Louis ist wild entschlossen: „Wenn ich groß bin, will ich Gefängniswärter werden. Mit Banditen kenne ich mich nämlich aus.“ Louis ist neun, man darf wohl davon ausgehen, dass er seinen Berufswunsch noch einige Male ändern wird. Zumal er an seiner Schule noch einige attraktive Berufsfelder kennenlernen wird. Denn an der Haldenwangschule, der Dorstener Förderschule mit dem Förderschwerpunkt Geistige Entwicklung, können die Schülerinnen und Schüler nach elf Pflicht-Schulbesuchsjahren mit der Berufspraxisstufe auch ihre zweijährige Berufsschulpflicht erfüllen.
Bis dahin hat Louis aber noch ein bisschen Zeit. Zeit fürs Lernen, aber auch für Ergo- und Sprachtherapie und Krankengymnastik − alles untergebracht in einem langen Schultag bis 15.45 Uhr. An der einzigen Dorstener Schule mit Lehrschwimmbecken hat Louis übrigens auch die Seepferdchen-Prüfung abgelegt, nimmt er auf dem Schulhof an der Verkehrserziehung teil. Am liebsten hätte er jetzt schon Englisch-Unterricht: „Ich will unbedingt mal irgendwo hinfahren, wo man das braucht.“ Putin zum Beispiel erscheint ihm als ein Wunsch-Gesprächspartner: „Dem würde ich mal sagen, dass er mit dem Krieg aufhören soll.“

Das aktuelle Tagesgeschehen gehört an der Haldenwangschule ebenso zum Lernstoff wie „zu lernen, wie man gut zurechtkommt im gesellschaftlichen Leben“, erklärt Schulleiter Thomas Spliethoff. „Wir sind eine lebenspraktische Schule.“ Die Berufsorientierung der Größeren soll mit einer Lebensorientierung einhergehen. Erklärtes Ziel ist der Einstieg der Absolventen in den ersten Arbeitsmarkt. Garten- und Landschaftsbau, Hauswirtschaft, Catering und Großküche: Auf diese Berufsfelder bereitet die Haldenwangschule ihre Schülerinnen und Schüler vor. Das Kollegium ist jedes Jahr wieder froh über jene Schützlinge, die lebenstauglich in die Arbeitswelt oder eine Werkstatt für behinderte Menschen entlassen werden können.
Hochgradige Beeinträchtigungen
Das kann allerdings nicht bei allen gelingen. Thomas Spliethoff: „Es gibt unter unseren 90 Schülerinnen und Schülern auch dermaßen hochgradig beeinträchtigte Kinder, für die eine solche Eingliederung niemals infrage kommen wird. Sie werden immer auf Hilfe angewiesen sein.“ Ein Rundgang durch die Schule unterstreicht eindrucksvoll diese Erkenntnis des erfahrenen Sonderpädagogen. Denn dort gibt es nicht nur eine Schreinerwerkstatt und das von Schülern betriebene Café Mocca − Pflegeräume für kleine und große Menschen, die ständig anwesende Krankenschwester, diverse Therapieräume und Rückzugsmöglichkeiten zur Entspannung legen Zeugnis ab von den vielfältigen, teils dramatischen Einschränkungen, mit denen die Haldenwangschüler und ihre Familien durchs Leben gehen.
Die 15-jährige Pflegetochter von Eva Bruns gehört seit einiger Zeit zur Schülerschar. Das Mädchen mit einem Geburtsgewicht von 450 Gramm hat viele „Begleiterscheinungen“, die so viel zu früh geborenen Babys fürs ganze Leben erhalten bleiben. „Sie ging zunächst zur Montessori-Schule“, berichtet die stellvertretende Vorsitzende der Elternpflegschaft. „Ständig begleitet von einer Integrationskraft, ging das in den ersten fünf Jahren ganz gut. Aber dann wurde die Schere zwischen den gesunden Schulkameraden und unserer Tochter immer größer. Sie zog sich immer mehr zurück, wurde immer trauriger, hatte kaum Kontakte.“

Gegen den Willen der Elfjährigen, die panische Angst vor jedweder Veränderung hat, entschlossen sich die Pflegeeltern, den Weg der Inklusion zu verlassen, das Mädchen auf der Förderschule anzumelden. Die vertraute Integrationskraft ging zunächst mit, das erleichterte den Wechsel. Die Eltern machten sich dennoch Sorgen. War die Entscheidung richtig? Schon bald wussten sie‘s: „In der zweiten Woche schickte mir die Integrationskraft ein Foto: So hatten wir unsere Tochter in neun gemeinsamen Jahren noch nie lachen sehen.“
Pädagogen mit Herzblut
Sie habe beim Lernen mächtig zugelegt und hätte am liebsten weder Ferien noch Wochenenden. „Sie strahlt!“ Und sie habe zu weinen gelernt, was das Mädchen zuvor nicht gekonnt habe. Eva Bruns ist voll des Lobes für das Lehrer- und Therapeuten-Team: „Alle sind mit Herzblut bei der Sache.“ Auch als Corona das Schulleben vielerorts in große Hilflosigkeit gestürzt habe, habe sich die Haldenwangschule ruckzuck digital aufgestellt. Thomas Spliethoff gibt einen Teil des Lobes an die Stadt Dorsten weiter: „Wir hatten schnell einen Server im Keller und einen Glasfaseranschluss. Unsere digitalen Tafeln sind ein Segen.“
Dennoch sei Improvisationstalent gefragt gewesen während des Lockdowns. „Wir haben so manchen Online-Unterricht nach dem Dienstplan der Eltern terminiert, denn nicht alle Kinder konnten damit allein zurechtkommen. Da gab es dann auch schon mal Videokonferenzen um 17 Uhr.“ Da ist es wieder, das von Eva Bruns so hoch geschätzte Herzblut.

Umzug zur Marler Straße
Im Sommer ist wieder einmal Improvisationstalent gefragt: Um die Schule im Harsewinkel baulich fit zu machen für die nächsten zehn Jahre, braucht es eine Sanierung. Schüler und Lehrer werden für diese Zeit in die ehemalige Dietrich-Bonhoeffer-Schule an der Marler Straße umziehen, die vorher noch barrierefrei „ertüchtigt“ werden muss.
Kein leichtes Unterfangen mit Kindern und Jugendlichen, die sich vielfach mit Veränderungen äußerst schwer tun. Ihre vertrauten Lehrer und Betreuer werden nicht nur den Umzug managen, sie werden dafür sorgen, dass Louis und seine Schulkameraden sich auch im Ausweichdomizil sicher und geborgen fühlen. Ihren schicken Schulhof mit Garten, vielen Spielgeräten und Fußballplatz, den werden die Kinder allerdings vermissen. Louis wird vor allem die Röhrenrutsche fehlen.
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