Als die Bezirksregierung Münster die Stadt Castrop-Rauxel aufforderte, die Sekundarschule auslaufen zu lassen: Spätestens an diesem Punkt schien klar, dass es ein Problem geben wird. Wohin sollten Schüler mit Hauptschulempfehlungen künftig gehen? Sie hatten eigentlich nur die beiden Gesamtschulen als Option. Aber die nehmen nicht nur Hauptschulkinder, sondern zu einem weiteren Drittel auch Kinder mit Realschul- und ein Drittel Gymnasial-Empfehlungen auf. Dass zu wenig Platz ist für solche Kinder: Es zeigt sich in diesem nun bevorstehenden Schuljahr so deutlich wie bisher noch nie.
„Wir haben einen Bedarf, haben Schülerinnen und Schüler, die solch ein Angebot dringend benötigen“: Das gesteht Katrin Lasser-Moryson ein und verweist darauf, dass diese Kinder, einige schon ab der 5. Klasse, andere später, wenn sie anderswo gescheitert sind, zur Hauptschule nach Dortmund-Mengede ausweichen müssen. „Gerade diese Kinder brauchen am allernötigsten ein ganz besonders gutes Angebot in unserer Stadt“, findet die SPD-Politikerin, die als Vorsitzende des Betriebsausschusses 2 die Schulentwicklung in Castrop-Rauxel mit der Verwaltung zusammen steuert. Wurden hier also Fehler gemacht?


„Wir haben das Problem, dass die Schulen von den Eltern nicht angewählt wurden, obwohl sie gute Arbeit geleistet haben“, meint die stellvertretende Bürgermeisterin. Sie verweist auf die Franz-Hildebrand-Hauptschule in Ickern-End und die Schillerschule in Castrop, aber auch auf die Sekundarschule Süd, die auf die Schillerschule folgte: Drei Schulen, die aufgrund des Elternwillens geschlossen wurden. Dabei gab es eine Abstimmung am Anmeldeformular: Es gab in der 5. Klasse an allen drei Schulen am Ende zu wenig Anmeldungen für zwei Eingangsklassen. Die Bezirksregierung verordnete die Schließung.
Ein Dilemma. Denn diese Schulformen stehen am unteren Ende der Leistungsskala. Oder positiv gewendet: Hier werden Schüler, die andere Lernfähigkeiten besitzen als Real- und Gymnasialschüler, ganz anders beschult und gefördert. „Es sind Kinder, die es am nötigsten haben, in Castrop-Rauxel einen richtig guten Schulabschluss machen zu können.“ Es sind zum Beispiel die Kinder von Amela Bilgin und Daniela Stürznickel, die gegenüber unserer Redaktion von einer Angst berichteten, dass sie die nun als Notlösung ausgewählte Fridtjof-Nansen-Realschule nicht schaffen könnten. „Es brennt, und die Stadt macht nichts“, lautet der Vorwurf von Amela Bilgin. Eigentlich direkt an die Stadt gerichtet.
Katrin Lasser-Moryson entscheidet nicht allein. Sie ist als Ausschussvorsitzende aber Teil eines Kreises, den sie als „Interfraktionelle Runde Schule“ bezeichnet. Darin sind schulpolitische Vertreter der Parteien im Stadtrat und Regina Kleff, die 1. Beigeordnete und Sozialdezernentin der Stadtverwaltung. Sie kamen nun mit SPD-Politiker und Gesamtschullehrer Sebastian John (Vorsitzender des Jugendhilfeausschusses) in die Redaktion, um dieses Dilemma zu diskutieren: Wie reagiert die Stadt auf diesen Vorwurf, die Schulplatz-Planung nicht richtig im Griff zu haben?
Lasser sagt: „Ich habe großes Verständnis für die Eltern, die unzufrieden sind. Wir wussten, dass das auf uns zukommt. Aber wenn Bewegung in der Schullandschaft ist wie jetzt beim Auslaufen der Sekundarschule oder nach der Errichtung der Neuen Gesamtschule Ickern kommt eine Unwucht rein.“ Dabei sei das Anwahlverhalten der Schüler und ihrer Eltern heute schwerer berechenbar als früher.
Regina Kleff, die bisher auf Anfrage unserer Redaktion zum Thema noch schwieg und sich dafür entschied, lieber an Lösungen zu arbeiten, meint jetzt: „Wir sind da an der Seite der Eltern. Aber wir haben in Summe nicht zu wenige Schulplätze. Alle haben bis auf drei, vier Schüler einen Platz fürs kommende Schuljahr.“ Möglicherweise, und das erkennen auch John, Lasser und Kleff an, nicht den perfekten, den richtigen.
Lasser-Moryson wird dabei am deutlichsten: „Das ist ein substanzielles gesellschaftliches Problem. Man muss auch in Castrop-Rauxel sagen können: Wir nehmen alle mit. Klar kann man sich auch an der Elite orientieren, aber ich glaube, wir müssen vor allem die Schwächsten mitnehmen. Am Ende sind wir für alle zuständig.“

Politik, Verwaltung und Bezirksregierung würden grundsätzlich mit einer Stimme sprechen, heben alle drei hervor: Es sei so einvernehmlich und man könne seit etwa 2018 in der Schulplanung so gut arbeiten wie lange nicht mehr. Denn bis dahin hing über der Politik der Schulstreit: Es gab 2012/13 das sogenannte Schober-Gutachten, nach dem Castrop-Rauxel nur noch mit Jahrgangsgrößen von um die 500 Schülern zu rechnen habe, so die Prognose des Gutachter-Büros. Praktisch mit Fertigstellung des Gutachtens stellte die Politik aber fest: Es wird anders kommen. Das Gutachten, das auch eine Schließung zum Beispiel der Erich-Kästner-Grundschule in Habinghorst empfahl, war das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt stand.
Die beiden verbliebenen Hauptschulen wurden geschlossen, eine Sekundarschule Süd löste die Johannes-Rau-Realschule in Castrop ab. Rund um die Realschule FNR im Norden entstand eine riesige Debatte: Auch hieraus wollte man eine Sekundarschule Nord machen. Doch 13.000 Unterschriften für den Erhalt der Realschule und ein Bürgerentscheid machten diesem Plan ein jähes Ende. Die Politik war zerstritten: CDU, FWI und andere Oppositionsparteien unterstützten den Protest aus der Bürgerschaft gegen SPD und Grüne. Es war auch ein Richtungsstreit zwischen Befürwortern eines integrierten Schulsystems und denen eines dreigliedrigen: Ist es besser, alle Schüler wie an einer Gesamtschule gemeinsam nach ihren Stärken zu fördern, oder brauchen wir verschiedene Systeme für verschiedene Leistungs-Ansprüche?
Das System Sekundarschule scheiterte in Castrop-Rauxel: Das Modell war für einige Kritiker nur ein neuer Name für die am Elternwillen gescheiterten Hauptschulen, die für viele den Stempel „Resteschule“ nicht abstreifen konnten. Den Anspruch der Sekundarschulen, ihre Schüler aber zum Teil auch auf die gymnasiale Oberstufe vorzubereiten, erfüllten sie nie. Sie hatte keine eigene Oberstufe, anders als Gesamtschulen. Und den Übergang zu einer Gesamtschule oder gar einem Gymnasium in Castrop-Rauxel schafften so gut wie nie Schüler der Sekundarschule. Zum Ende des kommenden Schuljahres wird sie Geschichte sein. Dann laufen die letzten Klassen aus.
Die Gründung der Neuen Gesamtschule Ickern genau an der Stelle, wo kurz zuvor die ebenfalls von Eltern und Kindern nicht mehr angewählte Janusz-Korczak-Gesamtschule ausgelaufen war, war ein Risiko: „Damit lagen wir goldrichtig“, sagt Sebastian John rückblickend. Keine Schule in Castrop-Rauxel wurde in diesem Anmelde-Turnus so oft angewählt wie die NGI. Keine musste trotz einer erzielten Ausnahmegenehmigung für eine fünfte Eingangsklasse so viele Schüler ablehnen. „Das ist, so bitter das für Abgelehnte ist, auch Teil der Gesamtschul-Methodik“, sagt John, der selbst an einer Gesamtschule arbeitet: Nur so könne die Schule ihre Schüler selbst nach der gewünschten Leistungs-Drittelung auswählen. Der ärgerliche Beigeschmack für Kinder wie Amelie (9) und Robin (10) bleibt aber: Sie wohnen nah an der NGI, für sie wäre es die Wunsch-Schule gewesen. Doch sie wurden abgelehnt und müssen künftig weite Wege fahren, statt ein paar Meter zu Fuß zu gehen.

Vier Dinge, die es nicht geben wird
Welche Optionen bleiben der Stadt nun für die Zukunft? Die drei Mitentscheider kommen einfacher erst einmal zu vier Optionen, die auf keinen Fall infrage kommen:
- Es wird keine neue Hauptschule geben. Sie bräuchte zwei Züge, aber auf Basis des Elternwillens sei eine Mindestzahl von 50 Anmeldungen für zwei fünfte Klassen nicht erreichbar.
- Das Thema „Sekundarschule Nord“ wird nicht noch mal angefasst. Der Schulstreit, der aus dieser Initiative erwuchs und nun geschlichtet ist, soll nicht noch mal neu entstehen.
- Die bestehenden Gesamtschulen dauerhaft fünf- oder sechszügig zu machen, ist schwierig. Einerseits gibt es Raumprobleme, andererseits müssen sie dauerhaft die Drittelung einhalten. Das können sie nur, wenn sie mehr Anmeldungen haben.
- Für die Gründung einer dritten Gesamtschule reicht es aus selbem Grunde auch nicht. Und: Gesamtschulen müssen so viele Schüler für einen Gymnasialzweig haben, dass sie eine Oberstufe aufrechterhalten können. Es braucht also nach der 10. Klasse genug Schüler, die weiter machen wollen. Man muss also in der 5. Klasse mindestens vierzügig starten.
Oberste Devise für Katrin Lasser-Moryson: „Wir wollen mit der Schullandschaft keine Politik machen.“ Das gelte auch für den Wahlkampf. Nach der Kommunalwahl, die im Herbst stattfindet, werde man zu guten Entscheidungen finden, meint sie.
Und die Beigeordnete Regina Kleff meint: „Wir skizzieren Szenarien und sprechen dann darüber. Damit arbeiten wir uns Stück für Stück vor. Oberste Prämisse sind die Familien. Wir machen es nicht zum Selbstzweck. Ich bin hundertprozentig sicher, dass wir das schaffen, wir haben schon eine ganze Menge auf den Weg gebracht.“
Lösungen, die man anstreben wird
Konkreter wollen sie noch nicht werden. Aber unabhängig davon, dass nun erstmal alle Schüler irgendwie versorgt sind, plant man weiter: Es gebe gute Gespräche mit der Bezirksregierung. Im Fokus könnte dabei die Realschule stehen: Grundsätzlich wäre dort mit dem neu gebauten Quertrakt noch Platz. Der Anmeldetrend habe sich etwas von der Realschule, die nur halbtags beschult, und vom Adalbert-Stifter-Gymnasium weg und zu den Ganztags- und integrierten Schulen hinentwickelt, nachdem das vor fünf, sechs Jahren noch anders ausgesehen habe.
Regina Kleff fasst die Wunsch-Ausrichtung so zusammen:
- Es braucht neun bis zehn fünfte Klassen an den Gymnasien. Hier müsse man nur zu einer gleichmäßigeren Verteilung auf ASG und EBG kommen.
- Es braucht neun bis zehn Züge an den Gesamtschulen.
- Es braucht eine vier- bis fünfzügige Realschule.
- Es braucht in diesem System zusätzliche Beschulungsmöglichkeiten für Kinder, die im Hauptschulbereich angesiedelt sind.
„Es braucht ein atmendes System“, sagen Kleff und Lasser-Moryson. Beweglich, flexibel je nach Eltern- und Kinderwunsch. Wie genau das aussehen soll, lassen sie aber (noch) offen.
Früher gab es sieben Hauptschulen: Warum sie schlossen und was dann kam – auf rn.de/castrop
Schulen in Castrop-Rauxel: Zehn Millionen Euro für Sanierung und Neubau
Bürgerinitiativen in Castrop-Rauxel: Die größten Tops und Flops