Thomas Frauendienst kam mit "verdrehten Füßen" zur Welt. In einem Kinderheim wurde er unter anderem deshalb mehrfach operiert. Noch heute leidet er darunter. © Lydia Heuser
Stiftung Anerkennung und Hilfe
Mann wurde als Kind im Heim misshandelt: Wiedergutmachung fällt bald weg
Thomas Frauendienst hat als Missbrauchsopfer Geld von einer Stiftung erhalten. Dieses Hilfesystem wird es bald nicht mehr geben. Der Castrop-Rauxeler findet das falsch. Die Kirchen sehen das anders.
An einen dunklen Raum, den Duft von Parfüm und rhythmische Stöße kann Thomas Frauendienst sich noch erinnern – mehr nicht. Erst Jahrzehnte später wurde ihm bewusst, dass er als Kleinkind vergewaltigt wurde. Der 57-Jährige verbrachte seine ersten vier Lebensjahre in einem Heim der evangelischen Stiftung Volmarstein bei Wetter.
Das Johanna-Helenen-Heim war in den 1950er- und 1960er-Jahren ein Ort, wo Mitarbeitende „eigenmächtig einem falsch verstandenen pädagogischen Verständnis nacheiferten“, so heißt es im Vorwort zu der Studie „Gewalt in der Körperbehindertenhilfe“. Die Autoren präsentieren darin die Ergebnisse ihrer Forschung, Archivauswertung und Zeitzeugengespräche mit ehemaligen Bewohnern des Johanna-Helenen-Heims.
Das Martyrium, das Thomas Frauendienst durchgemacht hat, kommt in diesem Buch nicht vor. Dass er dort war, belegt ein OP-Buch. Demnach wurde er wohl 60 Mal operiert. Und das von dem berüchtigten Arzt Dr. Alfred Katthagen.
Im Johanna-Helenen-Heim in Wetter verbrachte Thomas Frauendienst seine ersten vier Lebensjahre. Heute heißt es Johanna-Helenen-Haus. © Evangelische Stiftung Volmarstein
Die Autoren Hans Walter Schmuhl und Ulrike Winter schreiben über ihn, dass er „überzeugter Anhänger der Eugenik und der nationalsozialistischen Erbgesundheitspolitik“ gewesen sei. Selbst nach 1945 befürwortete er eine „Erbgesundheitspflege“. Danach hätten Paare, die psychische Krankheiten oder vererbbare körperliche Erkrankungen in der Familie haben, keine Kinder bekommen dürfen.
Auch „verkrüppelte“ Füße waren, nicht alleine in den Augen Alfred Katthagens, ein Indiz für eine Erbkrankheit.
Lungenentzündung und Nottaufe
Thomas Frauendienst kam mit zwei „verdrehten Füßen“ zur Welt, wie er selbst sagt. Unzählige Operationen hat er inzwischen hinter sich. Sehnen und Bänder fehlten ihm. Als Kind bekam er künstliche Achillessehnen eingepflanzt.
Heute braucht er Krücken und spezielle Schuhe, um gehen zu können.
Es sind nicht allein seine Füße, die den Alltag erschweren. „Ich hatte als Kind immer wieder Darmverschlüsse“, erzählt er. Während seiner Zeit im Heim lag er einmal wegen einer schweren Lungenentzündung im Krankenhaus. „Dort wurde ich notgetauft“, sagt der Castrop-Rauxeler.
Die Lungenentzündung, so nimmt er an, habe er damals bekommen, weil die Schwestern im Heim ihm das Essen reingestopft hätten. Am Essen habe er sich dann wohl verschluckt.
Was Thomas Frauendienst im Heim erlebt hat, ist kein Einzelfall. Grausamkeiten, Gewalt und psychischer Druck hinterlassen ihre Spuren – das weiß auch der Castrop-Rauxeler.
2014 bekam er 5000 Euro zugesprochen von der unabhängigen Kommission für finanzielle Leistungen in Anerkennung des Leids für Betroffene sexualisierter Gewalt – eine Einmalzahlung, die ihm erst zuerkannt wurde, nachdem er ausführlich über seine Erlebnisse berichtet und nach der ersten Ablehnung Widerspruch eingelegt hatte. „Danach wollte ich mir das Leben nehmen“, gibt der 57-Jährige zu.
Ganz anders lief es bei der Stiftung Anerkennung und Hilfe, bei der er 2017 einen Antrag einreichte. Die Sachbearbeiterin vom Anerkennungsgespräch hat Frauendienst noch heute in guter Erinnerung. „Die waren sehr menschlich dort. Zu meinem eigenen seelischen Schutz sollte ich irgendwann nicht weitererzählen“, sagt Frauendienst. Ohnehin konnte er genug Beweise vorlegen, die zeigten, dass ihm Leid und Unrecht während der Unterbringung in der Volmarsteiner Behinderteneinrichtung widerfahren sind. Verrechnet mit den 5000 Euro aus dem anderen Hilfesystem, gestand die Stiftung ihm 4000 Euro zu.
Die Stiftung läuft aus: Aber haben schon alle Betroffenen Hilfe bekommen?
Die Arbeit der Stiftung Anerkennung und Hilfe läuft nun aus. Bis Juni 2021 nahm die Stiftung Anträge für Rentenersatzleistungen und eine einmalige Geldpauschale entgegen. Thomas Frauendienst findet es nicht richtig, dass die Stiftungsarbeit endet. „Viele, denen das Geld zusteht, haben vielleicht noch nicht von der Stiftung gehört oder können sich nicht überwinden“, vermutet er.
Auf Anfrage der Redaktion versuchen die Stiftungsgründer, die Sorgen zu zerstreuen. Sowohl EKD als auch die Deutsche Bischofskonferenz weisen darauf hin, dass die Anmeldung für die Stiftung schon zweimal verlängert wurde und die Anmeldevorraussetzungen „maximal niederschwellig“ waren, so ein EKD-Sprecher. Gemeinsam mit den anderen Stiftungsgründern habe man, „unter anderem vor dem Hintergrund einer noch größeren Ungleichbehandlung im Vergleich zu Betroffenen der Fonds Heimerziehung, dessen Antragsfrist nach drei Jahren endete“, eine dritte Verlängerung abgelehnt, heißt es von einem Sprecher der Deutschen Bischofskonferenz.
Und: Die Prognose von rund 25.000 Betroffenen sei voraussichtlich erreicht worden. „Wenn einzelne Betroffene trotz der intensiven Öffentlichkeitsarbeit nicht erreicht werden konnten, ist dies sehr bedauerlich.“ Frauendienst kann über solche Aussagen nur lachen. Er fragt: „Wie kann es dann sein, dass trotzdem zweimal verlängert wurde?“
Als Mitglied der evangelischen Kirche ärgert er sich besonders über die EKD-Vorsitzende Annette Kurschus. „Sie sagt immer, dass sie sich mehr für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in Kirchen einsetzen will und dann entscheidet sie mit, dass die Stiftungsarbeit endet.“
Ein EKD-Sprecher antwortet darauf: „Das Thema der sexualisierten Gewalt steht und stand nicht im Fokus dieser Stiftung, die vielfältige Formen von Gewalt in Einrichtungen der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie in den Blick nahm.“ Frauendienst sagt: „Das ist eine glatte Lüge.“ Wie sonst sei zu erklären, dass seine Geldpauschale, die er 2014 von der Diakonie als Betroffener sexualisierter Gewalt zugesprochen bekam, 2017 mit den 9000 Euro der Stiftung Anerkennung und Hilfe verrechnet wurde?
Ums Geld geht es Frauendienst nicht. Er gibt aber zu bedenken: „Warum endet die Stiftung? Unsere Behinderung und unser Leid hört doch auch nicht einfach auf?“
Vielen Dank für Ihr Interesse an einem Artikel unseres Premium-Angebots. Bitte registrieren Sie sich kurz kostenfrei, um ihn vollständig lesen zu können.
Jetzt kostenfrei registrieren
Einfach Zugang freischalten und weiterlesen
Werden auch Sie RN+ Mitglied!
Entdecken Sie jetzt das Abo, das zu Ihnen passt. Jederzeit kündbar. Inklusive Newsletter.
Bitte bestätigen Sie Ihre Registrierung
Bitte bestätigen Sie Ihre Registrierung durch Klick auf den Link in der E-Mail, um weiterlesen zu können.
Prüfen Sie ggf. auch Ihren Spam-Ordner.
Einfach Zugang freischalten und weiterlesen
Werden auch Sie RN+ Mitglied!
Entdecken Sie jetzt das Abo, das zu Ihnen passt. Jederzeit kündbar. Inklusive Newsletter.