschaulichen Obernette.

Im Mai 2018 kehrte Helmuth Rathjen noch einmal an die Adresse der ehemaligen Bonanza zurück. In dem ehemaligen Wiemannschen Tanzsaal ist heute eine Spielhalle. © Stephan Schütze (Archiv)
An den Plattentellern steht meistens der Chef selbst. „Am Anfang bekam ich kaum drei Worte raus“, erzählt er und lacht. „Damals musste der DJ zwischen den Titeln ja noch etwas sagen – und das alle drei Minuten.“ Drei Jahre später bringt er die Diskothek Horesa auf Gran Canaria ans Laufen.
Bei unserem Besuch bei Helmuth Rathjen läuft im Hintergrund WDR2 – mit einem satten Sound aus einem über 60 Jahre alten Röhrenradio. „Das ist orginal“, sagt der Hausherr lächelnd. „Qualität hält eben.“ Der Hörfunkwelle ist er schon Ende der 60er Jahre treu. „Da war das Morgenmagazin ganz neu, die hatten richtig gute Musik und ich habe Neil Christian das erste Mal gehört.“
Der Entertainer ist ein Nachfahre von Fletcher Christian, der 1789 die berühmte Meuterei auf der Bounty anzettelte. Monate nach der Eröffnung meldet sich der Agent von Neil Christian beim Bonanza-Boss und bietet einen Stargast-Auftritt an. „Ich wollte eigentlich nicht“, erzählt Rathjen. „Wir haben den Laden immer voll, habe ich ihm gesagt.“
Hilfsbereitschaft öffnet Türen für Weltstars
Der Diskotheken-Inhaber unterschreibt letztlich doch den Vertrag – eine Fügung. Neil Christian kommt zum ersten Geburtstag der Bonanza und tritt an drei Abenden auf. Der 18-jährige Star fährt in einem alten Studebaker von London nach Nette. Christian will weiter nach Hamburg, der Oldtimer aber ist defekt. Rathjen leiht ihm für eine Woche kostenlos seinen Mercedes, lässt den Studebaker reparieren.
Das zahlt sich aus: Neil Christian nutzt seine Kontakte und vermittelt Weltstars. Mehr als 100 internationale Bands und Solointerpreten stehen in den folgenden Jahren auf der Obernetter Bühne: The Sweet, Spotnicks, Thin Lizzy, Eruption und und und... „Alle, die ich im Visier hatte, kamen auch.“
Wünsche der Besucher stehen ganz oben. Freitags ist Hitparaden-Abend. Neben Musiktiteln hat der Wunschzettel auch eine Rubrik für künftige Live-Auftritte. So kommt wohl auch Middle of the road (Chirpy Chirpy Cheep Cheep) in die Bonanza. Begeisterung bei den Fans, nicht bei Rathjen: „Sie waren soundmäßig nicht so doll und hatten kein Repertoire.“ Rückblickend sagt er: „Sie waren einmal da – einmal zu viel.“
Zu hohe Gagenforderungen verhindern Auftritte, etwa der Les Humphries Singers. Anders die „Hauskapelle“ der Bonanza: Die schwedische Instrumentalband „Spotnicks“ kommt insgesamt elf Mal nach Nette.
Bei manchen Künstlern gibt es Lösungen: Der Auftritt des US-amerikanischen Soul-Duos Sam & Dave soll 8000 D-Mark kosten. Rathjen kooperiert mit einer Diskothek in Duisburg: der erste Gig am Rhein, der zweite ab Mitternacht in Nette. „Sie haben dann zwei Stunden Musik gemacht“, erzählt Helmuth Rathjen. „Der Vertrag lief über zweimal eine halbe Stunde.“ Für beide Gigs zusammen.
Kellner empört Bata Ilic
Außer Spesen nix gewesen, heißt es dagegen für den jungen Peter Maffay. 1970 stürmt er mit „Du“ die Charts. Seine Agentur hat den Auftritt im „Bonanza“ aber nicht bestätigt, Rathjen das Konzert gecancelt. Maffay fliegt trotzdem von München nach Düsseldorf, fährt mit dem Taxi ins Dortmunder Hotel Römischer Kaiser. Von dort ruft er an, er wolle die Sachlage klären, die vereinbarte Gage von 4000 D-Mark „stehe“.
Peter Maffay nimmt erneut ein Taxi, trifft am Bonanza-Eingang auf Kassiererin Leni. Die verlangt zwei Mark Eintritt. Peter Maffay schafft es letztlich mit vielen Worten ins Büro des Chefs. Beide finden keine Lösung. Schließlich sind die zahlreichen Besucher zum normalen Disko-Eintritt im Saal. Maffay reist ohne Auftritt wieder ab.

Kellner Hugo Lofredi (r.) war ein Bonanza-Urgestein. Wegen seines Charmes war er vor allem bei den weiblichen Gästen sehr beliebt. Wenn Pärchen „zu heiß“ knutschten, schritt er ein. © Archiv Bonanza
Zu den Bonanza-Legenden zählt auch Kellner Hugo Lofredi. Der Bergmann mit italienischen Wurzeln ist beim Publikum wegen seines Auftretens äußerst beliebt. Eines Abends steht wieder sein Chef an den Plattentellern. Lofredi kommt mit einem Musikwunsch aus dem Publikum zu ihm.
„Er hat mich gefragt, ob ich auch was von Vatta Willi spielen könne“, erzählt Rathjen. Kenne er nicht, antwortet er und schickt seinen Kellner zum Nachfragen an den Tisch zurück. Da sitzt Schlagersänger Bata Illic – und verlässt ob der Rückfrage empört den Saal. „Bata Illic hatte ich natürlich unter den Platten.“
Hotline mit Wählscheibe ins Kanzleramt
Derlei Geschichten gibt es unzählige. Auch die von Horst Ehmke, Kanzleramtschef unter Bundeskanzler Willy Brandt. Der Stammgast legt spätabends gern mit Rathjen am Plattenteller auf. Dringende Regierungsgeschäfte bleiben nicht außen vor: Ehmke nutzt in der Garderobe nächtens zwischendurch ein hauseigenes Telefon mit Wählscheibe für den heißen Draht nach Bonn.

So sahen die Spotnicks 1976 bei einem ihrer legendären Auftritte in der Dortmunder Kult-Disco Bonanza aus. Rechts der Gitarrist Bo Winberg. Elfmal gastierten sie in Nette - und gelten quasi als „Hausband“. © Archiv
Zahlen aus 18 Jahren Bonanza Dancing
- Helmuth Rathjen zahlte den Künstlern fast eine Million D-Mark an Gagen.
- Im Oktober 1968 kosteten 0,2 Liter Hansa Pils 1,20 DM, ein Piccolo Henkel-Trocken 10 DM, ein Jägerschnitzel 7,50 DM.
- 1969 gastierte die Soulband The Foundations in der Bonanza. Der Eintritt: 1,50 DM – bei einem Mindestverzehr von 8,50 DM.
Für Rathjen unvergessen auch ein Besuch der Schalker Mannschaft. „Klaus Fichtel hatte eine Wette verloren und musste auf der Tanzfläche das Vereinslied von Borussia Dortmund singen.“ Oder die Karnevalsfeier des TBV Mengede. Die erste Mannschaft hat mehrfach den Aufstieg verpasst. Rathjen engagiert bei einem Zirkus ein Kamel. Auf der Tanzfläche müssen Spieler und Trainer den Aufstieg (aufs Kamel) üben.
All die Anekdoten sind Geschichte – und für Helmuth Rathjen wie für viele Stammgäste eine bleibende Erinnerung. 1985 dann das Ende. Dafür gab es mehrere Gründe, erklärt der Erfinder des „Konzepts Bonanza“.
Die Besucherzahlen gingen zurück. „Die Leute gingen lieber in größere Hallen.“ Dabei zahlen sie oft doppelt soviel Eintritt wie in der Bonanza. Rathjens Rechnung für den Eintrittspreis: Gage geteilt durch 200. „Manchmal haben wir etwas drauf gelegt, manchmal blieb etwas über.“
Zudem lief der Pachtvertrag aus. Die neue Pacht wäre doppelt so hoch gewesen. Letztlich baut das Land die Emscherallee. Damit gehen der Bonanza die notwendigen Parkplätze auf dem von Landwirt Erlenbauer gepachteten Grünstreifen am Mooskamp verloren. „Es war eine unwiederbringlich schöne Zeit“, sagt Rathjen. „Aber es war genug.“
Unterrichtsstunden für Hündin Geli
37 Jahre später genießt er den Ruhestand. Gemeinsam mit Ehefrau Marita pflegt er das riesige Grundstück seines Hauses. Der Bagger, den er für größere Arbeiten nutzt, ist bei unserem Besuch gerade defekt. Aber gelernt ist gelernt: Weil für das alte Schätzchen ein Ersatzteil nicht zu bekommen ist, hat der gelernte Kfz-Mechaniker es nachgebaut.
Im Wohnzimmer bettelt Hündin Geli um Zuwendung. Das Paar hat ihr Rechnen beigebracht. „Komm Geli, Schulunterricht“, sagt der Hausherr. Die Rechenaufgaben stellt der Besucher aus der Redaktion. Geli bellt die Antworten. Alle richtig. Helmuth Rathjen ist zufrieden – und nicht nur mit Gelis Leistung. „Für das Leben, dass ich gelebt habe, brauchen andere drei Leben.“

Für Arbeiten auf seinem großen Anwesen nutzt Helmuth Rathjen einen Bagger. Derzeit ist die Baumaschine defekt. Der gelernte Kfz-Mechaniker repariert sie selbst. © Uwe von Schirp
Sind die Asbach-Kiste mit Fotos und Dokumenten und seine mehr als 5000 Schallplatten Bonanza-Geschichte, bleibt die Liebe zu guter Musik. Vorzugsweise live – in Las Vegas oder auf Gran Canaria, in der Diskothek. Ehefrau Marita teilt die Leidenschaft. „Anders ginge es auch nicht.“
Corona hat zuletzt diese Reisen verhindert. Beide hoffen, dass sie ohne Risiko bald wieder fliegen können – vielleicht noch einmal zu einem Konzert von Huey Lewis & the News. Die Band ist für Helmuth Rathjen „das Größte überhaupt“. Sie fehlt ihm in der langen Liste der Stargäste in der Bonanza. Aber: „Wir hätten sie nicht bezahlen können“, sagt er. Und: „Mit fünf Mitgliedern plus Bläser waren sie für die Bühne ohnehin zu groß.“ Welch ein Trost.
Geboren 1964. Dortmunder. Interessiert an Politik, Sport, Kultur, Lokalgeschichte. Nach Wanderjahren verwurzelt im Nordwesten. Schätzt die Menschen, ihre Geschichten und ihre klare Sprache. Erreichbar unter uwe.von-schirp@ruhrnachrichten.de.
