Häuser in der Zwangsversteigerung Wenn der Gutachter dreimal klingelt – Experten packen aus

Der weite Weg vom Gutachten bis zur Zwangsversteigerung am Amtsgericht
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Wenn F. Afsin eine Immobilie unter die Lupe nehmen möchte – und genau das ist sein Job –, bricht er immer etwas früher auf. Dann rollt er mit seinem Auto durch die Nachbarschaft. Was für eine Ecke ist das, in der das Gebäude steht? Eine wichtige Frage. Afsin blickt aus dem Autofenster, schaut sich an, wie gepflegt die Vorgärten sind und welche Autos vor welchen Häusern stehen. Er nennt es „Mikrolage“. Um sie zu bewerten, reichen dem studierten Bauingenieur nach über 20 Jahren als vereidigter und öffentlich bestellter Sachverständiger für Immobilienbewertung wenige Blicke.

Wer wissen will, wie viel sein Haus wert ist, ruft ihn an. Das Auftragsbuch ist voll. Auch für das Amtsgericht Castrop-Rauxel schätzt Afsin Immobilien ein – wenn sie zwangsversteigert werden sollen. Elf Anträge auf Zwangsversteigerung landeten bisher 2024 auf den Tischen der beiden Rechtspfleger Dibbern und Kopta im Castrop-Rauxeler Amtsgericht. Im vergangenen Jahr waren es 16. „Letztes Jahr wurde nicht so viel versteigert, es gab wenig Termine“, sagt Dibbern. Das bestätigt auch Afsins Bauchgefühl. Deutschlandweite Statistiken zeichnen das gleiche Bild.

Doch bei einem sind sich alle sicher: „Es wird wieder mehr“, sagt Rechtspfleger Dibbern. Die Gründe: Inflation und Zinsveränderung. Auch nach der großen Finanzkrise 2008 sei die Zahl der Zwangsversteigerungen leicht verzögert stark angezogen, erinnert sich Afsin, der damals noch neu im Geschäft war.

Afsin hat schon alles geschätzt

Nach seinem Studium zum Bauingenieur und ein paar Jahren im Beruf wollte er 2001 selbst eine Immobilie kaufen. Seine Bank schickte damals einen Gutachter vorbei, der den Wert schätzen sollte. Beide kamen in einer Bäckerei ins Gespräch. Afsin dachte: Angenehme Arbeit – das möchte ich auch machen.

Als Ingenieur wusste er zwar, wie man Häuser plant, vieles andere aber nicht. Also bildete er sich fort, nahm dafür 25.000 Euro in die Hand, und wurde mit 36 Jahren einer der jüngsten Gutachter in einem damals eher alten Berufsstand. Heute zählt er selbst zu den alten Hasen, hat schon fast alles geschätzt: von der riesigen Fabrik bis zum Friseursalon, von der Einzimmerwohnung bis zum Zechenhaus von 1910.

In der Regel ist Afsin allein unterwegs. Nur wenn das Gericht vorher warnt, dass es kompliziert werden könnte, nimmt er einen Mitarbeiter mit. „Für die Sicherheit und als Zeugen“, sagt Afsin. In zwei Jahrzehnten sei ihm aber noch nie etwas passiert. Nur verbal sei er angegriffen worden. „Die meisten Menschen sind relativ freundlich“, sagt der 57-Jährige. „Sie haben sich mit der Lage abgefunden und wissen, dass ich nur meinen Job mache.“

Nach seiner Tour durch die Nachbarschaft nimmt sich der Gutachter einen weiteren Moment Zeit: Noch bevor er an der Tür klingelt, bleibt er vor dem Haus stehen und nimmt es in Augenschein. Er blickt aufs Dach, auf die Fenster und den Garten. Vieles erkennt er wieder. Auf Luftbildern hat er schon vor Wochen das betreffende Grundstück markiert. Das macht er gleich nachdem der Antrag des Amtsgerichts, das Haus zu schätzen, bei ihm eingegangen ist. „Es muss genau definiert werden, was in der Versteigerung ist – und was nicht“, sagt Afsin.

Auf Google Maps fliegt er virtuell um das Haus herum und schaut sich alles genau an. Denn nicht jeder Anbau, nicht jedes Gartenhaus ist im Grundbuch eingetragen. „Das Grundbuch ist quasi sowas wie die Fahrzeugpapiere einer Immobilie“, erklärt Afsin. Für ihn ist es eine wichtige Grundlage. Die Größe ist darin genauso eingetragen wie vorherige Besitzer, Alt- und Baulast und Grundschulden. Hat eine Bank das Grundstück bezahlt und sind dafür noch Gelder offen, steht genau das im Grundbuch.

Die Tür bleibt immer öfter zu

Parallel zur „peniblen Recherche“, also während Afsin verschiedenste Papiere anfordert, schickt er auch die Ankündigung des Besuchs vor Ort raus. „Alles muss formal richtig laufen“, betont der Gutachter gleich mehrfach. Der Termin wird mindestens zwei Wochen vorher angekündigt. Der Gutachter, nicht der Eigentümer entscheidet über den Termin. „Die Menschen sind in der Bredouille und versuchen manchmal, das Gutachten zu verzögern und Zeit zu gewinnen“, erklärt er. Klingelt der Gutachter an der Tür, klärt sich die große Frage: Öffnet sie sich oder nicht? „Es passiert inzwischen sehr regelmäßig, dass nicht geöffnet wird“, sagt Afsin. Rund ein Drittel der Türen bleibe zu.

Dann muss der Gutachter noch mehr auf seine Erfahrung vertrauen als ohnehin schon. Er muss die „Ausstattungsklasse“ im Hausinneren anhand des Äußeren und der vorliegenden Unterlagen schätzen. „Überwiegend kann man von außen gut schätzen, wie die Qualität von innen ist“, sagt der Gutachter. Außerdem zieht er einen Risikoabschlag vom ursprünglichen Wert ab. 10 Prozent, wenn er einen guten Zustand erwartet, 20 Prozent bei schlechten Erwartungen.

Der Gutachter F. Afsin diktiert die Maße und den Zustand der Immobilie und ihren Räumen in sein Handy. (Symbolbild)
Der Gutachter F. Afsin diktiert die Maße und den Zustand der Immobilie und ihren Räumen in sein Handy. (Symbolbild) © picture alliance/dpa

Doch meist kommt es gar nicht so weit und die Eigentümer – oder deren Mieter – lassen Afsin ins Haus. Anschließend nimmt der Gutachter routiniert seine Arbeit auf. „Ich fange immer im Keller an“, sagt er. Mit einer Hand vermisst er mit einem Laser die Räume, ins Handy in der anderen Hand diktiert er die Maße und den Zustand der Immobilie.

Außerdem macht er viele Fotos, vom Boden, von der Heizung, von eigentlich allem. „Nur eine Person führt mich, sonst stehen die Menschen im Bild“, sagt Afsin. Es geht immer linksherum, bis kein Raum mehr übrig ist, dann hoch ins nächste Stockwerk. „Genau wie später im Gutachten.“

Egal ob Wohnung oder Einfamilienhaus, nach einer halben Stunde ist der Gutachter durch. Zuletzt fragt er noch den Eigentümer, ob er etwas Wichtiges übersehen habe. In der Regel lautet die Antwort: Nein.

Schwieriger seien Grundstücke mit mehreren „Wohnkörpern“ einzuschätzen: hier ein Haus von 1915 mit ungenehmigtem Anbau, dort ein Stall und dort ein neues Haus. Das könnte schonmal „mühselige“ Stunden dauern.

„Wir arbeiten mit Werten, nicht mit Kosten“

Zurück im Büro, beginnt für den Gutachter die eigentlich schwierige Arbeit. Hier muss er „alle wertrelevanten Faktoren zusammenstellen“. Und zwar „sauber und strukturiert“. Die reine Bewertung gehe recht schnell. „Wir arbeiten mit Werten, nicht mit Kosten“, sagt der Gutachter und erklärt: Hat ein Haus undichte Fenster, dann muss er nicht errechnen, was die Reparatur kostet, sondern abschätzen können, wie der Ist-Zustand sich auf den Wert auswirkt.

Die Alarmglocken des Gutachters schrillen vor allem bei unklaren Mietverhältnissen in der Immobilie oder beim Verdacht auf Altlasten, die nicht eingetragen wurden. Drei Tage braucht Afsin, um ein Gutachten für ein Einfamilienhaus zu schreiben. Der gesamte Prozess drumherum kostete ihn drei oder vier Monate von Auftragseingang bis zum Stempeln des Gutachtens, auf dem der wichtige Schätzwert steht, an dem sich später die Grenzen der Versteigerung orientieren.

Die beiden Rechtspfleger des Amtsgerichts Castrop-Rauxel: Kopta (l.) und Dibbern.
Die beiden Rechtspfleger des Amtsgerichts Castrop-Rauxel: Kopta (l.) und Dibbern. © Luca Füllgraf

Damit endet die Arbeit des Gutachters. Spätestens jetzt nimmt der Rechtspfleger den Faden auf, der Afsin beauftragt hat. In der Zwischenzeit musste auch er darauf achten, Fristen und Formalien einzuhalten, um die Zwangsversteigerung unangreifbar zu machen. Rechtspfleger haben ein duales Studium absolviert und sollen die Richter an den Gerichten entlasten. Sie kümmern sich etwa und Familien- oder Nachlasssachen.

Zwangsversteigerungen gelten aber als „Königspensum“ der Rechtspfleger. Nur hier leiten sie die Sitzung selbst; und es kommen besonders viele Rechtsbereiche zusammen. Allein die Vorbereitung eines Zwangsversteigerungstermins dauert einen halben bis einen ganzen Arbeitstag. Der gesamte Prozess von der Anmeldung bis zur tatsächlichen Versteigerung dauert hingegen deutlich länger: „Ein Jahr, wenn alles nach Plan läuft“, sagt Rechtspfleger Dibbern. Realistischer seien aber oft eineinhalb bis zwei Jahre.

Was bei der Versteigerung wichtig ist

Grundsätzlich gibt es zwei Arten von Zwangsversteigerungen, erklärt sein Kollege Kopta: Vollstreckungsversteigerungen und Teilungsversteigerungen. Der Grund für letzteres sind vor allem geschiedene Ehepartner oder Erbengemeinschaften, die sich nicht über die Zukunft einer Immobilie einigen können. Bei Vollstreckungsversteigerungen geht es hingegen um offene Schulden – häufig bei Banken oder dem Finanzamt, selten auch bei anderen Privatpersonen. Am Amtsgericht in Castrop-Rauxel werden übrigens nur Immobilien versteigert, anderswo aber auch andere Wertgegenstände wie etwa Autos, Fahrräder oder Elektronik.

Bevor es zur Versteigerung kommt, muss das Gericht rechtzeitig und öffentlich darüber informieren. Inzwischen schalten die Banken, bei denen die Gläubiger Schulden haben, auch immer häufiger Anzeigen auf Immobilienportalen, um auf die Versteigerungen hinzuweisen und den notwendigen Preis zu erzielen. „Wir als Gericht sind nur als Mittelsmann beauftragt“, sagt Rechtspfleger Kopta. Deshalb könne der Höchstbietende später auch nie Ansprüche gegen das Gericht geltend machen. Es gebe keine Gewährleistung. Außerdem bleiben auch nach dem erfolgreichen Kauf teilweise Rechte bestehen. „Wenn man ein Auto kauft, sind die Dellen ja auch nicht plötzlich weg“, sagt Dibbern.

Am Amtsgericht werden die Castrop-Rauxeler Zwangsversteigerungen durchgeführt.
Am Amtsgericht werden die Castrop-Rauxeler Zwangsversteigerungen durchgeführt. © Tobias Weckenbrock

Genau solche Feinheiten werden auch am Anfang einer jeden Zwangsversteigerung in Saal 1 des Amtsgerichts in Castrop-Rauxel verlesen, auch wenn da in der Praxis nicht immer jeder Bietinteressent genau zuhört. „Das ist wie mit AGBs – die sollte man besser kennen und genau zuhören“, sagt Kathrin Dannehl, Richterin und stellvertretende Direktorin des Amtsgerichts.

Zu den wichtigsten Regeln zählt, dass Bieter einen Ausweis oder Pass mitbringen müssen und in der Regel eine Sicherheit von zehn Prozent des Schätzwerts hinterlegen sollten. Sobald die Bietzeit von 30 Minuten startet, können die Interessenten anfangen zu bieten. Dabei müssen sie zumindest im ersten Biettermin vor allem zwei Grenzen beachten.

Wird weniger als fünf Zehntel des Schätzwertes geboten, muss das Gericht das Gebot ablehnen. Wird weniger als sieben Zehntel geboten, haben die Gläubiger das Recht abzulehnen. Aber: Wenn im ersten Versuch kein Gebot angenommen wird, gibt es einen zweiten Termin, bei dem diese normalerweise Grenzen entfallen. Wie oft das passiert? Da haben die Rechtspfleger Dibbern und Kopta in Castrop-Rauxel zuletzt ganz unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Während Kopta oft eine zweite Runde drehen musste, reichte bei Dibbern häufiger der erste Versuch.

„Die Bieter sind bunt gemischt“

Beide Rechtspfleger plädieren dafür, bei Zwangsversteigerungen nicht wie bei Ebay bis kurz vor Schluss zu warten, sondern gleich zu bieten anzufangen, weil die Zeit aller Anwesenden spare. Denn so lange noch geboten wird, endet die Auktion nicht. „Ich hatte schon eine Auktion mit 98 Geboten, die eineinhalb Stunden dauerte und bei der sich um 50 Euro überboten wurde“, sagt Dibbern. Vor allem Laien würden oft erst spät bieten, während Versteigerungserfahrene schnell sind: „Sie bieten aber selten als Erstes und wenn, dann nur die notwendige Fünf-Zehntel-Grenze.“

Doch nicht nur Profis sind bei Zwangsversteigerungen erfolgreich. Dass zuletzt auch junge Familien oder Menschen, die ihr erstes eigenes Haus suchten, den Zuschlag bekamen, ist kein Zufall. „Die Bieter sind bunt gemischt“, sagt Rechtspfleger Kopta, der dennoch eine Tendenz erkennt: Bei Wohnungen bieten oft Firmen, bei Häusern eher Privatpersonen.

Nach der erfolgreichen Versteigerung bekommt auch der Gutachter F. Afsin wieder Post vom Amtsgericht. Im Brief steht, für wie viel Geld die Immobilie versteigert wurde. „Interessant, aber nicht ausschlaggebend für unsere Arbeit“, sagt Afsin. Der Versteigerungsbetrag und der Wert einer Immobilie seien zwei verschiedene Dinge, besonders bei Zwangsversteigerungen.