Neuer JVA-Direktor im Interview
„Die Integration der Gefangenen ist Chefsache“
Die Dortmunder Justizvollzugsanstalt im Gerichtsviertel ist ein Gefängnis mit besonderen Herausforderungen: Im von Wohnhäusern umgebenen "Lübecker Hof" ist der Platz beengt, die Mauern alt und der Ausländeranteil hoch. Seit Juni 2017 leitet der Jurist Ralf Bothge den 115 Jahre alten Knast. Ein Gespräch hinter Gittern.
In seiner Antrittsrede ließ der 56-jährige gebürtige Dortmunder durchblicken, dass sich hinter den Mauern einiges verändern wird. Redakteur Peter Bandermann wollte Genaues erfahren und traf den Juristen in seinem Büro, hinter Gittern. In diesem Interview geht es um Strafvollzug in alten Gemäuern, einen hohen Ausländeranteil, fehlende Vorbeter, Integration, Resozialisation und den Ausbau des offenen Vollzugs.
Herr Bothge, bis vor wenigen Wochen haben Sie in der größeren und moderneren JVA in Gelsenkirchen gearbeitet. Wie ist der Wechsel nach Dortmund gelungen?
Die Arbeit im Knast läuft sehr gut, aber sie ist deutlich schwieriger als in Gelsenkirchen: Büros, Konferenzräume, die Hafträume und das wichtige Sportangebot sind dort wesentlich größer. Manche Mitarbeiter habe ich auf den 100.000 Quadratmetern dort vier Wochen lang nicht gesehen. Hier in Dortmund sehe ich die Kolleginnen und Kollegen nahezu täglich. Das hat Vorteile. Der Sportbereich hier ist eher schlicht, wobei schlicht noch geschönt ist. Es ist Engagement der Bediensteten gefragt.
Was bedeutet das für den Alltag hier im Lübecker Hof?
Wir müssen kreativer sein, wenn wir den Gefangenen unseren Integrations- und Sprachunterricht oder die Sportangebote unterbreiten. Das alles funktioniert nur auf engem Raum. Das macht die Arbeit schwierig, aber sie ist möglich. Die Gefangenen nehmen die Angebote gut an, die Kurse sind voll.
Ist Gelsenkirchen dann ein Zuckerschlecken für Gefangene?
Nein. Glauben Sie mir: Wer 23 Stunden auf der Zelle verbringt, spürt den Strafvollzug auch in einer modernen Haftanstalt sehr deutlich. Es gibt eben keine Freundin, kein Handy oder den Pizzadienst. In Dortmund spüren die Gefangenen den Strafvollzug noch deutlicher, weil es hier enger ist.
Eine der Einzelzellen in der Justizvollzugsanstalt Dortmund. Wer hier seine Strafe absitzt, hat einige Freiheiten, auf die der Großteil der Mitgefangenen verzichten muss. (Foto: Dieter Menne)
Unser Anspruch ist dabei, die Gefangenen nicht mit möglichst viel Drangsalierung am langen Arm verhungern zu lassen. Wir wollen ihnen Wege zeigen, auf denen sie nicht wieder straffällig werden. Denn draußen müssen sie mit ihrem Leben klarkommen.
Die Überbelegung von Gefängnissen war in NRW immer wieder ein Thema. Wie ist die Lage in Dortmund?
Wir verfügen über 405 Haftplätze und haben aktuell 427 Gefangene. Das ist eine Überbelegung von fünf Prozent, was sich erst einmal nach nicht besonders viel anhört. Tatsächlich müssen wir auf ohnehin schon engem Raum noch mehr zusammenrücken. Wir sind eine mittelgroße Anstalt im Land und haben durch die Untersuchungshaft eine sehr hohe Fluktuation. Manche Untersuchungshäftlinge kommen montags und sind dienstags wieder weg.
Als Sie als der neue Gefängnisdirektor vorgestellt worden sind, ist auch der hohe Ausländeranteil im Knast angesprochen worden. Welche Relevanz hat das?
Der Ausländeranteil liegt bei 50 Prozent. Das ist eine hohe Zahl, die mich bei meinem Amtsantritt tatsächlich überrascht hat. Hier leben 46 Nationen unter einem Dach, darunter sind Nationalitäten, die ich vorher gar nicht kannte. Wenn wir die Russlanddeutschen mit deutschem Pass dazu zählen, steigt der Anteil der Häftlinge mit Migrationshintergrund über 50 Prozent.
Der hohe Ausländeranteil kommt vor allem durch die Untersuchungshaft zustande. In der Strafhaft ist der Anteil deutlich geringer. Diese Zahlen stellen uns bei der sprachlichen und sozialen Integration dennoch vor große Herausforderungen. Das alles bereitet Probleme, sie zu lösen ist unsere Aufgabe, und das macht durchaus Spaß.
Wie löst das Gefängnis die Sprachprobleme?
Wir arbeiten auch mit einfachen Piktogrammen, wenn wir die zu akzeptierenden Regeln klar machen. Denn es gibt Gefangene, die sprechen kein Wort Deutsch oder einen arabischen Dialekt, den keiner kennt. Wir reagieren mit Dolmetscher-Sprechstunden, in denen es auch um Rechte und Pflichten geht, nutzen Hände und Füße oder auch Googles Übersetzerprogramm.
NRW hat 40 Lehrerstellen eingerichtet. Davon profitieren wir seit einigen Monaten und können auch Sprachkurse anbieten. Die Kurse sind rappelvoll. Integrations-Arbeit ist eine eminent wichtige Arbeit, wir müssen da mehr Energie reinstecken und kreativer werden. Ich habe das zur Chefsache erklärt.
Was haben die Gefangenen auf dem Kerbholz?
In der Untersuchungshaft kommt in 173 Hafträumen alles zusammen. In den Haftabteilungen mit insgesamt 248 Plätzen haben wir alles, außer Mord und Totschlag. Die Gefangenen sitzen wegen Diebstahls, Raubes, Körperverletzung, Schwarzfahren, Drogenkriminalität und in wenigen Fällen wegen Sexualdelikten. Auch die Weiße-Kragen-Kriminalität kommt hier an, also Betrüger.
Wie erfolgreich arbeitet der Lübecker Hof?
Wir haben Erfolg – sonst gäbe es uns nicht –, aber er ist schwer messbar. Bei einem schwerst Drogenabhängigen müssen wir damit rechnen, dass er irgendwann wieder kommt, weil er wegen seiner Sucht Straftaten begeht. Andere lassen sich von der Haft abschrecken, was auch eine Frage des Alters ist. Manche brauchen dafür etwas länger. Jeder Fall ist anders.
Die Prognosen sind günstiger, wenn es eine gute Beziehung nach draußen gibt: Eine vernünftige Frau oder Freundin, die dem Häftling mal die Ohren langzieht, und Kinder in der Familie, das sind sehr wichtige Resozialisations-Faktoren. Wir wollen, dass diese Beziehungen die Haft übedauern und unterstützen diese Beziehungen.
Wie sieht hier der Alltag aus?
Wecken kurz vor 6 Uhr und Frühstück auf der Zelle. Dann teilt sich der Alltag zwischen Arbeitenden und nicht Arbeitenden auf. Wir haben 127 Arbeitsplätze. Häftlinge mit Arbeit gehen in den internen Betrieb, wo sie auch ihr Mittagessen bekommen.
Um 15 Uhr haben sie Feierabend, es geht zurück in die Zelle. Dann gibt es eine Freistunde, die Häftlinge können gelegentlich Besuch empfangen, Sport- und Therapieangebote wahrnehmen und an Gruppenarbeit teilnehmen oder die Fachdienste aufsuchen.
Und wer keine Arbeit hat?
Wer keine Arbeit hat, hält sich größtenteils im Haftraum auf. Das sind 300 Häftlinge. Wir bemühen uns so gut es geht, sie von der Zelle runterzuholen, denn es gibt im Knast nichts Schlimmeres als einen Häftling, der 23 Stunden auf der Zelle ist. Zwischen 21 und 22 Uhr ist für alle Häftlinge wieder der Einschluss.
Welche Arbeit bietet die JVA Dortmund an?
Die Gefangenen arbeiten bei Ordnung, Sauberkeit und Essenausgabe mit. Im Arbeitsbetrieb fallen handwerklich einfache Arbeiten an, die nicht mit großem Aufwand angelernt werden müssen. Die Männer sind mit Holz und Metall beschäftigt. Da kommen keine wirtschaftlich hochwertigen Produkte heraus, mit denen die Justiz einen Gewinn machen kann. Aber die Arbeit ergibt einen Sinn. Die Gefangenen erhalten eine Tagesstruktur und einen geringen Lohn, der zwischen 130 und 400 Euro liegen kann.
Was geschieht mit dem Geld?
Die Gefangenen haben Kosten. Über den Lohn können sie nicht frei verfügen. Sie müssen zum Beispiel das Überbrückungsgeld für die Zeit nach der Haft ansparen oder Opfer entschädigen. Es gibt einen Online-Knastladen, in dem sie ausgewählte Artikel nach Vorbestellung einkaufen können.
Als der frühere NRW-Justizminister Thomas Kutschaty Sie am 7. Juni 2017 als den neuen Chef vorstellte, wies er auf ein Programm hin, das islamistische Radikalisierungen unter Gefangenen verhindern soll. Eine enorm hohe Verantwortung für das JVA-Personal. Wie gehen Sie vor?
Wir müssen und können einer Radikalisierung im Vollzug vorbeugen, wir müssen allerdings frühzeitig Erkenntnisse haben. Das kann durch Informationen geschehen, die wir aus dem Briefverkehr erlangen oder aus Büchern und Zeitschriften, die der Gefangene liest. Wir müssen die Begriffe kennen, die in der Kommunikation mit Besuchern relevant sein könnten. Und wir übersetzen in Stichproben in kürzester Zeit auch Briefe. NRW hat inzwischen einen Islamwissenschaftler speziell für den Justizvollzugsdienst eingestellt.
Es wird weiter Schulungen für unsere Mitarbeiter geben, ich selbst habe mehrere Jahre in soziokulturellen Fragen Islam-Schulungen für JVA-Personal gegeben. Übrigens auch zum Thema Rechtsextremismus, denn wir haben rechte Gewalttäter in Haft. Auch deren Codes müssen wir kennen, um reagieren zu können.
Welchen Stellenwert hat der muslimische Glauben im Gefängnis?
Das Freitagsgebet ist für muslimische Gefangene sehr wichtig, aber wir können es nicht mehr wöchentlich anbieten.
Warum nicht?
Wir verlangen seit einigen Monaten, dass die Imame sicherheitsüberprüft sind. Allerdings haben sich zahlreiche Imame geweigert, an der Sicherheitsüberprüfung mitzuwirken, sodass wir uns von ihnen trennen mussten.
Was heißt Sicherheitsüberprüfung? Geht es um die Kontrolle am Eingang?
Nein. Es handelt sich um ein förmliches Verfahren, in dem unter anderem radikale Tendenzen abgefragt und überprüft werden, wofür wiederum die Mitwirkung der Beteiligten erforderlich ist. Wir sind um eine Lösung bemüht, denn die Religionsausübung kann in der Haft unterstützend wirken. Egal, ob sie christlich oder muslimisch ist.
Ein Blick in die JVA Dortmund. Archivfoto: Kurt Vahlensieck
Wie fällt Ihr Rückblick auf die ersten Wochen aus?
Die neuen Kolleginnen und Kollegen sind sehr offen und freundlich, sie sind neugierig und leisten hervorragende Arbeit. Mir fällt auf, dass hier Vieles auf den Anstaltsleiter fokussiert ist. Ich werde mit Fragen konfrontiert, die auf ganz andere Entscheidungsebenen gehören.
Klar, im Knast muss es Hierarchien geben, aber die müssen hier flacher werden. Es gibt Vollzugsfragen, die müssen und können die Kolleginnen und Kollegen viel besser beantworten als ich, weil sie kompetent sind. Ich muss nicht alles absegnen. Moderne Führungsstrukturen sehen das nicht mehr vor.
Was möchten Sie im Vollzug ändern?
Allenfalls Details, denn grundsätzlich ist die Anstalt im Vollzug gut aufgestellt. Es fällt aber auf, dass die JVA Dortmund in der Vergangenheit bei den Verlegungen in den offenen Vollzug eher etwas zurückhaltend war. Wir können unsere Verlegungszahlen hier sicher noch erhöhen – was letztlich auch unserer Belegung zugutekäme.
Offener Vollzug heißt was genau?
Dass der dafür geeignete Gefangene nach Castrop-Rauxel verlegt wird und für einige Stunden am Tag begrenzt den Übergang in die Freiheit selbst organisiert, also sich einen Arbeitsplatz und eine Wohnung selber sucht.
Ein bequemer Weg, die Flucht anzutreten.
Falsch. Der offene Vollzug funktioniert sehr gut, es gibt eine nur sehr geringe Versagerquote, denn der soziale Druck auf diese Gefangenen ist sehr hoch. Selbstverständlich darf nicht die Gefahr bestehen, dass der Häftling flieht oder die vorübergehende Freiheit für neue Straftaten nutzt.
Die meisten Gefangenen wollen den offenen Vollzug. Darunter sind auch welche, denen wir erklären, dass es mit ihnen noch nicht geht und dass sie noch an sich arbeiten müssen. Andere sagen ganz offen: Ich schaffe das nicht.