
Simon trauert um seinen Bruder Jörg, der vor wenigen Wochen an den Folgen seiner langjährigen Drogensucht gestorben ist. © Petra Berkenbusch
Simon aus Dorsten: „Alkohol und Heroin haben meinen Bruder umgebracht“
Trauer um Geschwister
Ob vor 30 Jahren oder vor fünf Wochen - die Trauer um Geschwister oder Kinder, die ihren Drogenkonsum mit dem Leben bezahlt haben, bleibt in Familien präsent. Drei Gespräche über Brüder.
Als sich am 21. Juli eine Menschenkette am Franziskanerkloster in der Fußgängerzone bildete, standen Simon, Nicole und Hans Ulrich mittendrin. Drei Menschen, die in ihrem Alltagsleben nichts miteinander zu tun haben, die aber ein Schicksal eint, auf das die Menschenkette aufmerksam machen wollte: Sie haben einen nahen Angehörigen an die Drogensucht verloren.
Bei Simon (sein Name wird Englisch ausgesprochen) ist der Verlust noch sehr frisch, sein Bruder Jörg starb vor fünf Wochen. Für ihn legte Simon bei der Gedenkfeier am 21. Juli einen bunten Namensstein am Gedenkkreuz im Klostergarten ab. Mit sieben weiteren Steinen erinnert er seither an insgesamt acht Drogentote zwischen Juli 2021 und Juli 2022.
Bruder Nummer 1, gestorben 2022
Auch Simon hat eine Drogengeschichte. Anders als sein Bruder hat er es aber geschafft, von den Drogen wegzukommen. „Ich hab‘s irgendwann gelassen“, erzählt er, „bin seit vielen Jahren im Methadon-Programm.“ Sein Bruder sei auch substituiert worden, habe aber stark unter den Folgen seiner langjährigen Drogen- und Alkoholsucht gelitten, die ihm unter anderem eine Hepatitis C eingebrockt habe. Irgendwann hielt sein Körper nicht mehr durch.

Für jeden Verstorbenen ein Stein. Links oben der für Jörg. © Petra Berkenbusch
Schlechter Umgang, falsche Kollegen, so sei Jörg einst in die Sucht gerutscht. Die Familie habe ihn da nicht rausholen können. „Obwohl wir lange zusammen gewohnt haben.“ Bis Simon mit der Frau seines Lebens zusammengezogen ist - Teil seines individuellen Rettungsprogramms.
Ein anderer Teil ist die Musik. Auch Jörg sei in den 1990er-Jahren Musiker gewesen, erzählt Simon. Seit einiger Zeit stehe die Band wieder auf der Bühne. Simon ist Teil der Truppe und fühlt sich seinem Bruder besonders nah, wenn er Metal spielt - ihr bevorzugter Musikstil.
Bruder Nummer 2, gestorben 1992
Während Simon seinen Bruder erst kürzlich verloren hat, liegt der Tod seines Bruders bei Hans Ulrich schon etwa 30 Jahre zurück. „Mein Bruder und ein Freund hatten sich in Amsterdam an einer verunreinigten Heroin-Spritze mit Aids infiziert“, berichtet der pensionierte Oberstaatsanwalt. Während es für seinen Bruder keine Rettung gab, hat sein Kumpel noch lange gelebt.
Seit Hans Ulrich vor wenigen Jahren dessen Spitznamen in einem Zeitungsbericht über vom Café Kick betrauerte Drogenopfer fand, fühlt er sich der Einrichtung der Dorstener Caritas verbunden. Am bundesweiten „Gedenktag für verstorbene Drogengebraucher“ geht er mit Mitarbeitern, Angehörigen und Drogenkonsumenten auf die Straße.
Bruder Nummer 3, gestorben 2020
Als Nicoles Bruder vor zwei Jahren im Alter von 48 Jahren nach einer langen Drogenkarriere starb, entschloss sie sich, ehrenamtlich beim Café Kick mitzuarbeiten. Einmal in der Woche backt sie Waffeln für die Besucher des niederschwelligen Angebots.

Pater Heribert und Pastor Lutterbeck hielten im Klostergarten eine kurze Andacht für die Verstorbenen. © Petra Berkenbusch
Der Tod ihres Bruders, der seit seiner Jugend schwerst drogenabhängig war, sei als Erlösung gekommen. Immer wieder hat Nicole in all den Jahrzehnten versucht, ihrem Bruder zu helfen. Immer wieder rutschte er weiter ab, geriet schließlich in den Strudel von Drogensucht und Beschaffungskriminalität. „Er hat 15 Jahre seines Lebens in Haft verbracht“, erzählt Nicole. „Süchtig, krank und kriminell, das ist eine Dauerschleife.“
Die Erfahrung mit dem Bruder hat sie zu der Überzeugung gebracht, dass eine kontrollierte, geschützte Drogenabgabe den Teufelskreis durchbrechen könne. „Aber unsere Gesellschaft kennt keine Toleranz gegenüber Drogenabhängigen“, sagt sie. „Süchtige werden stigmatisiert und aus der Gesellschaft ausgeschlossen, das macht ihren Leidensweg oft noch schlimmer.“
Wie Simon und Hans Ulrich hat Nicole dem Absturz ihres Bruders letztlich tatenlos zusehen müssen, hat versucht, die gleichermaßen bestürzten wie hilflosen Eltern zu stützen. Alles vergeblich: Ihre geliebten Geschwister haben ihre Drogensucht nicht überlebt, haben untröstliche Eltern zurückgelassen. In ihren Familien bleiben sie präsent, weit über den Gedenktag am 21. Juli hinaus.
Geboren und geblieben im Pott, seit 1982 in verschiedenen Redaktionen des Medienhauses Lensing tätig. Interessiert an Menschen und allem, was sie anstellen, denken und sagen.
