Digitale Schule: „Realistisch betrachtet können wir das nicht mehr aufholen“

© Stephan Schütze (Archivbild)

Digitale Schule: „Realistisch betrachtet können wir das nicht mehr aufholen“

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Kinder gehen in der Corona-Krise verloren. Dieser Satz ist häufig gefallen in den Debatten über Schulöffnungen und digitalen Unterricht. Doch was bedeutet er eigentlich?

Dortmund

, 04.03.2021, 04:30 Uhr / Lesedauer: 3 min

Es sind wieder Kinder in Dortmunds Schulen. Grundschüler und Abschlussklassen kehren zumindest tageweise in die Klassenräume zurück. Damit ergibt sich auch ein neuer Blick darauf, was übrig geblieben ist nach über zwei Monaten Distanzlernen im Lockdown. Darauf, wer überhaupt noch da ist.

„Es sind alle wieder da“, sagt Alma Tamborini, Leiterin der Nordmarkt-Grundschule am ersten Tag des Wechselunterrichts. Das ist eine Nachricht, die nicht selbstverständlich zu erwarten war.

Im ersten Lockdown sind viele Kinder „verloren“ gegangen

Denn der erste Lockdown im März 2020 hatte gezeigt, dass Schüler buchstäblich verloren gehen können, wenn die Schule als fester Bezugsort wegfällt. Eine offizielle Zahl gibt es nicht, aber die Berichte aus unterschiedlichen Schulformen sind übereinstimmend.

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„Wir hatten solche Fälle“, sagt auch Markus Katthagen, Leiter des Immanuel-Kant-Gymnasiums und Sprecher der Dortmunder Gymnasien. Aber es sei in den zurückliegenden Monaten gelungen, das besser aufzufangen, „indem wir viel in Kontakt mit den Familien waren“.

Gibt es den typischen schulmüden Jugendlichen?

Denn es zeigt sich: Es gibt nicht den „typischen“ schulmüden Jugendlichen, auch nicht in der Corona-Krise. Sondern immer nur sehr komplexe Beziehungen hinter der Tatsache, dass ein Kind den Kontakt zum System Schule verliert.

Es gibt Konstellationen, die wiederkehren. Das Kind aus der wohlhabenden Familie, das lieber Playstation spielt und kifft und die Lust auf Schule verliert. Es gibt die Kinder aus Großfamilien, die untergehen, weil sie andere Aufgaben in der Struktur zuhause übernehmen müssen.

Alma Tamborini, Leiterin der Nordmarkt-Grundschule.

Alma Tamborini, Leiterin der Nordmarkt-Grundschule. © Archivbild

Unter den Schulmüden sind Kinder, deren Eltern eigene Probleme haben und ihnen nicht helfen können. Es gibt Fälle wie sie zuletzt im Umfeld des Zentrums im Stadtteil Aplerbeck auffällig geworden sind, wo sich Jugendliche in Kriminalität und Drogen verlieren.

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„Die Probleme, die sich dahinter verbergen, können sehr unterschiedlich sein“, sagt Markus Katthagen.

Schulleiter: „Man kann Jugendliche zurückholen“

Viele am Schulleben Beteiligte arbeiten an Lösungen, das war schon vor der Corona-Pandemie so. „Man kann Jugendliche zurückholen“, sagt der Gymnasial-Direktor voller Überzeugung.

Doch Corona ist für auch dieses Problem ein Katalysator. Schon Ende 2020 hatte etwa der Kontakt- und Beratungsverbund (KuBDO) darauf hingewiesen, dass die Zahl der Schulverweigerer durch die Corona-Beschränkungen steigend sei.

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Das war vor dem „harten“ Lockdown im Dezember. Beraterin Katrin Meyersieck berichtet im Februar 2021 von „vereinzelten“ Fällen, in denen Jugendliche, den Anschluss verloren haben, die von Schulmüdigkeit bedroht waren und die Schule hauptsächlich als sozialen Ort genutzt haben.

Der Wegfall von Tagesstruktur kann zu einem Problem werden

Gefahren der Distanz seien weiterhin der Wegfall der Tagesstruktur und von sozialen Kontakten, wenig Unterstützung beim Lernen oder der Rückfall in Suchtstrukturen.

Beim Zugang zu digitalen Lernmöglichkeiten gibt es aus Sicht der Pädagogen nach wie vor eine Ungleichheit. „Aber es hat sich auf diesem Gebiet am meisten getan“, sagt Gymnasien-Sprecher Markus Katthagen. „Im Distanzunterricht ist mehr möglich, als wir uns vor einem Jahr vorstellen konnten – ohne etwas schönreden zu wollen“.

Jedes neue Tablet in einer Familie könne einem Kind dabei helfen, dass es sich eben nicht mehr über einen kleinen Smartphone-Bildschirm Dokumente bearbeiten und an der Videokonferenz teilnehmen muss.

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Immerhin: Manche Jugendliche können mittlerweile auch Schulräume für den Distanzunterricht nutzen. Die Ausstattung mit WLan und Lernplattformen ist verbessert worden. Kinder aus problematischen Verhältnissen haben durchgehend ein Anrecht auf Notbetreuung.

Haben die Schulen aus dem ersten Lockdown gelernt?

Nach dem Eindruck von Katrin Meyersieck haben die Schulen haben nach ihrer Einschätzung „die Erfahrungen aus dem ersten Lockdown verwertet und genutzt“.

Doch das Dunkelfeld bleibt groß. Deshalb muss der Begriff „verloren“ in der Debatte möglicherweise weiter gefasst werden.

Denn es geht nicht nur darum, was jetzt gerade passiert. Sondern um die langfristigen Folgen, die mittlerweile ein Jahr Schule unter Corona-Bedingungen haben könnte.

Alma Tamborini von der Nordmarkt-Grundschule ist beim Neustart alarmiert angesichts der Defizite, die sich bei vielen Kindern auftun. „Wir haben leistungsmäßig viele verloren“, sagt die Schulleiterin. „Realistisch betrachtet können wir das nicht mehr aufholen.“

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Katrin Meyersieck von KubDO sagt: „Die Gefahr besteht, dass in und nach dieser besonderen Zeit die Zielgruppe der schulmüden und schulverweigernden Jugendlichen nun noch stärker den Anschluss an Bildungsangeboten verliert und in der Folge gesellschaftlich ausgegrenzt wird.“

Für eine bestimmte Zielgruppe ist Distanzlernen kein Ersatz

Für diese Zielgruppe könne das Distanzlernen nicht die tatsächliche Begleitung in Präsenz ersetzten. Es sei deshalb wichtig, dass Schülerinnen und Schüler auch außerhalb von Schulschließungen auf Methoden des E-Learning vorbereitet werden. Zudem müsse die Arbeit von Eltern stärker wertgeschätzt werden.

Laut dem aktuellen Bildungsbericht der Bundesregierung haben in Deutschland im vergangenen Jahr 6,8 Prozent der Jugendlichen die Schule ohne einen Abschluss verlassen. Der Wert stieg erstmals nach Jahren der positiven Entwicklung.

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