
Claudia von Kölln, Gemeindereferentin der Kirche St. Antonius der Pfarrei Corpus Christi und Marlis Garske, Mutter des jungen Initiatoren der Aktion und Verwaltungskraft im Krankenhaus am 30. Juli 2022 bei der vorerst letzten Tornister-Sammelaktion am Ickerner Markt. © Sophia Wibbeke
Spendenaktion für Tornister in Castrop-Rauxel: „Bedarf ist erschreckend“
Bildung und Teilhabe
Als der neunjährige Adrian einem ukrainischen Kind seinen Tornister schenkte, brachte er einen Stein ins Rollen. Viele Familien in Castrop-Rauxel leiden an Armut und benötigen Hilfen.
Eine private Tornister-Spendenaktion in Castrop-Rauxel geht in die letzte Runde. Am Samstag (30.7.), haben Marlis Garske und Claudia von Kölln an der St.-Antonius-Kirche gespendete Tornister angenommen. Die beiden sprechen von einem Erfolg, doch sei der Bedarf nach wie vor nicht gedeckt, erzählen die beiden Frauen.

Man rechnete mit zwei oder drei Tornistern. Der vorerst letzte Sammeltag (30.07.) kommt zu einem erfolgreichen Ende. © Sophia Wibbeke
Begonnen hat die Aktion, als Adrian Garske vor dem Wechsel auf die weiterführende Schule seine Mutter fragte, ob er seinen Grundschul-Tornister spenden könne. Marlis Garske trug die Idee weiter, und die Aktion wuchs so rasant, dass auch der WDR in der Lokalzeit darüber berichtete.
Erfolgreiche Spendenaktion
„Das ging so durch die Decke. Und das durch reine Mundpropaganda“, erzählt Marlis Garske, die als Verwaltungskraft eines Krankenhauses tätig ist. Sie habe sich bei Claudia von Kölln gemeldet, seit zehn Jahren Gemeindereferentin in der St.-Antonius-Gemeinde in Ickern.
Dank der Verbreitung auf Facebook und durch private Kontakte der beiden Frauen habe der Spendenaufruf eine Eigendynamik erreicht. Teilweise seien Menschen aus Dortmund oder Waltrop mit Autos voller Tornister gekommen, berichten Marlis Garske und Claudia von Kölln. Beide sind den beteiligten Spendern, Eltern und Kindern sehr dankbar.
Verteilt werden die Spenden an Familien in Not und Armut. Zum Beispiel an Kinder, die aus ihrer Heimat geflüchtet sind oder Kinder, die mit ihrer Mutter im Frauenhaus leben.
Hoher Bedarf ist „erschreckend“
„Ich bekomme wirklich Gänsehaut, wenn ich das sehe“, kommentiert Marlis Garske, als sie nach einer Tornisterübergabe am Samstag einen Jungen mit seinem neuen Ranzen herumstolzieren sieht.
„Kein Kind kann irgendetwas für das, was in der Welt passiert“, sagt Marlis Garske. „Und kein Kind sollte denken, es wäre wegen so einer Aktion weniger wert.“
Die Freude über den Erfolg der Spenden-Aktion ist bei Marlis Garske und Claudia von Kölln allerdings nicht ungeteilt: „Ich bin erschrocken über den Bedarf“, kommentiert Marlis Garske. Sie und Claudia von Kölln verteilen die Spenden nämlich nur über privat bekannte Personen, wie die Kräfte in Frauenhaus oder auch Schulleitungen.
Extra Werbung haben sie nicht gemacht. So sei auch gewährleistet, dass nur jene die Spenden bekommen, die sie wirklich brauchen. Doch trotzdem wurden bereits 45 Tornister verteilt. Einige mehr sollen folgen. Claudia von Kölln mit einem Lächeln: „Ich wäre schon glücklich über nur einen Tornister gewesen.“ Dass die Aktion so gut aufgenommen werde, freue sie sehr.
Nachvollziehbarkeit muss Priorität haben
Über die Aktion haben wir mit Bernd Krispin gesprochen. Er organisiert seit zehn Jahren mit seiner Dortmunder Stiftung Kinderglück riesige Spendenaktionen. Auch Spender oder Bedürftige aus Castrop-Rauxel können sich an seine Stiftung wenden.
Private Spendenaktionen sieht er grundsätzlich nicht ganz unkritisch. „Gerade bei medialer Aufmerksamkeit wird oft viel gespendet, die Privatleute sind schnell überfordert, das meiste geht zurück und an anderer Stelle gehen Bedürftige leer aus“, schildert Bernd Krispin seine Erfahrungen. Heißt: Privatleute müssten ihre Grenzen kennen.
Kritik beim Umgang mit Bedürftigen
Weniger gut zu sprechen ist er auf die Situation, die Aktionen wie der beiden Ickernerinnen überhaupt nötig machen. Bernd Krispin findet, in der Gesellschaft fehle ein Bewusstsein für die Nöte der Mitmenschen, wenn nicht gerade in Medien groß berichtet werde.
Dabei zeige sich ihm in seinem Alltag, dass Hilfen stetig fließen müssten. Er verweist auf Familien, die kürzlich nach Deutschland und ins Ruhrgebiet geflüchtet sind. Dreimal die Woche erhalte er Hilfegesuche solcher Familien.
Rund 300 bis 400 Tornister gingen jährlich allein von seiner Initiative an geflüchtete Familien. Insgesamt gebe er 3500 gespendete Tornister weiter. Bernd Krispin berichtet zudem von steigender Kinderarmut, die in seiner Heimatstadt Dortmund nach Aussage von unter anderem der Awo jedes dritte Kind betreffe. Auch dies sei ein jährlich steigender Mehrbedarf an Hilfen.
Obwohl die meisten Familien, denen er Spenden zukommen lässt, grundsätzlich einen Anspruch auf Staatshilfen hätten, reichten diese nicht aus. Die Leistungen nach dem Bildungs-und-Teilhabe-Paket, sagte er, seien nicht ausreichend.
Jobcenter bezieht Stellung
Verantwortlich für die Hilfen nach dem Bildungs-und-Teilhabe-Gesetz ist etwa für „Hartz IV“-Empfänger oder für Ukraine-Flüchtlinge das Jobcenter.
Der Leiter des Jobcenters im Kreis Recklinghausen, Dominik Schad, stellt sich der Kritik: „Gerade bei Tornistern können wir nur dazu raten, bereits früh mit dem Sparen anzufangen“, teilte er uns auf Nachfrage mit. Es werde zwar bis zu 200 Euro pro Schuljahr im Rahmen des Paketes „Bildung und Teilhabe“ ausgeteilt, jedoch kostet ein neuer Tornister schon im günstigsten Fall knapp 100 Euro.
Schad bestätigt, dass die Zahl der Anträge nach dem Gesetz bis 2019 gestiegen sei und man in diesem Jahr eine noch höhere Zahl erwarte. Zudem berichtet er von Rückmeldungen, dass das Geld nicht die Bedarfe decke, die an Familien mit Schulkindern gestellt würden. Doch Sonderzahlungen seien nicht geplant.
„Einfach machen!“
Allerdings: Wer eine Sachspende annehme, könne für das Kind weiter Förderung nach dem Gesetz für Bildung und Teilhabe beantragen. Damit stehe potenziellen Initiatoren von Spendenaktionen nichts mehr im Weg. Von Seiten des Jobcenters seien solche Bürgerinitiativen gerne gesehen.