Dr. Martin Montag ist Ärztlicher Direktor am Evangelischen Krankenhaus Castrop-Rauxel (EvK). Er ist einer der Ärzte, die bei einer Triage entscheiden müssen.

© Ronny von Wangenheim

Nach Urteil zur Triage-Regelung: Für das EvK ist Behinderung kein Kriterium

rnMedizin

Triage – das ist das Horrorszenario. Das Bundesverfassungsgericht hat ein Urteil gefällt, das Menschen mit Behinderungen schützt. Ein Betroffener und das EvK Castrop-Rauxel haben klare Ansichten.

Castrop-Rauxel

, 08.01.2022, 05:55 Uhr / Lesedauer: 2 min

Die Triage ist für jedes Krankenhaus das gefürchtete Horror-Szenario. Entscheiden, welche Menschen behandelt und damit eventuell gerettet werden können und welche nicht, das möchte kein Mediziner. Die Triage ist aber auch für Menschen, die mit einer Behinderung oder Vorerkrankungen leben, schlimm: Sie fürchten, sie könnten bei einer Überlastung in den Kliniken als erste aufgegeben werden.

Jetzt hat das Bundesverfassungsgericht aufgrund einer Verfassungsbeschwerde entschieden, dass der Gesetzgeber für den Fall einer pandemiebedingten Triage unverzüglich Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen treffen muss.

„Ich hatte immer ein mulmiges Gefühl“

Für Thomas Frauendienst aus Castrop-Rauxel, mehrfach vorerkrankt und zu 100 Prozent schwerbehindert, war das eine wichtige Entscheidung. „Ich hatte immer ein mulmiges Gefühl“, sagt er. Rein statistisch wäre er immer im Nachteil gewesen. „Das gibt mir jetzt eine bessere rechtliche Sicherheit. Ich wünsche mir, dass die Krankenhäuser die betroffenen Patienten auch darüber aufklären.“

Jetzt lesen

Wie wird das Urteil aber in den Krankenhäusern gesehen? Auf eine Anfrage beim Evangelischen Krankenhaus Castrop-Rauxel (EvK) sagt Dr. Julia Anna Droste, Ärztliche Leiterin der Zentralen Notaufnahme: „Wir behandeln Menschen mit Behinderung genauso wie Menschen ohne Behinderung. Das gilt generell, dadurch führt die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu keiner Änderung unseres Klinikalltags.“

Sie sagt weiter: „Auch falls es im absoluten Katastrophenfall zu einer Triagierung kommen würde, ist eine Behinderung kein Entscheidungskriterium für uns. Ausschlaggebend sind die Leitlinien der Divi (Deutsche interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin, Anm. d. Red.) und die medizinische Expertise der behandelnden Ärzte.“

Um Triage zu verhindern, gibt es einen Stufenplan

Das Prinzip der Triagierung, so hebt sie hervor, greife nur im Katastrophenfall. „Davon sind wir in unserer Region zurzeit weit entfernt und waren es auch bei den früheren Wellen der Pandemie.“ Oberstes Ziel sei es, alles im Vorfeld zu tun, um es erst gar nicht zu einer Triagierung kommen zu lassen. Dafür wurde am EvK ein Stufenplan entwickelt.

Zunächst wird geschaut, welche Mitarbeiter innerhalb des Krankenhauses im ärztlichen und pflegerischen Bereich eine Zusatzausbildung im Bereich Notfall oder Monitoring haben. Diese sind in einem Notfallplan verzeichnet, der regelmäßig aktualisiert wird.

Jetzt lesen

„Dadurch sind wir in der Lage, kurzfristig unsere Stationen umzustrukturieren und entsprechende Teams zusammenzustellen“, so Julia Anna Droste. Als weitere Optionen könnten alle planbaren Operationen ausgesetzt werden, sodass man sich nur auf die Notfallversorgung konzentrieren kann.

Divi gibt mit Leitlinien Entscheidungshilfen

Die weiteren Stufen: „Reicht die Kapazität im EvK nicht mehr aus, werden die Patienten in benachbarte Krankenhäuser verlegt. Ist innerhalb einer Region die Kapazitätsgrenze erreicht, schaut man innerhalb des Bundeslandes. Ist auch dort alles ausgereizt, richtet sich der Blick auf die deutschlandweit zur Verfügung stehenden Ressourcen.“

Jetzt lesen

Um was geht es bei den Leitlinien der Divi? Die Ärztin verweist auf eine Liste, auf der verschiedene Parameter und Scores erfasst werden und als Entscheidungshilfe dienen. Auch Patientenverfügungen würden in den Entscheidungsprozess einbezogen.

Sie betont: „Das Wichtigste aber ist unser Expertenwissen. Wir haben unsere Erfahrungswerte, die wir natürlich einsetzen. Dazu gilt, dass eine Triagierung immer nur von zwei erfahrenen Ärzten gemeinsam mit einer Pflegekraft vorgenommen werden kann. Grundsätzlich gilt bei allem, was wir tun und entscheiden: Für uns steht immer das individuelle Patientenschicksal im Vordergrund.“

Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts

  • Neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen hatten Verfassungsbeschwerde eingereicht.
  • Das Bundesverfassungsgericht entschied, dass „der Gesetzgeber Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzt hat, weil er es unterlassen hat, Vorkehrungen zu treffen, damit niemand wegen einer Behinderung bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehenden intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt wird“.
  • Der Gesetzgeber wurde angehalten, schnell zu handeln. Genaue Vorgaben wurden aber nicht gemacht.
  • In der Begründung wird auch darauf verwiesen, dass die Empfehlungen der Divi rechtlich nicht verbindlich und „kein Synonym für den medizinischen Standard im Fachrecht“ seien.
  • Die Bundesregierung kündigte daraufhin an, „zügig“ einen Entwurf zum Schutz von Menschen mit Behinderung im Falle einer Triage-Situation vorzulegen.