Hannelore P. (72, vollständiger Name der Redaktion bekannt) wohnt schon ihr Leben lang direkt neben der Autobahn 45. Sie wurde in diesem Haus im Dortmunder Stadtteil Schnee geboren – und natürlich hänge sie an dem historischen Gebäude. Die Familie wohnt in der vierten Generation dort. Nur eines macht allen Anwohnern arg zu schaffen: die A45, die geschätzte zehn bis 15 Meter entfernt an ihren Häusern vorbeiführt. Denn Lärmschutz gibt es nicht.
Entspannt im Garten zu sitzen sei unmöglich, sich in normaler Lautstärke vor der Haustür zu unterhalten ebenso. Lüften sei indes zwar möglich, habe aber Konsequenzen: Online-Vorlesungen für Enkel Marcel (23) werden da schwer verständlich. Und das nicht thematisch, sondern wegen der Lautstärke draußen. Das Obst aus dem großen Garten wäscht die Familie mehrere Male ab, damit kein Feinstaub haften bleibt.
70 Dezibel an der A45
Der Lärmpegel werde hier auf jeden Fall bei weitem überschritten, sagt die 72-Jährige. Mehr als 70 Dezibel messen wir spontan in unserer Stichprobe an diesem Nachmittag. Zu den Stoßzeiten des Verkehrs hätten sie auch schon an die 80 Dezibel gemessen, berichtet die Familie.
Werte, die die Umgebungslärmkarte des NRW-Umweltministeriums bestätigt: Die Karte weist für den Standort mehr als 75 Dezibel aus; eine höhere Einstufung gibt es gar nicht. Und als wäre das alles noch nicht genug, würden dann auch noch Bäume, die ohnehin nur kärglich vorhanden seien, „so stark beschnitten, dass die innerhalb kürzester Zeit von selbst umfallen“.
Nun lese sie von den neuen Lärmschutzwänden, die im Zuge des Ausbaus an der B236 aufgestellt wurden, so Hannelore P.. „Warum vernachlässigt man die Bürger hier auf dem Schnee nur so stark? Es würde ja schon eine Geschwindigkeitsbegrenzung helfen. Wir Anwohner bekommen das Gefühl, Menschen zweiter Klasse zu sein“, sagt die 72-Jährige.
Idyllische Gegend
Ein paar Meter weiter wohnt Achim Fenner. Auch für ihn ist die sonst so ländliche und idyllische Gegend mit vielen alten Bruchsteinhäusern sein Zuhause: „Meine Urgroßeltern haben hier 1863 das Haus gebaut“, erzählt er. Es liegt ein paar Meter weiter weg von der Autobahn, dafür aber höher als das der Familie P. – freie Bahn für die Schallwellen. Auch er möchte hier eigentlich nicht weg, findet die Situation aber gleichermaßen schwer erträglich.
Immer wieder, so sagt Hannelore P., habe man sich um Lösungen bemüht. Doch bisher gab es keine. Ansprüche wurden seinerzeit abgegolten – neue gibt es offenbar nicht.

Keine Lärmschutzverordnung
Die zuständige Niederlassung Westfalen der Autobahn GmbH des Bundes erklärt, warum es hier keinen Lärmschutz gibt: „Zum Zeitpunkt des Autobahnbaus hier (1972) gab es noch keine Lärmschutzverordnung. Diese regelt den gesetzlichen Rahmen für den Lärmschutz.“ Auch sei das Bundesimmissionsschutzgesetz ist erst 1974 in Kraft getreten, erklärt Anton Kurenbach von der Stabsstelle Kommunikation der Autobahn GmbH.
Die Häuser von Hannelore P. und ihren Nachbarn stehen Jahrzehnte länger. Sie haben das Nachsehen. Nur ist das Verkehrsaufkommen von 1972 nicht mit dem im Jahr 2023 vergleichbar.
Eine gesetzliche Verpflichtung für den Ausbau des Lärmschutzes existiere für die Autobahn Westfalen GmbH nur im Rahmen von Neu- oder Ausbaumaßnahmen von Autobahnen. In diesem Fall griffen dann die genannten gesetzlichen Vorgaben. Es sei allerdings möglich, den Lärmschutz im Rahmen einer sogenannten „freiwilligen Leistung“ auszubauen.
Dies geschehe üblicherweise im Rahmen von ohnehin anstehenden Sanierungen einer Strecke. Einen Tipp hat Anton Kurenbach für die Anwohner: „Sie können bei der Niederlassung Westfalen der Autobahn GmbH des Bundes in Hamm einen formlosen Antrag auf Überprüfung der Lärmsituation stellen.“
Und: Für Besitzer von Gebäuden, die vor Inkrafttreten des Bundesimmissionsschutzgesetzes von 1974 gebaut wurden, gebe es die Möglichkeit, Erstattungen für notwendige Lärmschutzmaßnahmen am Gebäude in Höhe von 75 Prozent der Kosten zu erhalten. Zwei Lärmschutzfenster hätten die Eltern seinerzeit beim Bau der Autobahn bezahlt bekommen; alle anderen habe man selbst bezahl, erinnert sich Hannelore P..
Geplanter Ausbau 2030
Bewegung in die komplexe Situation kommt aber möglicherweise ohnehin in einigen Jahren. „Im Bundesverkehrswegeplan 2030 ist der Ausbau der A45 auf sechs Fahrstreifen auch in diesem Bereich Richtung Norden vorgesehen. Dann ist die Autobahn GmbH zur Überprüfung des Lärmschutzes verpflichtet“, berichtet Anton Kurenbach. Dazu berechne man die Lärmpegel aller naheliegenden Gebäude und könne dann gegebenenfalls mit Lärmschutzwänden, -wällen oder Flüsterasphalt sicherstellen, dass die Grenzwerte eingehalten werden. Es könnte eine Chance sein für die Anwohner des Hülsenbergs.
Einen Termin für diesen Ausbau gebe es aber noch nicht. Ob und wie 2030 tatsächlich etwas passiert, bleibt also offen. Noch ist das Projekt nicht viel mehr als eine Absichtserklärung.

Modellversuch startet
In wenigen Wochen schon, im Mai 2023, startet indes ein paar Kilometer weiter nördlich an der A45 ein Modellversuch. Hierbei sollen besondere Lärmschutzaufsätze an zwei Autobahnabschnitten eingebaut werden: Auf bestehende Lärmschutzwände an der Siedlung Salingen zwischen der Anschlussstelle Eichlinghofen und dem Dreieck Dortmund/Witten werden sogenannte „Difraktoren“ aufgebaut – Aluminiumteile, die auf jede beliebige vorhandene Schallschutzwand montiert werden können. Sinn der Sache: Schallwellen nach oben ablenken.
Sie sollen ähnlich effektiv sein wie neuer Flüsterasphalt oder eine zwei Meter hohe Lärmschutzwand – nur viel billiger. Ein Meter davon kostet ein Drittel weniger als ein Meter Lärmschutzwand mit zwei Metern Höhe, sagt die Autobahn GmhH. Auch könnten diese Teile wiederverwendet werden. Die Aluteile haben immerhin eine erwartete Lebensdauer von bis zu 50 Jahren.
In den Niederlanden sind die Gitter schon im Einsatz. Ab Mai werden sie nun in Dortmund zwei Monate lang getestet. Damit ist die Autobahn Westfalen bundesweit die erste Niederlassung, die diese Methode ausprobiert.
Etwa zehn Tage werde man brauchen, um die 20 Zentimeter hohen Teile auf dem Streckenabschnitt zu montieren. Um Vergleichsdaten zu erhalten, werde zunächst nur etwa die Hälfte der Lärmschutzwand damit ausgestattet. Erste Ergebnisse erwartet die Autobahn Westfalen etwa zwei Monate später. Sollten diese Werte positiv ausfallen, könne man anschließend auch die anderen Lärmschutzwände ausstatten. Für diese Autobahn-Anwohner Aussicht auf ein wenig mehr Ruhe. Die Familie P. und ihre Nachbarn haben davon nichts. Sie müssen weiter hoffen.
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